goethe


Jutta Assel | Georg Jäger

Rheinmotive in Literatur und Kunst

Eine Dokumentation 

Der Rheinfall bei Schaffhausen

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Stand: April 2010

Der Rheinfall bei Schaffhausen
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Postkarten. Oben: Rheinfall: Verso: Gebr. Metz, Kunstanstalt, Tübingen. 1302 O 7 A e D e Echt Bromsilber. Gelaufen. Datiert u. Poststempel 1935. | Unten: 545 Rheinfall und die Alpen. Verso: Edition Photoglob Co., Zürich. Carte Postale. Nicht gelaufen.

 

Gliederung 

 

1. Ansichten und Texte

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Oben: Rheinfall. Verso: U 173 Edition Photoglob Co., Zürich. Nicht gelaufen. | Mitte: Rheinfall. Verso: No. 21. Verlag von L. Bleuler's Erben, Schloss Laufen am Rheinfall. Carte Postale. Handschriftlich: 1904. Nicht gelaufen. | Unten: [Ohne Titel.] Verso: Rheinfall. Signet: P.Z auf Globus. b 5560 Edition Photoglob, Zürich. Nicht gelaufen.



Die Schilderung Wilhelm Heinses

Wilhelm Heinse wurde am 15. Februar 1746 in Langenwiesen im Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen (Thüringen) geboren und verstarb am 22. Juni 1803 in Aschaffenburg. Er wuchs in kärglichen Verhältnissen auf, besuchte die Gymnasien in Arnstadt und Schleusingen und studierte ohne Abschluss in Jena und Erfurt, wo Wieland sein Mentor und Vorbild wurde. Gefördert wurde er durch "Vater Gleim" und die Brüder Jacobi, durch die er mit den >Stürmern und Drängern< bekannt wurde.

"Stark beachtet wurden die Briefe Über einige Gemälde der Düsseldorfer Galerie (1776/77 im "Teutschen Merkur"), mit denen Heinse sich als Meister der Kunstbetrachtung einführte." Großes Aufsehen erregte sein Hauptwerk, der Roman Ardinghello und die glückseeligen Inseln (1787). "Der Held ist Maler und Virtuose, aber auch Rebell und Pirat, Reformer und Staatsgründer. In ihm vereinigt sich der >universale Mensch< der Renaissance mit dem >Kraftgenie< des Sturm und Drang. Er verkörpert die Lebensfülle, verachtet alle Konventionen im Namen der >Natur<".

1786 trat Heinse in den Dienst des Erzbischofs und Kurfürsten von Mainz, 1788 wurde er zum Bibliothekar und Hofrat ernannt, 1794 musste er mit der kurfürstlichen Bibliothek in das Aschaffenburger Schloss umziehen. In Aschaffenburg verlebte er seine letzten Jahre.

Die ersehnte Reise nach Italien, die ihn durch die Schweiz führte, trat Heinse im Juni 1780 an; nach einem zweijährigen Aufenthalt in Rom brach er von dort im Juli 1783 zur Heimreise auf. Heinse erwanderte sich die Landschaft zu Fuß. Er machte an Ort und Stelle Aufzeichnungen und berichtete brieflich ausführlich an seine Freunde. "Seine Kunst der Landschaftsschilderung steht jetzt im höchsten Flor und hat in deutscher Prosa kaum ihresgleichen. Ein Dithyrambus wie der auf den Rheinfall zu Schaffhausen steht in aller Literatur einzig da". (Heinse: Vom großen Leben. Einführung, S. 14.)

Wilhelm Heinse: Vom großen Leben. Zusammengestellt u. eingeführt von Richard Benz. München: Piper 1943. Veränderte Neuausgabe unter dem Titel: Wilhelm Heise: Aus Briefen, Werken, Tagebüchern. Hrsg. von Richard Benz. (Universal-Bibliothek Nr. 8201-03) Stuttgart: Reclam 1958. – Jürgen Schramke, Artikel "Wilhelm Heinse" in: Literaturlexikon. Hrsg. von Walther Killy. 2. Ausgabe. (Digitale Bibliothek; 9) Berlin: Directmedia 2005, S. 7889-7895.



Aus Wilhelm Heinses Tagebuch
(1780)

Neuhausen bei Schaffhausen, den 14. August 1780.
— Der Rhein bei Schaffhausen tut einen solchen Schuss in die Tiefe, dass er das Laufen vergisst und sich besinnt, ob er Dunst werden oder Wasser bleiben will. Wenn man ihn zum ersten erblickt: so sieht man lauter Dunststaub wie Silberrauch in der Luft. Sein Brausen in der Ferne scheint wie Harmonie, in welche einzelne Flutenschläge die Melodie machen. Er sieht ganz wild und ernst aus und stürmt trotzig über die Felsen hin, kühn und sicher, nicht zu vergehen. Es ist eine erschreckliche Gewalt, und man erstaunt, wie die Felsen dagegen aushalten können. Das Wasser scheint von der heftigen Bewegung zu Feuer zu werden und raucht; aber sein Dampf ist Silber, so rein wie sein Element ist.

Wilhelm Heinse: Sämtliche Werke. Hrsg. von Carl Schüddekopf. 10 Bände in 13 Bänden. Leipzig: Insel 1903-1910. Hier Bd. 7, S. 22. Zit. nach Wilhelm Heinse: Vom großen Leben. Zusammengestellt u. eingeführt von Richard Benz. München: Piper 1943, S. 60f.



Wilhelm Heinse an Friedrich Jacobi
(1780)

Es ist, als ob eine Wasserwelt in den Abgrund aus den Gesetzen der Natur hinausrollte. Die Gewölbe der Schaumwogen im wütenden Schuss flammt ein glühender Regenbogen wie ein Geist des Zorns schräg herab. Keine Erinnerung, der stärkste Schwung der Phantasie kann's der gegenwärtigen Empfindung nachsagen. Die Natur zeigt sich ganz in ihrer Größe. Die Allmacht ihrer Kräfte zieht dauernd die kochenden Fluten herab und gibt den ungeheuern Wassermassen die Eile des Blitzes. Es ist die allerhöchste Stärke, der wütendste Sturm des größten Lebens, das menschliche Sinnen fassen können. Der Mensch steht klein wie ein Nichts davor da und kann nur bis ins Innerste gerührt den Aufruhr betrachten. Selbst der Schlaffste muss des Wassergebirggetümmels nicht satt werden können. Der kälteste Philosoph muss sagen, es ist eine von den ungeheuersten Wirkungen der anziehenden Kraft, die in die Sinne fallen. Und wenn man es das hundertstemal sieht, so ergreift's einen wieder von neuem, als ob man es noch nicht gesehen hätte. Es ist ein Riesensturm, und man wird endlich ungeduldig, dass man ein so kleines festes mechanisches zerbrechliches Ding ist und nicht mit hineinkann. Der Perlenstaub, der überall wie von einem großen wütenden Feuer herumdampft und wie von einem Wirbelwind herumgejagt wird und allen den großen Massen einen Schatten erteilt oder sie gewitterwolkicht macht, bildet ein so fürchterliches Ganzes mit dem Flug und Schuss und Drang, und An- und Abprallen, und Wirbeln und Sieden und Schäumen in der Tiefe, und dem Brausen und dem majestätischen, erdbebenartigen Krachen dazwischen, dass alle Tiziane, Rubense und Vernets vor der Natur müssen zu kleinen Kindern und lächerlichen Affen werden. O Gott, welche Musik, welches Donnerbrausen, welch ein Sturm durch all mein Wesen! Heilig! heilig! heilig! brüllt es in Mark und Gebein. Kommt und lasst euch die Natur eine andre Oper vorstellen, mit andrer Architektur und andrer Fernmalerei und andrer Harmonie und Melodie, als die von jämmerlicher Verschneidung mit einem winzigen Messer euch entzückt. Es ist mir, als ob ich in der geheimsten Werkstatt der Schöpfung mich befände, wo das Element von fürchterlicher Allgewalt gezwungen sich zeigen muss, wie es ist, in zerstürmten und ungeheuern großen Massen. Und doch lässt das ihm eigentümliche Leben sich nicht ganz bändigen und schäumt und wütet und brüllt, dass die Felsen und die Berge nebenan erzittern und erklingen und der Himmel davor sein klares Antlitz verhüllt und die flammende Sommersonne mit mildern Strahlen dreinschaut.

Es ist der Rheinstrom: und man steht davor wie vor dem Inbegriff aller Quellen, so aufgelöst ist er; und doch sind die Massen so stark, dass sie das Gefühl statt des Auges ergreifen, und die Bewegung so trümmernd heftig, dass dieser Sinn ihr nicht nachkann und die Empfindung immer neu bleibt und ewig schauervoll und entzückend.

Man hört und fühlt sich selbst nicht mehr, das Auge sieht nicht mehr und lässt nur Eindruck auf sich machen; so wird man ergriffen und von nie empfundenen Regungen durchdrungen. Oben und unten sind kochende Staubwolken, und in der Mitte wälzt sich blitzschnell die dicke Flut wie grünlichtes Metall mit Silberschaum im Fluss; unten stürzt es mit allmächtiger Gewalt durch den kochenden Schaum in den Abgrund, dass er wie von einer heftigen Feuersbrunst sich in Dampf und Rauch auflöst und sich über das weite Becken wirbelt und kräuselt. An der linken Seite, wo sein Strom am stärksten sich hereinwälzt, fliegt der Schuss wie Ballen zerstäubter Kanonenkugeln weit ins Becken und gibt Stöße an die Felsenwand wie ein Erdbeben. Rundum weiterhin ist alles Toben und Wüten, und das Herz und die Pulse schlagen dem Wassergotte wie einem Alexander nach gewonnener Schlacht.

W. Heinse an F. Jacobi, 15. August 1780. In: Wilhelm Heinse: Sämtliche Werke. Hrsg. von Carl Schüddekopf. 10 Bände in 13 Bänden. Leipzig: Insel 1903-1910. Hier Bd. 10, S. 33. Zit. nach Wilhelm Heinse: Vom großen Leben. Zusammengestellt u. eingeführt von Richard Benz. München: Piper 1943, S. 61-63.

Über Heinses Auffassung der Gottnatur vgl. sein Schreiben an Gleim vom 1. September 1780, in dem er den "Alpenpatriarchen Gotthard" sprechen läßt: " Ich bin der Anfang und das Ende. Erkenn in mir die Natur in ihrer unverhüllten Gestalt, zu hehr und mächtig und heilig, um von euch Kleinen zu euren Bedürfnissen eingerichtet und verkünstelt und verstellt zu werden. Jedes Element ist ewig wie die Welt und kann weder erschaffen noch vernichtet werden; und alles andre wird und ist und vergeht; aber die Arten der Elemente und die verschiednen Formen, wozu sie anwachsen, sind unzählbar. Nun geh hin, dir ist ein Evangelium gepredigt!" (Heinse: Vom großen Leben, S. 69.)



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Oben: Rheinfall vom Känzeli. Verso: Verlag L. Bleuler's Erben, Schloss Laufen. Stempel: Schloss Laufen am Rheinfall. Handschriftlich: 1914. Nicht gelaufen. | Unten: Rheinfall. Verso: c 2871 Edition Photoglob, Zürich. (Fabrication Suisse). Stempel: Châlet am Rheinfall. Nicht gelaufen.




Goethes Schweizer Reisen

Dreimal hat Goethe die Schweiz besucht, 1775 auf der "Geniereise" mit den Brüdern Christian und Friedrich Leopold Stolberg, 1779 auf einer Bildungsreise für den Herzog Karl August und 1797 aus Anlass einer wegen des Krieges in der Lombardei abgebrochenen Italienreise. Die letzte Reise war die längste (rund zweieinhalb Monate) und ist am besten dokumentiert. Auf allen drei Reisen besuchte Goethe den Rheinfall. Das Tagebuch vom 18. September 1797, das im Auszug wiedergegeben wird, dokumentiert Goethes genaues Studium des Rheinfalls – bei verschiedenem Licht, von beiden Seiten wie vom Wasser aus –, seine vielseitigen, keineswegs nur ästhetischen Interessen wie auch seine Verarbeitung der Eindrücke und Empfindungen zu Betrachtungen und Ideen.

Die Druckgraphik mit Ansichten des Rheinfalls zur Zeit von Goethes Schweizer Reisen ist folgender Ausgabe entnommen:

    • Wilhelm Bode: Die Schweiz, wie Goethe sie sah. Eine Bildersammlung für Freunde des Dichters und der alten Schweiz. Leipzig: H. Haessel 1922. Druck von F. A. Brockhaus, Leipzig.

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Der Rheinfall bei Schaffhausen. 1764 von Emmanuel Büchel (1705-1775) gezeichnet, von M. B. Wachsmuht in Basel gestochen.
Der Rheinfall bei Schaffhausen. Gezeichnet von Johann Heinrich Troll (1756-1829), gemalt von Friedrich Rosenberg (1783 in der Schweiz tätig, starb 1833), gestochen von Charles Melchior Descourtis (1753-1820).
Der Rheinfall bei Schaffhausen. Zeichnung von Claude Louis Chatelet (1753-1794), Stich von François Denis Née (1716-1782).
Der Rheinfall. Zeichnung von William Henry Bartlett (1809-1854), Stich von James Charles Armytage (um 1820-1897).
Der Rheinfall. (Goethes letzter Blick.) Zeichnung von William Henry Bartlett (1809-1854), Stich von W. Hill.



Goethe an Schiller
(1797)

  Den 18. [September 1797] widmete ich ganz dem Rheinfall, fuhr früh nach Laufen und stieg von dort hinunter, um sogleich der ungeheuern Überraschung zu genießen. Ich beobachtete die gewaltsame Erscheinung, indeß die Gipfel der Berge und Hügel vom Nebel bedeckt waren, mit dem der Staub und Dampf des Falles sich vermischte. Die Sonne kam hervor und verherrlichte das Schauspiel, zeigte einen Theil des Regenbogens und ließ mich das ganze Naturphänomen in seinem vollen Glanze sehen. Ich setzte nach dem Schlößchen Wörth hinüber und betrachtete nun das ganze Bild von vorn und von weitem, dann kehrte ich zurück und fuhr von Laufen nach der Stadt. Abends fuhr ich an dem rechten Ufer wieder hinaus und genoß von allen Seiten, bey untergehender Sonne, diese herrliche Erscheinung noch einmal.

An Friedrich Schiller. Stäfe am 25. u. 26. Sept. 1797. Beilage: Kurze Nachricht von meiner Reise von Tübingen nach Stäfe. Zitiert nach: Johann Wolfgang von Goethe: Leben und Werk (Digitale Bibliothek; Sonderband) Berlin: Directmedia 2006, S. 20496f. (Textgrundlage: Weimarer Ausgabe, Abt. IV, Bd. 12, S. 315f.)



Aus Goethes Tagebuch
(1797)


   Den 18ten früh.

Um 6 1/2 Uhr ausgefahren. Grüne Wasserfarbe, Ursache derselben.
    Nebel, der die Höhen einnahm. Die Tiefe war klar, man sah das Schloß Laufen halb im Nebel. Der Dampf des Rheinfalls, den man recht gut unterscheiden konnte, vermischte sich mit dem Nebel und stieg mit ihm auf.
    Gedanke an Ossian. Liebe zum Nebel bey heftig innern Empfindungen.
    Uhwiesen, ein Dorf. Weinberge, unten Feld.
    Oben klärte sich der Himmel langsam auf, die Nebel lagen noch auf den Höhen.
    Laufen. Man steigt hinab und steht auf Kalkfelsen.
    Theile der sinnlichen Erscheinung des Rheinfalls, vom hölzernen Vorbau gesehen. Felsen, in der Mitte stehende, von dem höhern Wasser ausgeschliffne, gegen die das Wasser herabschießt.
    Ihr Widerstand; einer oben, und der andere unten, werden völlig überströmt. Schnelle Wellen. Locken Gischt im Sturz, Gischt unten im Kessel, siedende Strudel im Kessel.
    Der Vers legitimirt sich:
    Es wallet und siedet und brauset und zischt pp.
    Wenn die strömenden Stellen grün aussehen, so erscheint der nächste Gischt leise purpur gefärbt.
    Unten strömen die Wellen schäumend ab, schlagen hüben und drüben ans Ufer, die Bewegung verklingt weiter hinab, und das Wasser zeigt im Fortfließen seine grüne Farbe wieder.

 

Erregte Ideen.

    Gewalt der Sturzes. Unerschöpfbarkeit als wie ein Unnachlassen der Kraft. Zerstörung, Bleiben, Dauern, Bewegung, unmittelbare Ruhe nach dem Fall.
    Beschränkung durch Mühlen drüben, durch einen Vorbau hüben; ja es war möglich, die schönste Ansicht dieses herrlichen Natur-Phänomens wirklich zu verschließen.
    Umgebung. Weinberge, Feld, Wäldchen.
    Bisher war Nebel, zu besonderm Glücke und Bemerkung des Details; die Sonne trat hervor und beleuchtete auf das schönste schief von der Hinterseite das Ganze. Das Sonnenlicht theilte nun die Massen ab, bezeichnete alles vor- und zurückstehende, verkörperte die ungeheure Bewegung. Das Streben der Ströme gegen einander schien gewaltsam zu werden, weil man ihre Richtung und Abtheilungen deutlicher sah. Stark spritzende Massen aus der Tiefe zeichneten sich beleuchtet nun vor dem feinern Dunst aus, ein halber Regenbogen erschien im Dunste.
    Bey längerer Betrachtung scheint die Bewegung zuzunehmen. Das dauernde Ungeheuer muß uns immer wachsend erscheinen; das vollkommne muß uns erst stimmen und uns nach und nach zu sich hinaufheben. So erscheinen uns schöne Personen immer schöner, verständige verständiger.
    Das Meer gebietet dem Meer. Wenn man sich die Quellen des Oceans dichten wollte, so müßte man sie so darstellen.
    Nach einiger Beruhigung verfolgt man den Strom in Gedanken bis zu seinem Ursprung und begleitet ihn wieder hinab.
    Beym Hinabsteigen nach dem flächern Ufer Gedanken an die neumodische Parksucht.
    Der Natur nachzuhelfen, wenn man schöne Motive hat, ist in jeder Gegend lobenswürdig; aber wie bedenklich es sey, gewisse Imaginationen realisiren zu wollen, da die größten Phänomene der Natur selbst hinter der Idee zurückbleiben.
    Ich fuhr über. Der Rheinfall von vorn, wo er faßlich ist, bleibt noch herrlich, man kann ihn auch schon schön nennen. Man sieht schon mehr den stufenweisen Fall und die Mannigfaltigkeit in seiner Breite; man kann die verschiednen Wirkungen vergleichen, vom unbändigsten rechts bis zum nützlich verwendeten links.
    Über dem Sturz die schöne Felsenwand, an der man das Hergleiten des Stromes ahnden kann; rechts das Schloß Laufen. Ich stand so, daß das Schlößchen Wörth und der Damm, der von ausgeht, den linken Vordergrund machten. Auch auf dieser Seite sind Kalkfelsen, und wahrscheinlich sind auch die Felsen in der Mitte des Sturzes Kalk.

 

Schlößchen Wörth.


 Ich ging hinein, um ein Glas Wein zu trinken.
    Alter Eindruck bey Erblickung des Mannes.
    Ich sah Trippels Bild an der Wand und fragte, ob er etwa zur Verwandtschaft gehörte. Der Hausherr, der Geltzer heißt, war mit Trippel durch Mütter Geschwisterkind. Er hat das Schlößchen mit dem Lachsfang, Zoll, Weinberg, Holz u.s.w. von seinen Voreltern her im Besitz, doch als Schupf-Lehn, wie sie es heißen. Er muß nämlich dem Kloster oder dessen jetzigen Successoren die Zolleinkünfte berechnen, 2/3 des gefangenen Lachses einliefern, auf die Waldung Aufsicht führen und daraus nur zu seiner Nothdurft schlagen und nehmen; die Nutzung des Weinberges und der Felder gehört ihm zu, und er giebt jährlich überhaupt nur 30 Thaler ab. Und so ist er eine Art von Lehenmann und zugleich Verwalter. Das Lehn heißt Schupf-Lehn deswegen, weil man ihn, wenn er seine Pflichten nicht erfüllt, aus dem Lehn herausschieben oder schuppen kann. Er zeigte mir seinen Lehnbrief von Anno 62, der alle Bedingungen mit großer Einfalt und Klarheit enthält. Ein solches Lehn geht auf die Söhne über, wie der gegenwärtige Besitzer die ältern Briefe auch noch aufbewahrt. Allein im Briefe selbst steht nichts davon, obwohl von einem Regreß an die Erben darinn die Rede ist. Um 10 Uhr fuhr ich bey schönem Sonnenschein wieder hinüber. Der Rheinfall war noch immer seitwärts von hinten erleuchtet, schöne Licht- und Schattenmassen zeigten sich sowohl von dem Laufenschen Felsen als von den Felsen der Mitte.
    Ich trat wieder auf die Bühne an den Sturz heran, und ich fühlte, daß der vorige Eindruck schon verwischt war; es schien gewaltsamer als vorher zu stürmen. Wie schnell sich doch die Nerve wieder in ihren alten Zustand herstellt. Der Regenbogen erschien in seiner größten Schönheit; er stand mit seinem ruhigen Fuß in dem ungeheuern Gischt und Schaum, der, indem er ihn gewaltsam zu zerstören droht, ihn jeden Augenblick neu hervorbringen muß.



Beobachtungen und Betrachtungen.

 Sicherheit neben der entsetzlichen Gewalt.
    Durch das Rücken der Sonne noch größere Massen von Licht und Schatten.
    Da nun kein Nebel ist, scheint der Gischt gewaltiger, wenn er über den reinen Himmel und die reine Erde hinauffährt.
    Die dunkle grüne Farbe des abströmenden Flusses ist auch auffallender.




Wir fuhren zurück.


 Wenn man nun den Fluß nach dem Falle hinabgleiten sieht, so ist er ruhig, seicht und unbedeutend. Alle Kräfte, die sich gelassen successiv einer ungeheuern Wirkung nähern, sind ebenso anzusehen. Mir fielen die Colonnen ein, wenn sie auf dem Marsche sind. Man sieht nun links über die bebaute Gegend und Weinhügel mit Dörfern und Höfen belebt und mit Häusern wie besäet. Ein wenig vorwärts Hohentwiel und, wenn ich nicht irre, die vorstehenden Felsen bey Engen und weiter herwärts. Rechts die hohen Gebürge der Schweiz in weiter Ferne hinter den mannigfaltigsten Mittelgründen. Auch bemerkt man hinterwärts gar wohl an der Gestalt der Berge den Weg, den der Rhein nimmt. […]



Erläuterungen:
Es wallet und siedet und brauset und zischt: Zeile aus Schillers Ballade "Der Taucher". Vgl. Goethes Schreiben an Schiller vom 25. September 1797: "Bald hätte ich vergessen Ihnen zu sagen daß der Vers: es wallet und siedet und brauset und zischt pp. sich bey dem Rheinfall trefflich legitimirt hat, es war mir sehr merkwürdig wie er die Hauptmomente der ungeheuern Erscheinung in sich begreift. Ich habe auf der Stelle das Phänomen in seinen Theilen und im ganzen wie es sich darstellt zu fassen gesucht und die Betrachtungen, die man dabey macht, sowie die Ideen die es erregt abgesondert bemerkt. Sie werden dereinst sehen, wie sich jene wenigen dichterischen Zeilen gleichsam wie ein Faden durch dieses Labyrinth durchschlingen." – Trippel: Alexander Trippel (1744-1793), Bildhauer aus Schaffhausen.

Tagebücher, September 1797 (Dritte Reise in die Schweiz) Zitiert nach: Johann Wolfgang von Goethe: Leben und Werk (Digitale Bibliothek; Sonderband) Berlin: Directmedia 2006, S. 38218-38224. (Textgrundlage: Weimarer Ausgabe, Abt. III, Bd. 2, S. 144-149.)

   




 

Oben: Rheinfall mit Schloß Laufen. Verso: Z 3522 Edition Photoglob, Zürich. (Fabrication Suisse). Gelaufen. Poststempel unleserlich. | Mitte: Rheinfall bei Neuhausen. Verso: Verlag W. Brunner, Neuhausen. Carte postale. Gelaufen. Datiert u. Poststempel 1907. | Unten: Gruss vom Rheinfall. Gebr. Metz, Kunstverlags-Anstalt, Basel. 17 748. Verso: Carte postale. Nicht gelaufen.

Eine Fahrt mit dem Kahn, um den Wasserfall vom Fluß aus zu erleben – wie sie diese Karten zeigen -, hat Goethe am 17. September 1797 unternommen. Sein Schreiber notierte sich (Bode: Die Schweiz, wie Goethe sie sah, S.39f.):

    Wir konnten aber unsere Neugierde noch nicht genug befriedigen sondern setzten uns noch in einen leichten Fischerkahn und ließen uns - welche Kühnheit! - auf dem einigermaßen ruhigen Wasserstreifen, der vermittelst der beiden Felsenmassen, welche in der Mitte des Strudels aufsteigen, [verbleibt], ganz in die tobenden Wellen hineinfahren, bei welchem Unternehmen wir aber mehrmals von einer guten Portion Wasser benetzt und angefeuchtet wurden. Der Schiffer versicherte: Wenn das Wasser nur um einen Zoll noch stärker wäre, so hätte er, ohne sein und unser Leben zu riskieren, diese Fahrt nicht unternehmen können.

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Rheinfall. Verso: b 2591. Edition Photoglob, Zürich (Fabrication Suisse) Nicht gelaufen.



Eduard Mörike
Am Rheinfall
(1846)
Halte dein Herz, o Wanderer, fest in gewaltigen Händen!
     Mir entstürzte vor Lust zitternd das meinige fast.
Rastlos donnernde Massen auf donnernde Massen geworfen,
     Ohr und Auge wohin retten sie sich im Tumult?
Wahrlich, den eigenen Wutschrei hörete nicht der Gigant hier,
     Läg er, vom Himmel gestürzt, unten am Felsen gekrümmt!
Rosse der Götter, im Schwung, eins über dem Rücken des andern,
     Stürmen herunter und streun silberne Mähnen umher;
Herrliche Leiber, unzählbare, folgen sich, nimmer dieselben,
     Ewig dieselbigen - wer wartet das Ende wohl aus?
Angst umzieht dir den Busen mit eins und, wie du es denkest,
     Über das Haupt stürzt dir krachend das Himmelsgewölb!


Eduard Mörike: Sämtliche Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert. 4. Aufl. München: Hanser 1972, S. 106. Digital in: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Großbibliothek (Digitale Bibliothek; 125) Berlin: Directmedia 2005, S. 396986. – Das Gedicht ist 1846 entstanden und wurde 1847 unter dem Titel "Am Rheinfall von Schaffhausen" erstmals gedruckt.



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Oben: Rheinfall. Verso: b. 3823 Frau Sauter-Widmer, Schlösschen Wörth. Reproduktion verboten. Signet: P.Z. im Globus. Stempel: Schlösschen Wörth Rheinfall. Nicht gelaufen. | Unten: Rheinfall [mit Feuerwerk]. Verso: Carl Künzli-Tobler, Zürich. Gelaufen. Poststempel unleserlich.



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Prof. Dr. Georg Jäger
Ludwig-Maximilians-Universität München
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Schellingstr. 3
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E-Mail: georg.jaeger@germanistik.uni-muenchen.de.



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