Goethezeitportal.de

 

Inhalt

 

Goethe, Schiller und die Goethezeit auf Google+

Goethe und die Musik

Dieter Borchmeyer:
»Goethe in der Musik des 20. Jahrhunderts«

Goethe und die Musik seiner Mit- und Nachwelt: das ist ein weites, ja eines der weitesten Felder seiner Wirkungsgeschichte. Wohl kein Dichter in der Geschichte der Weltliteratur hat einen vergleichbaren Einfluß auf die Musik gewonnen hat wie er. Fast keiner der großen Komponisten - zumindest in Deutschland - von der Schwelle des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ist ohne ihn ausgekommen, ja in vielen Fällen - es seien nur die Namen Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner, Brahms, Mahler, Strauss, Busoni oder Webern genannt - stehen die Lektüre und musikalische Auseinandersetzung mit Goethe so sehr im Zentrum ihres ästhetischen Kosmos, daß man beinahe behaupten kann: ohne ihn hätte ihr Werk eine andere geistige, ja vielfach eine andere künstlerische Gestalt. Vor allem eine bestimmte musikalische Gattung, die außerhalb Deutschlands heute mehr denn je als Inbegriff deutscher Kultur gilt, hätte sich ohne ihn niemals in dieser Form und zu dieser Höhe entwickelt: das Kunstlied, "le lied", wie die Franzosen sagen, ein Wort, das niemals im Dictionnaire stünde, hätte es Goethe nicht gegeben, dessen Gedichte seit fast zweihundert Jahren nach den Worten von Friedrich Blume "die bei weitem am häufigsten komponierten Texte der Weltliteratur" sind. [1]

Beethoven hat gegenüber Rochlitz behauptet, daß "keiner sich so gut komponieren lasse wie Goethe" [2], wobei er wohl vor allem die Biegsamkeit seines Rhythmus im Auge hatte, welche der Vertonung einen weiten Spielraum gönnt. Die ideale Vertonbarkeit Goethes und überhaupt die Affinität seiner Dichtung zur Musik haben sich den Komponisten immer wieder aufgedrängt, bemerkenswerter Weise auch nichtdeutschen, die oft auf Übersetzungen angewiesen waren wie etwa Giuseppe Verdi bei seinen Vertonungen von Gretchen am Spinnrad und Ach neige du Schmerzenreiche. Wirkungsgeschichtlich betrachtet steht Goethe weit näher bei der Musik als bei der bildenden Kunst, zumindest spielte sich seine Wirkungsgeschichte wahrhaft - wenn auch leider nicht nur - auf den obersten Rängen der Musik ab, in der bildenden Kunst dagegen überwiegend auf den unteren Rängen.

Kein Zweifel freilich, daß Goethe-Texte in der Musik des 20. Jahrhunderts eine erheblich geringere Rolle gespielt haben als im 19. Jahrhundert. Die gewaltige Konkurrenz der Liedkomponisten von Schubert bis Wolf, die abnehmende Bedeutung der Gattung Lied im allgemeinen, die Ferne des außerlyrischen Oeuvres von Goethe zu den Formen und Tendenzen der Musik dieses Jahrhunderts mögen Gründe für den Rückgang der Goethe-Vertonungen sein. Deren gewaltigste und bedeutendste ist zweifellos der zweite Satz von Gustav Mahlers Achter Symphonie (1910) mit der Vertonung der Bergschluchten-Szene des Faust II, deren Ausstrahlung auf die Musik der Wiener Schule um Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern nicht zu unterschätzen ist. Goethe war einer ihrer selbstverständlichen Bezugspunkte, wie Wien überhaupt das Zentrum der musikalischen Wirkungsgeschichte Goethes von Gustav Mahler bis Ernst Krenek (der z.B. 1927 eine Bühnenmusik zum Triumph der Empfindsamkeit schrieb) gewesen ist. Die größte Bedeutung hatte Goethe zweifellos für Anton Webern. Das zeigen weniger seine eigentlichen Goethe-Kompositionen ("Gleich und gleich" aus den Vier Liedern für Singstimme und Klavier op. 12 und die Zwei Lieder für gemischten Chor und fünf Instrumente op. 19 aus den Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten, die durch Mahlers Achte Symphonie angeregt wurden, sowie die anderen, Fragment gebliebenen Versuche der Goethe-Vertonung aus den zwanziger Jahren) als der eminente Einfluß von Goethes Farbenlehre und Morphologie auf seine Kompositionslehre, die mäeutische Rolle, die sie für ihn bei der Entwicklung der Reihentechnik spielten - ein Zeichen dafür, daß Goethe nicht nur die spätromantischen Repräsentanten der bürgerlichen Musiktradition, sondern auch die radikalen Neuerer zu inspirieren vermochte.   



    1  Artikel "Goethe" in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Kassel und Basel 1956. Bd. V, Sp. 451.
    2  Vgl. Joseph Müller-Blattau: Goethe und die Meister der Musik. Stuttgart 1969, S. 47.

 

Auszug aus:

 Dieter Borchmeyer: "Die Genies sind eben eine große Familie ..." Goethe in Kompositionen von Richard Strauss.

In: Goethe-Jahrbuch 111 (1999) [2000], S. 206-223.   PDF-Fassung  

Das Fach- und Kulturportal der Goethezeit