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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

 

Synästhesie in der literaturwissenschaftlichen Forschung

  1. Synästhesie als sprachlich-stilistische Figur  in der Literatur 

Während die  SYNAESTHESIE  als "künstlerisches Ideenmoment" einer höheren Synthese in den Künsten eine bedeutende Rolle einnimmt, wird sie erst 1812 bewusst wahrgenommen, der Terminus erst 1864 eingeführt. Von Seiten der Literaturkritik wird die Synästhesie als "Entartung" (Nordau 1892/93) [1], ans Pathologische angrenzende "Sinnes-Verwirrung"  angegriffen. Gegen die Kritik im 19. Jh. verteidigt der Literaturkritiker Victor Ségalen (1902) [2] die Synästhesie in der symbolistischen Literatur als "Symptômes ...de Progrès"  und sucht sie als Terminus in die Literaturwissenschaft eingeführt theoretisch zu fassen. Seine Arbeit bildet den Ausgangspunkt einer breiten zunächst psychologisch orientierten, dann hermeneutisch ausgerichteten Synästhesie-Forschung in der Literaturwissenschaft [3], Musikwissenschaft und Linguistik, die in den 20-er Jahren des 20. Jh. in Deutschland zu einer "regelrechten Synästhesie-Euphorie" (Jewanski 2002, S. 241) [4] anwächst. Die Hauptquelle zahlreicher Arbeiten und Lexikonartikel bildet die von Albert Wellek [5] eingeführte weite Synästhesiedefinition, die  vier Arten möglicher Verbindungen der Sinnesmodalitäten (Wellek 1931, S. 326) [6]  unterscheidet.
  
In der neueren Literaturwissenschaft wird der Begriff  der Synästhesie überwiegend als "Stilfigur" (Engelen 1966, S. 16) [7], als Trope in Abgrenzung zu anderen Tropen wie der Metapher [8], als „spezifische Unterkategorie der Metapher“  (Gross 2002, S. 58) [9] oder als „Sonderform der Metapher“ (Wanner- Meyer 1998, S. 26)  [10] verwendet. Diese Eingrenzung ermöglicht es die synästhetischen Erscheinungsformen erstens in einer Typologie auf "grammatikalische Formen" (Wanner-Meyer 1998, S. 30)  einzuschränken und diese systematisch zu katalogisieren (S. 31-61), zweitens in eine an thematischen Feldern orientierte Geschichte der literarischen Synästhesie einzubinden [11].
  
Die Synästhesie als rhetorisch-poetische Figur ist auf die „Ähnlichkeits- und Analogie-Beziehungen zwischen Sinneseindrücken und Vorstellungen, die verschiedenen Sinnesbereichen angehören“ (Hadermann 1992, S. 55)  beschränkt und leistet die „Übertragung von einem Sinnesbereich auf den anderen“ (S. 55). Hadermann verweist zudem auf die seiner Ansicht nach sinnvolle Unterscheidung zwischen synästhetischen Metaphern (Stanford 1942) [12] und Synästhesie; "denn letztere ist die Erfahrung, die in ersterer zum Ausdruck gelangt" (S. 56). Sabine Gross (2002) weist in diesem Zusammenhang auf die Trennung der "Ebene der sprachlichen Repräsentation" von der "tatsächlichen Wahrnehmungsebene" (S. 63) hin.  Die Vorstellung einer Übertragung über eine lineare Zuordnung setzt 'intermodale Qualitäten'  voraus, die ein und dieselbe Empfindung oder Vorstellung oder Idee transportieren; diese kann in einem Gedicht, einer Erzählung oder einem Musikstück, einem Bild oder einer Skulptur zum Ausdruck kommen. 
  
Der Synästhesie als Sprachfigur wird die Funktion der Erneuerung erstarrter sprachlicher Wahrnehmungsformeln (Wanner-Meyer 1998, S. 26-27 ) - wie sie der Formalist Victor Šklovskij 1916 in seiner programmatischen Schrift Kunst als Verfahren postuliert hat- und die Lenkung der Aufmerksamkeit des Lesers auf die "verfremdende Form" zugewiesen  - die im Strukturalismus weiterentwickelt wurde [13] -; diese Funktion kann aber generell für metaphorischen Sprachgebrauch geltend gemacht werden (vgl. Gross 2002, S. 65). Peter Utz (1990) [14] sieht die "romantische Synästhesie" (S. 197) vornehmlich als Gegenbewegung zum Wahrnehmungsdiskurs der Aufklärung; der Sinnenzersplitterung setzt sie "die utopische Egalisierung der Sinne im Text" (S. 197) entgegen. Die Synästhesie fungiert als anarchisches Moment gegen die diskursive Ordnung der "Sinnendisziplinierung" (S. 198). "Als sprachlich komponierte Wahrnehmungsfigur" (S. 202), die "die Sinne ungewohnt verschmilzt" (S. 202), wirkt sie  wie ein "sprachlicher Schock" (S. 202) auf den Leser [15].

Diese grob umrissene meist verbreitete Auffassung von Synästhesie führt zu einer Verengung des Begriffs Synästhesie. Die Parallelisierung von Metapher und Synästhesie lässt wichtige Aspekte der Synästhesie als Wahrnehmungsphänomen und ihrer sprachlichen Konstituierung in der Literatur außer Betracht.

► Im Bezug auf meine Ausgangsthese und die meiner Ansicht sinnvolle klare Unterscheidung von Synästhesie und intermodaler Analogie stellen sich mir zwei  Fragen:

1. Ist die "durch Verknüpfung oder Vertauschung der Sinnessphären" (Schrader 1969, S. 11) im sprachlichen Ausdruck ausgelöste 'synästhetische' Wirkung der intermodalen Analogiebildung zu zurechnen (wie dies u.a. auch von Lawrence E. Marks (1990) [16] intendiert ist)?

► Eine deutliche Abgrenzung der Synästhesie als poetisches Konzept und  synästhetischen Metaphern, die als literarische Stilmittel bewusst eingesetzt werden, erscheint mir wichtig.  Während synästhetische Metaphern als poetisch-innovativ im Gegensatz zu alltagsweltlichen-automatisierten gelten und sich in diesem Spannungsfeld bewegen und ihr Potential entfalten [17], zielt die Synästhesie als Konzept auf ein dynamisches Modell des sprachlichen Prozesses, das die Vernetzung der Bildfelder, den spezifischen Sinnesmodalitäten zugeordnete, generiert und den Text selbst als einen vernetzten Empfindungs- und Vorstellungsbereich im Wahrnehmungsprozess realisiert. Da es sich um Literatur handelt, geht es um eine spezifisch literarische Sprachkonstituierung.

 

2. Zielt die Aufwertung der Synästhesie in der Literatur der Romantik auf den Nachvollzug einer synästhetischen Erfahrung im Rezeptionsprozess? Ist es sinnvoll, an dieser Stelle den Leser als ein wahrnehmendes Subjekt (anthropologisch, soziologisch, lebensweltlich ?) zu konzipieren?

► Ich möchte in diesem Zusammenhang versuchen, der Literatur der Romantik, die sich von der Nachahmungsästhetik abgelöst als moderne Literatur ausweist, eine (system-) interne Reflexion auf die sinnliche Wahrnehmung und ihre Bedingungen - als spezifisch literarische in der Konstituierung von Sprache - zu zuschreiben, in der die Synästhesie eine Rezeptionskategorie markiert und in diesem Zusammenhang der Kategorie des Erlebens eine zentrale Bedeutung zukommt. 
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[1] Nordau, Max: Entartung (1892/1893). Zitiert bei Hadermann 1992, S. 56 [3].

[2] Segalen, Victor: Les Synesthésies et l'ecole de symboliste. In: Mercure de France 42. 1902, S. 57-90. In Buchform: Formentelli E. (Hg.): Les Synesthésies et l'ecole de symboliste. Montpellier 1981. Auch Jakob Grimm rechtfertigt den Gebrauch synästhetischer Ausdrücke in: Die fünf Sinne. Zeitschrift für deutsches Alterthum 6, 1848 S.1-15, hier S. 8 f..

[3] Vgl. Hadermann, Paul: Synästhesie: Stand der Forschung und Begriffsbestimmung. In:  Weisstein, Ulrich (Hg.): Literatur und bildende Kunst: ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin 1992, S. 54-72.

[4]  Jewanski, Jörg: Die neue Synthese des Geistes. Zur Synästhesie- Euphorie der Jahre 1925 bis 1933. In: Adler, Hans; Zeuch, Ulrike (Hg.): Synästhesie. Interferenz-Transfer-Synthese der Sinne. Würzburg 2002, S. 239-.

[5] Wellek, Albert: Farbenhören. In: Blume, Friedrich (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 4. Kassel 1954, Sp. 1804-1811. Auch die materialreiche Arbeit von Ludwig Schrader 1969 Sinne und Sinnesverknüpfungen. Studien und Materialien zur Vorgeschichte der Synästhesie und zur Bewertung der Sinne in der italienischen, spanischen und französischen Literatur  stützt sich auf die weite Definition Welleks und erweitert diese noch um die Verbindung  von Sinnesempfindungen mit Abstrakta; er unterscheidet drei Formen der Synästhesie. Zur Kritik an L. Schraders Erweiterung des Synästhesiebegriffs vgl. Hadermann 1992, S. 62 f. [3]. 

[6] Wellek, Albert: Zur Geschichte und Kritik der Synästhesie-Forschung. In: Archiv für die gesamte Psychologie 79, 1931, S. 325-384, hier S. 326.

[7] Engelen, Bernhard: Die Synästhesien in der Dichtung Eichendorffs. Köln 1966.  Zur Definition des Begriffs Synästhesie vgl. S. 10.  Vgl. die Kritik an einer Verengung des Synästhesie-Begriffs auf eine "reine Stilfigur" durch  Utz 1990, S. 196 [Anm. 93].

[8] Zur Abgrenzung der Metapher von der Synästhesie vgl. Engelen 1966,  S. 19/ 20: Die Synästhesie ist ihrer Struktur nach "das unmittelbare Aussprechen des sinnenfällig Gegebenen selbst"; "die sprachliche Zusammenfassung von zwei oder drei  sinnlichen Eindrücken aus verschiedenen Bereichen" hat die Funktion, die "vom diskursiven Denken zerstörte Einheit des Erlebens wenigstens teilweise im sprachlichen Kunstwerk wiederherzustellen".

[9] Gross, Sabine: Literatur und Synästhesie: Überlegungen zum Verhältnis von Wahrnehmung, Sprache und Poetizität. In: Adler, Hans; Zeuch, Ulrike (Hg.): Synästhesie. Interferenz-Transfer-Synthese der Sinne. Würzburg 2002, S. 57-76.

[10] Wanner-Meyer, Petra: Quintett der Sinne. Synästhesie in der Lyrik des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 1998; hier S. 26. Vgl. insbesondere die Analogiebildung zur Metapher S. 28. Sie legt einerseits der Metapher gegenüber der statischen Definition als abgekürzten Vergleich die neuere "Interaktionstheorie" zugrunde, hält aber dennoch an der Unterscheidung von "Bildsender" und "Bildempfänger" fest. Zur Kritik an dieser Unterscheidung vgl. auch Utz 1990, S. 201-202.

[11] Vgl. u.a. Schrader, 1969. 

[12] Stanford, W. Bedell: Synaesthetic Metaphor. In: Comparative Literature Studies/ Etudes de Littérature Comparée 2, 1942, S. 26-30.

[13] Wegweisend sind hier vor allem die Arbeiten von Juriij Nikolaevic Tynjanov, Jan Mukarovskij und Roman Jakobson, auf die ich hier nicht näher eingehen kann.

[14] Utz, Peter: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990, hier besonders Kap. 6: Romantische Sinnesverknüpfung in Kontext und Text, S. 177-212.

[15] Vgl. Utz 1990, S. 203: "Die literarische Synästhesie der Romantik aber will [im Gegensatz zur Aufklärung] die Sinne vom Subjekt her verknüpfen. Das Instrument der Sprache, auf dem die Romantik alle Sinnenregister zieht, erklingt nur für den Leser, der lesend darauf spielt."

[16] Marks, Lawrence E.: Synaesthesia: Perception and Metaphor. In: Burwick, Frederick; Pape, Walter: Aesthetic Illusion. Theoretical and Historical Approaches. Berlin, New York 1990, S. 28-40.

[17] Vgl. die Unterscheidung bei S. Gross (2002) zwischen "konventionalisierten synästhetischen Metaphern" (S. 69), die "auf tatsächlichen Wahrnehmungsanalogien beruhen" (S. 68),  und "poetischen Synästhesie-Metaphern" (S. 69), die sich gerade nicht auf den "potentiellen Nachvollzug in der vorgestellten oder tatsächlichen Wahrnehmung des Rezipienten" (S. 69) reduzieren lassen.

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Brigitte Gustovic: Theoretische Überlegungen zur Konzeption der Synästhesie. 03.02.2003.

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