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Goethe und die Musik

Dieter Borchmeyer:
»Goethes Faust musikalisch betrachtet«

 

 

Kurt Hübner zum 80. Geburtstag
in herzlicher Verehrung und Freundschaft

 

1.

Goethes Opus summum Faust ist - wie keine andere seiner Dichtungen - ein Werk voller Musik, von durchaus realisierbarer, ja oft genug realisierter Bühnenmusik, also von instrumentalen, lied- und kantatenhaften Einlagen über szenische Analogien musikdramatischer Formen bis zu einer imaginären oder symbolischen Welt der Töne. Kaum eine dramatische Dichtung der Weltliteratur ist so sehr von unhörbarer Musik erfüllt und trotz der zahllosen kompositorischen Annäherungsversuche, trotz der deutlich opernhaften Strukturen des zweiten Teils letzten Endes doch so unkomponierbar wie Faust

 "Mozart hätte den Faust komponieren müssen", hat Goethe am 12. Februar 1829 zu Eckermann gesagt, als dieser nach der "passenden Musik" zu seinem Lebenswerk, offensichtlich zu dessen zweitem Teil, fragt. Wenn Goethe auch beiläufig mit dem Gedanken einer Vertonung durch Giacomo Meyerbeer spielt, der Schüler Zelters gewesen ist, hält er es doch im Grunde für "ganz unmöglich", daß ein Komponist der Gegenwart die adäquate Musik zum Faust finden wird: "Das Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare, was sie stellenweise enthalten müßte, ist der Zeit zuwider. Die Musik müßte im Charakter des Don Juan sein" (XIX 283f.).1 Ein bemerkenswertes Zeugnis für Goethes unverzärteltes Mozart-Bild. 

 Kein Zweifel: Faust ist zu sehr imaginäre Oper, als daß er eine reale hätte werden können. Die Komponisten, welche den Versuch unternahmen, eine musikalisches Äquivalent für ihn zu finden, beschränkten sich denn auch auf fragmentarische Annäherungen, auf die Vertonung von einzelnen Szenen (wie Schumann und Mahler), oder sie entschlossen sich doch zu einer eigenen musikdramatischen Neukonzeption, wie etwa Ferruccio Busoni, dessen musikalische Phantasie zeitlebens um Goethes Faust kreiste, der sich dann aber in seinem eigenen Doktor Faust doch bewußt am Volksbuch und am Puppenspiel orientierte. 

 Auch wenn es nicht mehr Goethes Originaldrama war: als Oper ist Faust auf der Bühne des 19. und 20. Jahrhunderts so populär geworden, daß man ihn >den< modernen Opernstoff schlechthin nennen kann. Gewiß hängt das mit der immanenten Musikalität von Goethes Drama zusammen. Von den über sechzig Faust-Opern seit 1797 leitet sich ein großer Teil von ihm her. Meist liegt der erste Teil der Tragödie bzw. das Fragment von 1790 den einschlägigen Opern zugrunde, doch auch Faust II ist von Boitos Mefistofele (1868) bis zu Lili Boulangers Bühnenkantate Faust et Hélène (1913) und anderen späteren Helena-Opern musikdramatisch adaptiert worden. Den Faust-Opern zur Seite stehen die zahllosen Versuche einer Vertonung der Goetheschen Originaldichtung, sei es als Lied, sei es als symphonisch-oratorische Exegese des authentischen Textes wie Franz Liszts Faust-Symphonie (1857), Robert Schumanns Faust-Szenen (1862) und Gustav Mahlers Achte Symphonie (1910), welche den altkirchlichen Hymnus Veni creator spiritus - den Goethe ins Deutsche übersetzt und als "Appell an das allgemeine Weltgenie" interpretiert hat (an Zelter, 18. Februar 1821) - mit der "Bergschluchten"-Szene des Faust II zu einer monumentalen Synthese zwingt.2

 Kaum ein Komponist hat sich zeit seines Lebens intensiver mit Faust befaßt als Richard Wagner. Mit achtzehn Jahren bereits hat er einige >Nummern< des ersten Teils vertont (1831, also noch zu Lebzeiten Goethes); sein vielleicht bedeutendstes reines Instrumentalwerk: Eine Faust-Ouvertüre (1839/55) ist aus dem Plan einer ganzen Symphonie über Goethes Dichtung hervorgegangenen. Eine Faust-Ouvertüre nennt Wagner sein Opus bezeichnenderweise, so wie Liszt seine von Wagner inspirierte Symphonie Eine Faust-Symphonie überschreibt. Der unbestimmte Artikel bringt hier wie da zum Ausdruck, daß der Musik immer nur >eine< Annäherung an Goethes inkommensurables Opus summum, niemals >die< Vertonung desselben gelingen kann - eine Idee, die auch für Schumanns Szenen aus Goethes >Faust< bestimmend ist. 

 Faust nähert sich zumindest im zweiten Teil der Intention nach einem musikalisch-dramatischen Gesamtkunstwerk an. Wie stark Faust II durch Grundformen der Oper, des Oratoriums und anderer musikalisch-literarischer Gattungen strukturiert ist - ganz abgesehen von der durchgängigen musikalischen Symbolik des Werks und seiner klangmalerischen wie klangsymbolischen Verskunst -, ist von der Forschung wiederholt bemerkt worden. Viktor Junk hat Goethes "musikdramatische Architektonik" zumal in einem Vergleich der Euphorion-Szene des "zweiten" Faust und der "zweiten" Zauberflöte erhellt3 (welch letztere Thomas Manns Goethe in Lotte in Weimar einmal seinen "kleinen Faust" nennt4). Dieser Vergleich demonstriert, warum Goethe sich gerade Mozart als Komponisten des Faust II vorgestellt hat. Er stand ja auch im Mittelpunkt von Goethes Spielplan in der Zeit seiner Weimarer Theaterdirektion, in der er sich der Oper besonders intensiv angenommen hat. Goethe hat den Mozart-Mythos geradezu mitgeschaffen - als "ein Wunder, das nicht weiter zu erklären ist" (zu Eckermann am 14. Februar 1831; XIX 408).5

 Bis heute ist noch nicht ins allgemeine Bewußtsein der Kenner und Liebhaber Goethes gelangt, welch eminente Bedeutung er der Oper - als der modernen dramatischen Kunstform schlechthin - beigemessen hat. "Diese reine Opernform, welche vielleicht die günstigste aller dramatischen bleibt, war mir so eigen und geläufig geworden, daß ich manchen Gegenstand darin behandelte", schreibt er in den Tag- und Jahresheften zu 1789 (XIV 14). Zählen wir die Titel seiner dramatischen Werke und Projekte, so betrifft rund ein Drittel davon ausgeführte und geplante Libretti, hinzu kommen Mischformen zwischen Oper und Schauspiel (Proserpina, Egmont, Festspiele).

 Der Rekurs auf die Oper gehört zu den wichtigsten Tendenzen der gegen die >naturalistischen< Elemente des zeitgenössischen Theaters gerichteten Weimarer Bühnenreform.6 In seinem "Gespräch" Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke (1797) wird die Oper Goethe zum Exempel seiner Unterscheidung des "Kunstwahren" vom "Naturwahren" (IV.2 93). In die gleiche Richtung weist Schillers vielzitierter Opernbrief an Goethe aus demselben Jahre (29. Dezember 1797): "Ich hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper, daß aus ihr wie aus den Chören des alten Bacchusfestes das Trauerspiel in einer edlern Gestalt sich loswickeln sollte." Der Grund: der Oper gelingt es durch die "Macht der Musik", das Gemüt "notwendig gegen den Stoff gleichgültiger" zu machen, ihr fehlt also die "servile Naturnachahmung", deren Verdrängung nach Schiller der Ausgangspunkt der "Reform" des Dramas sein muß (VIII.1 477f.).

 Dem dürfte Goethe voll und ganz zugestimmt haben. Seine Faszination durch die Oper hängt mit seiner "Vermutung" zusammen, daß der "Sinn für Musik", wie er am 6. September 1827 an Zelter schreibt, "allem und jedem Kunstsinn [...] beigesellt sein müsse"; ja diese Vermutung wird ihm zur "Behauptung", die er "durch Theorie und Erfahrung unterstützen" möchte (XX.1 1036). Und in den Maximen und Reflexionen finden wir die Äußerung: "Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müßte. Sie ist ganz Form und Gehalt und erhöht und veredelt alles, was sie ausdrückt." (XVII 809) Eben das ist der Grund für ihre Modellhaftigkeit in Goethes ästhetischer Theorie und Praxis, welch letztere - gerade auf dem Gebiet des Theaters - darauf zielt, im Umgang mit den Künsten den Stoff >abzurechnen<. 

 Diese Idee steht auch hinter Goethes Annäherung des Faust II an die Oper. Faust ist mehr oder weniger für ein >théâtre imaginaire< geschrieben, ein Idealtheater, das alle Schauspielträume des durch die Erfahrungen mit dem wirklichen Theater mehr und mehr desillusionierten Goethe in sich aufhob und für die verlorenen Illusionen, die Enttäuschungen eines langen Bühnenlebens entschädigte. Trotz aller Skepsis gegenüber Schauspiel und Theater, trotz seines Rückzugs vom Feld des Dramas in seiner zweiten Lebenshälfte hat Goethe das Höchste und Tiefste, das er zu dichten und zu denken vermochte, doch der dramatischen Gattung anvertraut: eben seinem Lebenswerk Faust. Daß es aber die Oper ist, die ihm hier als Idealform vorschwebt, ist kein Wunder, war die Musik ihm doch stets das theaterästhetische Heilmittel gegen die naturalistische Depravation der zeitgenössischen Bühne. 

 Freilich ist es nicht die wirkliche Oper, die Goethe vor Augen hat, sondern eben ihre Idealform, denn der Schatten, der auf ihren Status quo fällt, ist die Tatsache, daß der Dichter sich in ihr nur selten frei entfalten kann. Goethes ausführlicher musikdramaturgischer Briefwechsel mit dem Komponisten Philipp Christoph Kayser etwa zeigt, daß er sich durchaus darüber im klaren war, wie sehr der Librettist einer Oper hinter den Forderungen des Komponisten zurückzustehen hat. "Der Dichter eines musikalischen Stückes, wie er es dem Komponisten hingibt, muß es ansehn wie einen Sohn oder Zögling, den er eines neuen Herren Diensten widmet", schreibt er am 5. Mai 1786 an Kayser. "Es fragt sich nicht mehr, was Vater oder Lehrer aus dem Knaben machen wollen, sondern wozu ihn sein Gebieter bilden will". Noch weiter geht Goethe in einem Brief an Reichardt vom 4. November 1790: "Um so etwas [wie ein Libretto] zu machen, muß man alles poetische Gewissen, alle poetische Scham nach dem edlen Beispiel der Italiener ablegen." Der "Text einer Oper", so heißt es im Brief an den Fürsten Lobkowitz vom 7. Oktober 1812, gehört zu den "Dichtungsarten", deren Qualität "sehr schwer zu beurteilen" ist, "weil man sie nicht als selbständiges Kunstwerk beurteilen darf". Um so bemerkenswerter ist es, daß Goethe so viele Energien für ein Genre aufgewendet hat, das nach seiner Überzeugung der Poesie keine Autonomie, sondern ständige Subordination abverlangte, ja in dem, wie er am 16. Dezember 1829 an Zelter schreibt, "der Musikus [...] seine Rechnung finden, [...] ja teilweise sogar entzücken kann", selbst wenn - wie im Falle von Louis Spohrs Faust - "die Poesie in völlige Nullität sich auflöst" (XX.2 1291). Anders ist es im Lied, bei dem Goethe vom Komponisten verlangt, daß er dem Dichter einen ähnlichen Dienst leistet, wie dieser dem Komponisten in der Oper.7 Kein Zweifel, daß er sich in diesem Sinne bei manchen lyrischen Szenen des Faust eine allenfalls dienende Rolle der Musik vorstellte. 

 Das Ungleichgewicht von Dichtung und Musik, das in umgekehrter Weise, wenn auch in verschiedenem Grade im Lied und in der Oper herrscht, hat Goethe wiederholt in einem musikalisch-dramatischem Gesamtkunstwerk auszugleichen versucht, das wirklich die höhere Harmonie zwischen beiden Künsten herstellt. Davon zeugen seine bedeutenden Experimente mit einer Mischgattung zwischen Schauspiel und Oper. In diese Richtung weist schon sein Melodram Proserpina (1777), vor allem aber Egmont - und nicht zuletzt Faust II. Als Schiller in seiner Egmont-Rezension, die im September 1788 in der "Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung" erschien, Egmonts Traumbild in der Schlußszene des Dramas als "Salto mortale" in eine Opernwelt kritisierte, konnte er nicht wissen, daß Goethe ursprünglich auch für die Einleitung, die Zwischenakte und die Liedstrophen Musik vorgesehen hatte und das Schauspiel zusammen mit der Partitur veröffentlichen wollte. Daß es dazu nicht kam, lag an Philipp Christoph Kayser, welcher an der Vertonung des Egmont scheiterte - ebenso wie später Zelter sich allen höheren musikdramatischen Bestrebungen Goethes nicht gewachsen zeigte. Auch in dieser Hinsicht ist die Idealoper Faust II die Kompensation einer enttäuschten Illusion. Idealoper, das heißt, daß der Dichter hier sein poetisches Licht nicht mehr unter den musikalischen Scheffel zu stellen braucht. Freilich, die idealmusikalische Szenik, die so entsteht, läßt sich nur bedingt in reale Musik übersetzen, zumal die Grenzen zwischen gesungener und gesprochener Deklamation immer wieder fließend sind.

 

 

2.

Faust I bereits ist von zahllosen musikalischen Bezügen geprägt. Da ist zunächst einmal die deutlich als solche gekennzeichnete Musik auf und hinter der Bühne: "Glockenklang und Chorgesang" der Osternachtfeier in der ersten Studierzimmerszene (VI.1 555), Gesang und Tanz des Bettlers, der Soldaten und Bauern in der Szene "Vor dem Tor", der Geister in der zweiten und dritten Studierzimmerszene, Solo- und Chorgesang der Studenten sowie das Flohlied Mephistos in "Auerbachs Keller", Gretchens Lied vom König in Thule, Mephistos Ständchen in der Nachtszene vor Gretchens Türe, die Domszene mit "Orgel und Gesang" (VI.1 646), welche in ihrer Mischung aus Realität und Imagination, im Wechsel der Stimmen des Bösen Geistes und Gretchens mit dem "Dies irae" des Chors bereits wie eine veritable - von Schumann denn auch in seinen Faust-Szenen als ganze vertonte - Opernszene anmutet, die diversen musikalischen Elemente der Walpurgisnacht, schließlich Gretchens Wahnsinnsgesang in der Kerkerszene. 

 Diese ungewöhnlich dichte Folge von Inzidenzmusiken entfernt bereits Faust I vom >klassischen< Drama, weist ihn in die Nähe der Oper. Hinzu kommen Szenen mit musik-analogen Strukturen. So beginnt der "Prolog im Himmel" mit den feierlichen Vierhebern der drei Erzengel, die zwar nicht im wörtlichen Sinne gesungen werden, aber einen metaphorischen Wechselgesang darstellen, wobei die Stimmen der Erzengel zunächst jeweils solistisch hervortreten und sich dann zu einem dreistimmigen Satz vereinigen: >musica angelica<, dem in den ersten Versen des Prologs angestimmten Thema des Sphärengesangs korrespondierend. In diesen >Gesang< platzt dann Mephisto mit seinen salopp-irregulären fünf- und mehrhebigen Sprechversen bewußt stilbrechend hinein. 

 Andere musik-analoge Passagen sind die wiederholten melodramatischen Momente in den Studierzimmerszenen und in den lyrischen Szenen Gretchens "am Spinnrade" (VI.1 633) oder im "Zwinger" ("Ach neige, / Du Schmerzenreiche" VI.1 640), welch letztere der junge Richard Wagner wirklich als Melodram komponiert hat. Ob es sich um reine Inzidenzmusiken oder um die erwähnten analogischen oder metaphorischen Gesangs- und Melodramenszenen handelt, Faust I ist deutlich geprägt von einer Kontrapunktik quasi musikalischer und gesprochener Versdramatik.

 Sie setzt sich mit weit deutlicherer Ausprägung im zweiten Teil der Tragödie fort. Die Szene "Anmutige Gegend", welche Faust II als heidnisches Pendant zum "Prolog im Himmel" des ersten Teils eröffnet, hat eine so durchgängig musikalische Struktur, daß auch sie für Schumann ohne Schwierigkeiten komponierbar war. Sie beginnt mit dem von Äolsharfen begleiteten Gesang Ariels, zunächst mit einer achtzeiligen Arienstrophe - sie könnte formal von Metastasio stammen - in trochäischen Vierhebern, im Wechselreim mit weiblicher und männlicher Kadenz. Darauf folgt quasi ein Rezitativ in jambischen Fünfhebern mit freier Reimordnung.8 Dann setzt der Chor mit vier Liedstrophen in derselben Form wie Ariels Eingangsarie ein. In Goethes erstem Entwurf hatten sie - entsprechend den vier "Pausen nächtiger Weile", die Ariel in Vers 4626 beruft (XVIII.1 105), musikalische Gattungsbezeichnungen: "Serenade, Notturno, Matutino, Reveille". Die rein musikalische Szene schließt mit einer in Strophe und Reim freier gegliederten >Arie< Ariels. Darauf folgt Fausts Monolog in Terzinen, die, wenngleich Schumann auch sie vertont hat, von Goethe eher für die sprachliche Deklamation bestimmt sind. 

 Der real oder metaphorisch gesungenen Eingangsszene folgt die offenkundig als reine Schauspielszene konzipierte Staatsratsszene am Kaiserhof. Die anschließende "Mummenschanz" wiederum mischt Sprechmonologe und -dialoge mit solistischem und chorischem Wechselgesang, wobei sich im zweiten Teil der Szene die Grenzen zwischen musikalischer und sprachlicher Vor- und Darstellbarkeit wieder verwischen. Das Formvorbild der "Mummenschanz" sind zweifellos, auch was die Beteiligung der Musik betrifft, die Weimarer Maskenzüge, die ja viele Jahre lang in Goethes organisatorischer und poetischer Zuständigkeit gelegen haben. Die weiteren Szenen des ersten Akts, gipfelnd in der Beschwörung von Paris und Helena vor Kaiser und Hof sind wiederum bloße Sprechszenen. 

 Überhaupt verschwindet die Musik nach der Mummenschanz weithin aus der Dramaturgie des Faust. Die Szenen in Fausts einstigem Studierzimmer sind reines Schauspiel, und die "Klassische Walpurgisnacht" des zweiten Akts spielt sich, weitab von der abendländischen Musikerfahrung, auf antikem Boden ab. Freilich gibt es hier, abgesehen von der musikalischen Metaphorik der Dialoge, den Gesang der Sirenen und der sie "in derselben Melodie" parodierenden Sphinxe (XVIII.1 189), den Chor der Nereiden, Tritonen und anderer mythologischer Ensembles bis hin zu dem gewaltigen Schlußchor, den "All Alle" anstimmen (XVIII.1 232). Doch musikalisch vorstellbar ist all das kaum, da Goethe hier bewußt einen Gegenkosmos zur nordisch-romantisch-musikalischen Welt beschwört, dessen >musiké< auch ganz anders tönte als das, was der moderne Mensch mit >Musik< verbindet. Bezeichnenderweise hat sich kaum je ein Komponist an die Vertonung dieses mythologischen Kosmos gewagt. Schumanns Faust-Szenen etwa gehen gleich vom ersten zum fünften Akt des Faust II über.

 Der dritte, der Helena-Akt freilich vertauscht als "klassisch-romantische Phantasmagorie" mit dem Schauplatzwechsel vom Palast des Menelas zur mittelalterlichen Burg Fausts Zug um Zug - und hochthematisch - das Formmodell der griechischen Tragödie gegen das der modernen Oper. Hinter diesem >Paradigmenwechsel< steht die Grundidee Goethes und Schillers, daß die Musik ebenso die exemplarische Kunst der Moderne ist, wie die bildende Kunst ihren ästhetischen Schwerpunkt in der Antike gefunden hat. Die Gattungsgesetze der bildenden Kunst kongruieren demgemäß mehr mit der naiven oder klassischen, diejenigen der Musik eher mit der sentimentalischen oder romantischen Poesie. Schiller spricht in seinem Traktat Über naive und sentimentalische Dichtung von der "doppelten Verwandtschaft der Poesie mit der Tonkunst und mit der bildenden Kunst". "Je nachdem nämlich die Poesie entweder einen bestimmtem Gegenstand nachahmt, wie die bildenden Künste, oder je nachdem sie, wie die Tonkunst, bloß einen bestimmten Zustand des Gemüts hervorbringt, ohne dazu eines bestimmten Gegenstandes nötig zu haben, kann sie bildend (plastisch) oder musikalisch genannt werden."9 

 Die modern-musikalische Poesie entsteht aus der Vermählung Fausts mit Helena. Mit der Geburt Euphorions wird auch die Musik im abendländischen Sinne geboren. "Ein reizendes, reinmelodisches Saitenspiel erklingt aus der Höhle. Alle merken auf und scheinen bald innig gerührt. Von hier an bis zur bemerkten Pause durchaus mit vollstimmiger Musik." So die szenische Anweisung (XVIII.1 271). Und nun der Appell der Phorkyas alias Mephisto an die - von einer ihnen bisher unbekannten Rührung erfaßten - antiken Zuhörer: 

Höret allerliebste Klänge,
Macht euch schnell von Fabeln frei,  
Eurer Götter alt Gemenge,
Laßt es hin, es ist vorbei.

 

Die Musik als neuer >Mythos< antiquiert die antike Mythologie.

Niemand will euch mehr verstehen,
Fordern wir doch höhern Zoll:
Denn es muß von Herzen gehen,
Was auf Herzen wirken soll.

 

("Von Herzen! Möge es wieder zu Herzen gehen", hat Beethoven über das "Kyrie" im Autograph seiner Missa solemnis geschrieben.) Und wirklich bekennt der (antike) Chor, sich durch die Musik "zur Thränenlust erweicht" zu fühlen. Nicht allein die antike Götterwelt, auch die Tageswelt der sichtbaren Dinge stürzt in die Nachtwelt der Innerlichkeit zusammen.

Laß der Sonne Glanz verschwinden,
Wenn es in der Seele tagt,
Wir im eignen Herzen finden
Was die ganze Welt versagt.

                     (XVIII.1 271)

 

Nun folgt der Auftritt Euphorions, des Genius der modernen musikalischen Poesie. Viktor Junk hat detailliert nachgewiesen, wie dieser ganze Auftritt als Opernszene gestaltet ist. Ihr Vorspiel bilden die ariosen Strophenpaare der Phorkyas und des Chors, es folgt das Terzett Helena, Faust, Euphorion, in das im gleichen Takt der Chor einfällt. Es schließt sich ein doppeltes Duett zwischen Faust und Euphorion, diesem und Helena an, das wiederum durch den Chor abgeschlossen wird. Beendet wird dieser erste Teil der Szene durch das Unisono Helenas und Fausts, in das Euphorion einfällt. Den zweiten Teil bildet eine Tanzszene mit dem Solo Euphorions, dem antwortenden Duo Helenas und Fausts und dem Tanzlied des Chors. Ihm folgt, durch eine Pause markiert, eine neue musikalisch-szenische Periode: Wechselgesang Euphorions mit dem Chor, Unisono von Helena und Faust mit einfallendem Chor, wechselnden Soli Euphorions und des von ihm herbeigeschleppten Mädchens. Der dritte Teil beginnt mit einem erneuten Unisono von Helena, Faust und Chor, gefolgt von einem Wechselgesang zwischen Euphorion und Chor bzw. dem Paar Helena-Faust, deren Stimmen sich schließlich zu einem vollkommenen Ensemble vereinigen. Den vierten Teil bilden die Klagerufe des Chors, die Unisono-Klage Fausts und Helenas, der letzte Ruf Euphorions "aus der Tiefe" (XVIII.1 278) und der vierstrophige Trauergesang des Chors, mit dem die deutlich als solche abgegrenzte musikalische Szene schließt.

 Diese endet also mit dem tödlichen Sturz Ephorions. Der spezifische musikalische Ausdruck des Todes ist nach einem Wort Beethovens - übrigens in einer Skizzennotiz zur Egmont-Musik -die Pause.10 Sie wird auch hier von Goethe mit höchstem tragischem Pathos eingesetzt: "Völlige Pause. Die Musik hört auf." (XVIII.1 279) Während in einer Oper die Musik nach einer Generalpause, wie lang sie auch sein mag, wieder anheben muß, endet die musikalische Pause im Helena-Akt des Faust nicht. Die Musik verklingt endgültig, Helena und der Chor kehren zu ihrer antiken Gestaltlichkeit zurück, und Panthalis widmet der in ihren Augen nun glücklicherweise >gestorbenen< Musik - "des Geklimpers vielverworrner Töne Rausch, / Das Ohr verwirrend, schlimmer noch den innern Sinn" (XVIII.1 280) - einen unfreundlichen Nachruf. 

 Den vierten Akt können wir als den - bis auf "kriegerische Musick" in Hintergrund (XVIII.1 294) - musiklosesten Aufzug des Faust hier übergehen. Erst im fünften Akt stellt sich mit dem singenden Lynkeus die Musik allmählich wieder ein. Die "Mitternacht"-Szene mit der Sorge - die erste nach "Anmutige Gegend" die Schumann aus dem Faust II vertont hat - nähert sich erneut der musikalischen Dramaturgie an, erst recht die folgenden Szenen mit Mephisto und den Lemuren und die Grablegung Fausts mit dem Chor der Engel. Die Finalszene ("Bergschluchten") schließlich, in der Gesang als solcher freilich nirgends thematisiert wird, stellt sich weniger als Oper denn als metaphorisches Oratorium dar, über dessen musikalische Faszinationskraft hier nicht mehr geredet zu werden braucht.

 

 

3.

Was Goethe einmal in Erinnerung an den Mythos von Orpheus, der durch die Töne seiner Leier Häuser bildete, über die Architektur gesagt hat: sie sei "verstummte Tonkunst"11, das ließe sich auch für weite Teile des Faust sagen. Wenn nicht verstummte, so ist er stumme Tonkunst. Das gilt nicht nur, wie wir zeigten, für seine Dramaturgie, sondern auch für seine Thematik und Symbolik. Aus dem dichten musikalischen Bildgeflecht des Faust seien hier wenigstens zwei Motivstränge hervorgehoben. Bereits die "Zueignung" stellt die folgende Dichtung rhapsodisch-epischer Tradition gemäß als "Gesänge" dar, als "Lied" und schreibt diesem eine kathartische Wirkung auf den Dichter selber zu:  

Es schwebet nun, in unbestimmten Tönen,
Mein lispelnd Lied, der Äolsharfe gleich,
Ein Schauer faßt mich, Träne folgt den Tränen,
Das strenge Herz, es fühlt sich mild und weich.

       (VI.1 535f.)

 

Bewegender ließe sich die Idee der Katharsis nicht in Verse fassen. Bekanntlich entstammt dieser griechische Begriff zwei Bereichen: einmal dem des Kults, in dem er die Reinigung und Läuterung von einer Befleckung bezeichnete, zum andern aus der Medizin, die ihn als Terminus für die Ausscheidung störender Substanzen verwendete. Katharsis bedeutet also Purifikation und Purgierung zugleich. 

 Im sechsten Kapitel seiner Poetik hat Aristoteles die Katharsis zum Angelpunkt seiner Tragödiendefinition gemacht, und in den Kapiteln 8,5-7 seiner Politik beschreibt er sie in aller Ausführlichkeit als spezifische Wirkung der Musik: als Heilung von Exaltationen, als Erleichterung, Entspannung, Entladung von negativen Affekten. Goethe hat freilich in seiner Nachlese zu Aristoteles' Poetik (1827) von der Bestimmung der Tragödie durch ihre "Wirkung" nichts wissen wollen, ja irrigerweise geleugnet, daß Aristoteles sie in seiner Definition der Tragödie überhaupt ins Auge gefaßt habe. Allerdings kann er nicht leugnen, daß jener in seiner Politik die Katharsis unmißverständlich als Wirkungskategorie versteht: "Aristoteles nämlich hatte in der Politik ausgesprochen: daß die Musik zu sittlichen Zwecken bei der Erziehung benutzt werden könnte, indem ja durch heilige Melodien die in den Orgien erst aufgeregten Gemüter wieder besänftigt würden und also auch wohl andere Leidenschaften dadurch könnten ins Gleichgewicht gebracht werden." (XIII.1 341f.)

 Goethe selber hat die kathartische Wirkung der Musik häufig beschrieben, ja konkret an sich selber erfahren und beobachtet. Dafür nur ein Beispiel aus den Wanderjahren: in der Novelle Der Mann von funfzig Jahren wird der seelisch zerrüttete Flavio durch Poesie und Musik geheilt - ein Arzt steht bezeichnenderweise im Hintergrund: "Hier nun konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen. Innig verschmolzen mit Musik heilt sie alle Seelenleiden aus dem Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auflösenden Schmerzen verflüchtigt." (XVII 436) 

 Das mächtigste Beispiel für Goethes Erfahrung einer Katharsis durch die Musik ist sein Brief an Zelter vom 24. August 1823, in dem er beschreibt, wie sehr er - inmitten der Erschütterung durch die Liebe zu Ulrike von Levetzow - von den Konzerten der Sängerin Anna Milder Hauptmann und der Pianistin Maria Szymanowska im Innersten aufgewühlt worden ist: "Die ungeheure Gewalt der Musik auf mich in diesen Tagen! Die Stimme der Milder, das Klangreiche der Szymanowska [...] falten mich auseinander, wie man eine geballte Faust freundlich flach läßt." (XX.1 747) Goethe hat Marie Szymanowska jene Strophen gewidmet, die er vier Jahre später zum dritten Teil seiner Trilogie der Leidenschaft machen und denen er den deutlich auf die aristotelische Katharsis anspielenden Titel "Aussöhnung" geben wird.

Da schwebt hervor Musik mit Engelschwingen,
Verflicht zu Millionen Tön' um Töne,
Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen,
Zu überfüllen ihn mit ew'ger Schöne:
Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen
Den Götter-Wert der Töne wie der Tränen.

             (XIII.1 140)

 

Die kathartische Wirkung der Musik, wie sie hier unvergeßlich zum Ausdruck gebracht wird, ist durch die ganze Tradition der abendländischen Musiktheorie hindurch immer wieder als Heilung von der Melancholie beschrieben worden.12 Auch in Goethes Werk spielt dieses Motiv eine wichtige Rolle, ja er hat es geradezu gattungssymbolisch zum Thema seines Singspiels Lila (1778) gemacht. Das wichtigste Exemplum der Melotherapie, der melancholielösenden Wirkung der Tonkunst bildete von jeher die David-Saul-Episode des 1. Buches Samuel. Mit seinem Harfenspiel gelingt es David, den bösen Geist der Schwermut, der Saul befällt, zu vertreiben. Ihre bedeutendste Verbildlichung hat diese Episode in Rembrandts spätem Gemälde gefunden, das zeigt, wie sich die Melancholie des biblischen Tyrannen bei den Klängen der Harfe Davids unter Tränen löst. "Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!" ruft auch der zum Selbstmord bereite Melancholiker Faust, als er die "Himmelslieder" der Osternacht hört (VI.1 556), und der Dichter des Faust selber schreibt in der letzten Strophe seiner "Zueignung" seinem eigenen "Lied" ein verwandte lösende und damit metatragische Wirkung zu. Die entspannende, tränenlösende Wirkung: die Katharsis zeigt sich auf Rembrandts Gemälde von Saul und David auch in der geöffneten Hand des Königs, ist doch die geschlossene Faust eines der ikonographischen Topoi der Melancholie - so zumal auf Dürers Melencolia I. Und so "falten" die musikalischen Eindrücke in Marienbad auch das Gemüt Goethes "auseinander, wie man eine geballte Faust freundlich flach läßt".

 Goethes Idee und Erfahrung der entspannenden, tränenlösenden Wirkung der Töne zeigt, daß seine Musikästhetik noch in der Gefühlsästhetik und Affektenlehre des 18. Jahrhunderts gründet. Das demonstriert auch seine "Tonlehre", die vornehmlich eine Wirkungstheorie ist. Wie er in der Farbenlehre eine Physiologie und Psychologie des Sehens zu begründen sucht, so in seiner Tonlehre eine Psycho-Physiologie des Hörens. Das ist der Hintergrund auch seiner Idee der musikalischen Katharsis.13

 Bewegt Goethe sich mit dieser Idee, mit der die "Zueignung" des Faust ausklingt, auf die antike Melotherapie zu, so weist der "Prolog im Himmel" auf eine ganz andere Traditionsbahn zurück. Bereits seine ersten Verse evozieren eine Urvorstellung der antik-abendländischen Musiktheorie: die Idee der Sphärenharmonie, der musica mundana: "Die Sonne tönt, nach alter Weise, / In Brudersphären Wettgesang" (VI.1 541). Diese Musik des Makrokosmos, die Harmonie der Sphären, ist - wie die ihr in Boethius' Buch De institutione musica hierarchisch untergeordnete musica humana, die Musik des Mikrokos-mos, die Harmonie des menschlichen Organismus - eine theoretische Musik, die weit über der eigentlich sinnlich-hörbaren Musik: der musica instrumentalis steht (zu der auch die Vokalmusik gehört). Erst im Verlauf des Mittelalters verwandelt sich die musica mundana in die musica angelica, welche auch die Erzengel in Goethes "Prolog" anstimmen. Als Gesang der Engel14 wird die musica mundana ebenso hörbar, wie sie in der Eingangsszene des Faust II - "Anmutige Gegend" -, die wie erwähnt das heidnische Pendant zum christlichen Prolog des Faust I bildet, den "Geistes-Ohren" vernehmbar wird, ja diese können den synästhetisch beschworenen Sphärenklang der Sonne - "Welch Getöse bringt das Licht!" - nicht ertragen, drohen zu ertauben, wenn sie sich nicht in Felsen und Büsche zurückziehen (XVIII.1 107).   

 Die Idee der musica mundana prägt auch die berühmteste und tiefgründigste aller Äußerungen Goethes über die Musik, seine Huldigung an Bach in der Beilage zu seinem Brief an Zelter vom 21. Juni 1827.15 In Erinnerung an seine Bach-Exerzitien bei dem Organisten Schütz in Berka seit 1814 schreibt er: "Ich sprach mir's aus: als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sichs etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung möchte zugetragen haben, so bewegte sich's auch in meinem Innern und es war mir als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen und weiter keine übrigen Sinne besäße noch brauchte." (XX.3 833) Eine für den Augen- und Sinnenmenschen Goethe höchst ungewöhnliche Äußerung. 

 Wenn Goethe in seinem Brief sodann einen Abriß der Geschichte der Tonkunst in einem einzigen Satz bietet, sind die Stufen der Musikentwicklung zu erkennen, denen wir auch im Verlauf der Faust-Dramas begegnen: von jenem metaphorisch umschriebenen vorsinnlich-metaphysischen Zustand der Musik über ihre Entäußerung an die Sinne ("Schritt und Tanz, Gesang und Jauchzen") und ihre Entwicklung von der Einstimmigkeit ("reine Kantilene") zur Mehrstimmigkeit ("der harmonische Chor") bis zu dem Punkt, da neuplatonischer Vorstellung gemäß "das entfaltete Ganze wieder nach seinem göttlichen Ursprung zurück" strebt (XX.3 833) - die geistige Bewegung auch der "Bergschluchten"-Szene. Die Musik wird gemäß dieser an Hegel gemahnenden Dialektik ihrer Entwicklung zum Alpha und Omega aller Kunst, ihr transzendentaler Grund, von dem aus zu verstehen ist, warum Goethe geneigt ist, sie jedem Kunstsinn beizugesellen - gewissermaßen als apriorische Bedingung der Möglichkeit aller Kunst, als Inbegriff der "universalia ante rem" im Sinne der musikalischen Philosophie Schopenhauers. 

 Das Faust-Drama beginnt mit der transzendenten musica mundana, durchmißt alle Möglichkeiten der Musik von ihren niedrigsten bis zu den höchsten, vom studentischen Saufgesang bis zur Engelsmusik, um in den "Bergschluchten" zu ihrer metaphysischen Uridee zurückzukehren. Sie bildet den metatragischen Rahmen der Faust-Tragödie. Ob als Ausdruck vulgärer oder sublimer Lebensfreude, als Katharsis oder als Sphärenmusik, immer evoziert Musik im Faust eine vor- oder übertragische Welt. Wenn aber das Tragische in ihr und durch sie nicht zu transzendieren ist, bricht sie ab, wie in der erschütternden Generalpause nach dem tödlichen Sturz Euphorions und der Nänie des Chors im letzten Teil des Helena-Akts. 

 Goethe hat wiederholt betont, so in seinem Brief an Zelter vom 31. Okt. 1831, er sei "nicht zum tragischen Dichter geboren", da seine Natur zur Versöhnung neige; daher sei "der rein tragische Fall" ihm fremd, da dieser "eigentlich von Haus aus unversöhnlich sein" müsse (XX.2 1564). Auch die Tragödie Faust hebt sich in der Erlösung des Titelhelden selber auf. Das Kunstelement aber, in dem sich diese Aufhebung der Tragödie real oder metaphorisch vollzieht, ist die Musik. Sie ist das Element der Versöhnung, das Goethes Natur so sehr entspricht. Sein Wesen kongruiert so wahrhaft mit seiner eigenen Idee der Musik.

 

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Fußnoten

1 Die Zitatnachweise im Text beziehen sich auf Band- und Seitenzahl der "Münchner Ausgabe" von Goethes Sämtlichen Werken, hrsg.v. Karl Richter. München 1985-98.    

2 Vgl. dazu Dieter Borchmeyer: Gustav Mahlers Goethe und Goethes Heiliger Geist. Marginalie zur Achten Symphonie aus aktuellem Anlaß. In: Nachrichten zur Mahler-Forschung 32 (Oktober 1994) S. 18-20.  

3 Viktor Junk: Zweiter Teil Faust und Zweite Zauberflöte. Betrachtungen zu Goethes musikdramatischer Architektonik. In: Neues Mozart-Jb. 2 (1942), S. 59-77. <?xml:namespace prefix = o ns = "urn:schemas-microsoft-com:office:office" />

4 Thomas Mann: Gesammelte Werke. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1974. Bd. II, S. 623.

5 Vgl. dazu Dieter Borchmeyer: Goethe, Mozart und die Zauberflöte. Göttingen 1994 (Veröffentlichungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg Nr. 76).

6 Vgl. Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Aktualisierte Neuausgabe. Weinheim 1998, S. 373-384. 

7 Vgl. dazu Dieter Borchmeyer: "Götterwert der Töne". Goethes Theorie der Musik. In: Ein unteilbares Ganzes. Goethe: Kunst und Wissenschaft. Hrsg. v. Günter Schnitzler u. Gottfried Schramm. Freiburg im Breisgau 1997, S. 117-172, hier S. 153ff. 

8 In einer erst vor wenigen Jahren veröffentlichten Vertonung von Fanny Hensel, 1843 für Sopran, Frauenchor und Klavier aus Anlaß der "Sonntagsmusiken" im Hause Mendelssohn in der Leipziger Straße in Berlin geschrieben, kommt dieser Wechsel von Arie und Rezitativ besonders markant zum Ausdruck. Vgl. die Aufnahme auf einer CD des Heidelberger Madrigalchors: Goethes Faust in der Musik. Fermate Musikproduktion 1999 (FER 20030).    

9 Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 3. Aufl. München 1962, S. 734f. 

10 Vgl. Gustav Nootebohm: Zweite Beethoveniana. Leipzig 1887, S. 277. 

11 Goethes Gedanken über Musik. Hrsg. v. Hedwig Walwei-Wiegelmann. Frankfurt a.M. 1985, S. 67. 

12 Vgl. die grundlegende Monographie von Günter Bandmann: Melancholie und Musik. Ikonographische Studien. Köln und Opladen 1960. 

13 Vgl. dazu Dieter Borchmeyer: Goethe. Der Zeitbürger. München 1999, S. 279ff. 

14 Von der Faust-Forschung kaum beachtet worden ist der bemerkenswerte Hinweis auf Haydns Schöpfung als mögliche Quelle des Gesangs der drei Erzengel. Vgl. Erich Schondorfer: Die drei Erzengel in Goethes Faust und in Josef Haydns Schöpfung. Musica Divina XXV/5 (1937), S.91-94. Er macht zumal auf die inhaltlichen Übereinstimmungen in den Naturschilderungen aufmerksam. Besonders auffallend die Bilder in dem Rezitativ "Da tobten brausend heftige Stürme; / Wie Spreu vor dem Winde, so flogen die Wolken. / Die Luft durchschnitten feurige Blitze, / Und schrecklich rollten die Donner umher." Oder am Anfang der Baß-Arie Nr. 6 (7): "Rollend in schäumenden Wellen / Bewegt sich ungestüm das Meer. / Hügel und Felsen erscheinen" usw.. Auch Jean-Charles Margotton: Les Oratorios de Haydn et l'esprit de l'Aufklärung. Cahiers d'Études Germaniques 22 (1992), S. 63-77 vermutet (ebd. S. 72) eine Inspiration des "Prologs im Himmel" durch Haydns Oratorium. Georg Feder schließlich beschreibt im Kapitel "Die Schöpfung im klassischen Weimar" in seinem Buch: Joseph Haydns. Die Schöpfung. Kassel 1999, S. 180ff. die Weimarer Aufführung des Oratoriums am 1. Januar 1801 und weist auf die formale Übereinstimmung zwischen dem Gesang der drei Erzengel im "Prolog im Himmel" und dem Erzengel-Terzett Nr. 18 (19) in der Schöpfung hin - die in Miltons Verlorenem Paradies, auf das man üblicherweise als Quelle hinweist, kein Vorbild hat.

Als Terminus post quem käme für die Entstehung des "Prologs" dann frühestens der Januar 1801 in Frage. Georg Feder bin ich dafür dankbar, daß er mich auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht hat. 

15 Vgl. dazu Dieter Borchmeyer: "Laß mich hören, laß mich fühlen". Selbstgespräch Gottes vor der Schöpfung. Goethe deutet die Musik Johann Sebastian Bachs. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.7.2000.

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 Dieter Borchmeyer: Goethes Faust musikalisch betrachtet.

In: Eine Art Symbolik fürs Ohr. Johann Wolfgang von Goethe. Lyrik und Musik. Hrsg. von Hermann Jung. Frankfurt a.M. 2002, S. 87-100.   PDF-Fassung  

 

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