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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

 

Synästhesie als Konzept in der Literatur der Romantik

"Alle Sinne sind am Ende ein Sinn.
Ein Sinn führt wie eine Welt allmählich zu allen Welten." 

(Novalis: Heinrich von Ofterdingen.) 

 

Die Literatur der Romantik wird verstanden als Anbruch der modernen Literatur, die "im Konzept einer von einer zweckfreien Funktion bestimmten autonomen Literatur" (Homann 1999, S. 36) [1] ihre Verortung findet. Den sozialgeschichtlichen Hintergrund bildet die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die damit verbundene Freisetzung des Literatursystems, das seine Funktion im Bezug auf die Gesamtgesellschaft neu bestimmen muss. [2] Der neue autonome Status der Literatur überantwortet ihr selbst die Aufgabe das, was sie sein und werden will allein aus sich heraus zu erfinden und zu begründen. Dieser Prozess wird begleitet, wenn nicht sogar getragen, von der Selbstreflexion der Literatur, die als "absolutes Reflexionsmedium" (Benjamin 1973, S. 48) [3] in der Frühromantik ihr neuer Inhalt und ihre neue Form wird, in dem sie sich selbst denken kann. [4]

Unter der Prämisse dieser Prozesse in der Kunst der Moderne entwickelt die Literatur seit der Romantik neue stilistische Sprachverfahren und -formationen und koppelt jede Formerfindung mit der Formulierung eines neuen Kunstbegriffs, der einerseits mit den bestehenden ästhetischen Normen bricht und andererseits eine neue Ordnung legitimiert und positioniert. In diesem Zusammenhang wird die "Ästhetik als Selbstreflexion des Kunstsystems ausdifferenziert" (Jäger 1991, S. 226) [5], der kunsttheoretische Diskurs zunehmend in die Kunst implementiert [6] und die Subjektivität entscheidendes Kriterium für die Kunst. Ausdifferenziert werden der Produktions- und Rezeptionsbereich; auf der Seite der Produktionsbedingungen auf die subjektive Leistung, den genialischen Künstler, das moderne Äquivalent dazu bildet Kreativität [7], und auf der Rezeptionsseite auf den reflektierenden Leser, Hörer oder Betrachter verpflichtet. Der kunsttheoretische Diskurs über Wahrnehmung in der Literatur der Romantik setzt die sinnliche Wahrnehmung als ästhetische Kategorie zentral und reflektiert den Stellenwert der Synästhesie - im Sinne einer Aufwertung der Synästhesie und ihrer ästhetischen Wertsteigerung -. Wird die romantische Literatur in diesem Sinne als spezifisch moderne betrachtet und die Synästhesie unter der Differenz von Denken und (sinnlicher) Wahrnehmung, Sprache und (Selbst-) Bewusstsein [8] rekonstruiert, bietet die synästhetische Wahrnehmung eine Möglichkeit im Bewusstsein der Differenz mit dieser umzugehen.  
In Verbindung mit diesen Vorannahmen möchte ich zwei Fragenkomplexe ansetzen:

  1. Wie wird das Konzept der Synästhesie dynamisches Formprinzip, das die synästhetische Wahrnehmung momenthaft als sinnliches Ereignis generiert?
  2. Welche Funktion und Bedeutung hat das Konzept der Synästhesie als poetisches und poetologisches Modell in der Literatur der Romantik?

 

Synästhesie als Konzept ist nicht nur als Übertragung von Strukturen des Dargestellten (der Musik, der Malerei) in solche des Textes, als eine analoge Abbildung der Strukturen mit vergleichbaren sprachlichen Mitteln zu sehen, sondern zudem

  1. als performative Sprachfunktion, die den sprachlichen Vollzug als synästhetische Wahrnehmung realisiert, die das In-Beziehung-Setzen selbst zum Gegenstand macht;
  2. als sprachlicher Konstituierungsprozess, der als ständig rückkoppelnder Gestaltbildungsprozess den synästhetischen Wahrnehmungsprozess organisiert, in dem die Bezüge die Elemente bestimmen und
  3. als eine "Zusammenführung verschiedener Modi der (medial vermittelten) Wahrnehmung" (Soldat 2003, S. 8) [9], die eine neue Gestalt hervorbringen, die mehr ist als die Summe ihrer Teile und Verweisungen.


Um  den Synästhesiebegriff  konzeptualisieren zu können, sollten drei semantische  Ebenen des Textes, die in wechselseitigem Bezug zueinander stehen und wirken, unterschieden werden:

  1. Das Erscheinen der Synästhesie an der Textoberfläche zum einen in der synästhetischen Wahrnehmung aus der Figurenperspektive oder auf ein lyrisches Ich bezogen, zum anderen als Kunst- oder  Bildzitate: (hier sei auf die zahlreichen Einzelanalysen im Rahmen des Gesamtprojekts Synästhesie und Intermedialität in der Literatur der Romantik verwiesen).
  2. Die Synästhesie als Wahrnehmungsform, die der Text selbst als Ganzes darzustellen versucht und damit Synästhesie und Intermedialität erzeugt, vermittelt und reflektiert; der Text funktioniert nach einem Modell, das Funktionsäquivalente aufweist, die sich mit Bewusstseins- und Wahrnehmungsmodellen decken, so dass sie übertragen werden können; die Literatur der Romantik hat diesen Bereich als poetologisches Prinzip für den Text ausgebaut.
  3. Synästhesie als realisierte Möglichkeit der literarischen Sprachkonstituierung in der Verbindung beider semantischer Ebenen und der Funktion und Bedeutung derselben für die aktuell erfundene neue 'Form' und für die Literatur.

 

Im Bezug auf die Fragestellung, welche Funktion das Konzept der SYNAESTHESIE im kunsttheoretischen Modell der romantischen Literatur einnimmt, sind folgende Punkte in der romantischen Kunsttheorie von Bedeutung:

► das triadische Geschichtsmodell, das von einer ersten Stufe der „Einheit alles Lebendigen mit der Natur“ ausgeht, eine zweite Stufe der „Trennung durch Erkenntnis“ ansetzt und auf die dritte Stufe der „Wiedervereinigung“ weist. Die dritte Stufe ist im Sinne Schillers die „sentimentalische“, d. h. eine Rekonstruktion unter den Bedingungen von Reflexion in der Moderne (vgl. Homann 1999, S. 262 f.), die in der Wiedervereinigung den „Schmerz und das Bewußtsein der Trennung“ mit umfasst. (Huber 2002) [10] ;
► die musikalische Poetik, die über musikalisch-poetologische Bestimmungen in der Musikalität der Sprache als zentrales Prinzip der Referenz auf sich selbst die Selbstreflexivität der Sprachfiguren und der Literatur selbst fundiert. Das "Musikalische" (Naumann 1990) [11] begründet die Poesie und die Funktion der poetischen, aber auch der philosophischen Sprache und charakterisiert den Prozess der Poetisierung von Erkenntnis und Darstellung. Für die romantische Poetik ist die Musik "universell" als Paradigma einer autonomen Kunst, da sie "als bereits vollendete Form" (Naumann 1990, S. 3), die in der Poesie noch zu entwickeln ist, "in ihrer referenzlosen Klanglichkeit" (S. 3)  auf sich selbst verweist. 
► die Grenzüberschreitung der Gattungen in der Poesie und der Künste, die, zum Programm der Romantik erhoben, alle Gattungen und Formen zur 'Idee der Poesie', der "progressiven Universalpoesie" (Friedrich Schlegel), der  "Transcendentalpoësie" (Novalis), definiert als die ihrer selbst bewusst gewordenen Poesie, die den über sein Tun reflektierenden Dichter voraussetzt, zu synthetisieren habe. Nicht die Darstellung der (metaphysisch fundierten) Idee, sondern die Poesie selbst wird zur 'Idee der Poesie'. 
Die Synästhesie kann als integraler Teil der romantischen Poesie und Poetik begriffen werden; sie fungiert als Medium der mehrdimensionalen Welterfahrung und als solche bestimmt sie die Funktion der poetischen Sprache. Die Synästhesie als Konzept kann in der aktuell erfundenen literarischen Sprachkonstituierung eine modellhafte realisierte Möglichkeit vorführen mit der Differenz von Denken und sinnlicher Wahrnehmung, Sprache und Bewusstsein umzugehen.
Die 'synästhetisch komponierte' Vorstellungs- und Bilderwelt transformiert die traditionelle Idee des Ganzen (der Welt) in eine ästhetische Idee, die im sprachlichen Vollzug, der gleichzeitig den Vollzug der synästhetischen Wahrnehmung realisiert, unter der Bedingung des "Als-ob", im imaginären Erfahrungs- und Erlebnisraum, die Einheit der Sinne - als komplexe Erfahrungsvielfalt zu verstehen, und der Welt erfindet, als Grenze und unerreichbaren Bezugspunkt im Bewusstsein, dass sie eine Erfindung. Die synästhetische Wahrnehmung kann nur als Re-Konstruktion einer sinnlichen Erfahrungseinheit erfahren werden, das Evozierte ist bereits vergangen. Der imaginäre Erlebnisraum wird Raum der sinnlichen Anschauung aus der Erinnerung, die die zeitliche Dimension markiert, aus der Ferne, die die räumliche Dimension markiert. Die synästhetische Wahrnehmung ermöglicht den Eintritt der Erinnerung in die Gegenwart; der Moment der Erinnerung wird in ein sinnliches Ereignis transformiert.

Der Begriff der Grenze impliziert immer die Möglichkeit des Transzendierens, die potentielle Grenzüberschreitung und schließt die andere Seite mit ein. Die Synästhesie als sinnlich wahrnehmbare Erfahrung ermöglicht die Erfahrung der Transzendenz in der Poesie.

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[1] Homann, Renate: Theorie der Lyrik. Frankfurt/Main 1999. (Ich übernehme dieses Zitat ohne auf die explizite Begründung einer Theorie der Lyrik und der Lyrik als "Paradigma der Moderne" einzugehen.)

[2] Vgl. u.a. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/ Main 1995.

[3] Benjamin, Walter: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Frankfurt/M 1973. Zitiert aus Jäger 1991, S. 232, Anm. 48. [5]

[4] Vgl. Friedrich Schlegel: 116. Athenäums-Fragment. 

[5] Jäger, Georg: Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und avantgardistischen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese. In: Titzmann, Manfred (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 221-244.

[6] Vgl. etwa die Darlegungen zum Verhältnis von Musik und Poesie von Naumann, Barbara: Die musikalische Bewegung der Poesie. In: ds. (Hg.): Die Sehnsucht der Sprache nach der Musik. Texte zur musikalischen Poetik um 1800.  Stuttgart 1994, S. 245-273: Sie stellt fest, dass "theoretische, poetologische wie poetische Texte sich im Falle der frühromantischen Dichtung, etwa Tiecks, Friedrich Schlegels oder Novalis', häufig einander annähern, wenn nicht gar so miteinander verschmelzen, daß neue Gattungsbezeichnungen, wie z. B. die der poetischen Reflexion oder der theoretischen Phantasie, dafür gefunden werden müssen." (S. 245.)

[7] Vgl. bereits  Wackenroder, Wilhelm Heinrich und Tieck, Ludwig in den Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst (1799) die Problematik des Künstlers und die Reflexion seines Scheiterns: nur die Sprache selbst und ihre poetischen Möglichkeiten sichern der Kunst das Kunstwerk.

Wackenroder, Wilhelm Heinrich; Tieck, Ludwig: Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst. Hamburg 1799. Nehring, Wolfgang (Hg.): Phantasien über die Kunst. Reclam Universalbioblithek [Nr. 9494]. Stuttgart 1973, bibliographisch ergänzte Ausgabe 2000.

[8] Der Begriff des Selbstbewusstseins ist Ende des 18. Jh. und Anfang des 19. Jh. erst entstanden; zunächst noch an die moralisch-sittliche Diskussion angebunden (u.a. bei I. Kant, F. Schiller und K. P. Moritz) entwickelt sich die Vorstellung von Selbstbewusstsein und wird auch in der Physiologie und Psychologie relevant. Um Selbstbewusstsein haben zu können ist eine Außenperspektive (die im 18. Jh. noch nicht einnehmbar war) notwendig, d. h. die Möglichkeit sich selbst außerhalb der Welt zu stellen, und von hier aus den Wechsel nach Innen vorzunehmen, damit wird der Perspektivenwechsel von Bedeutung. In der Literatur wird Sinneseindrücke anders gewertet.

[9] Soldat, Cornelia: Intermedialität und Synästhesie. Zur Wahrnehmung in Literatur und Kunst der slavischen Moderne. URL: http://www.soldatkuepper.de/pdfs/Projektbeschreibung%20C%20Soldat.pdf (20.11.2002).

[10] Zitiert nach der Vorlesung Deutsche Lyrik und ihre Theorie 17.-20. Jhd. (Romantik: 19.06.2002)  von Dr. Huber, Martin gehalten im SS 2002 am Institut der Neueren deutschen Literatur an der LMU München.

[11] Naumann, Barbara: Musikalisches Ideeninstrument. Das musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik. Stuttgart 1990.

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Brigitte Gustovic: Theoretische Überlegungen zur Konzeption der Synästhesie. 03.02.2003.

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