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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Wahrnehmung der Natur

Die Suche nach Zeichen einer vergangenen Liebesbeziehung in einer abweisenden Winterlandschaft wandelt sich im Verlauf der "Winterreise" in die Erstellung eines Schriftbildes der Melancholie. Die angeschaute Natur erscheint als Spiegel der Seele,. die Melancholie wird in den winterlichen Naturerscheinungen festgeschrieben. Wolfgang Popp setzt die Instrumentalisierung der Naturbilder in Verbindung zu Wilhelm Müllers poetologischem Prinzip und erklärt:

"Die Theorie, die Müller an den Gedichten Uhlands und Kerners entwickelt, wird in eigene Dichtung umgesetzt: die wechselseitige Durchdringung von "Objectivem" und "Subjectivem" wird artifiziell manipuliert. Im Bereich des "Subjectiven" kommt das lyrische Ich im Gegenüber zur Natur zu einer sinnlos-banalen Handlung, mit der es sich seiner subjektiven Erfahrung vergewissern will, im Bereich des "Objectiven" wird die Natur im Gegenüber zum lyrischen Ich ihrer realen Erscheinung entkleidet und auf den Begriff "Bild" reduziert." (1)

Das angeschauten Naturbilder und die abzubildenden inneren Vorgänge des lyrischen Ichs durchdringen sich also wechselseitig.

Wolfgang Popp erkennt im Verlauf des Zyklus verschiedene Reflektionsstufen des lyrischen Ichs, die auch in der sich verändernden Wahrnehmung der Natur zu erkennen sind. Haben die Naturbilder in den ersten Gedichten auch durch das rückerinnernde Sprechen noch einen realen Bezug, ist in den folgenden eine immer stärkere Abwendung des lyrischen Ichs von der Wirklichkeit zu beobachten. Die Naturbilder gewinnen dann in steigendem Maß Bedeutung als Symbole des Todes. In den letzten Gedichten des Zyklus äußert sich die Verzweiflung und Fremdheit des lyrischen Ichs in übernatürlichen und außernatürlichen Bildern. So ist etwa in den "Nebensonnen" der Bezug zur Wirklichkeit nicht mehr erkennbar.

Die umgebende Natur gewinnt so für Müllers Wanderer zunehmend symbolische Bedeutung und wird zum Spiegel der inneren Vorgänge des lyrischen Ichs. Wilhelm Müllers "Winterreise" kann so als Reise in die Tiefe der Seele gelesen werden.

Diese Aufhebung der Grenzen zwischen Außenwelt und Bewusstsein ist nun im Grunde genommen nichts Neues für die Romantik. Für Müllers Wanderer ist die Natur jedoch nicht transparent für eine höhere Wahrheit, er sieht in der Natur nur sein eigenes Herz. In der "Der stürmische Morgen" wird dies besonders deutlich:

Mein Herz sieht an dem Himmel
Gemalt sein eignes Bild -
Es ist nichts als der Winter,
Der Winter kalt und wild!  

  

 

Poetologische Anschauungen und Denkweisen Müllers

Nach Wolfgang Popp bietet vor allem Müllers Aufsatz "Über die neueste lyrische Poesie der Deutschen. Ludwig Uhland und Justinus Kerner" Einblicke in die poetologischen Anschauungen und Denkweisen Müllers. Bei Uhlands Dichtung interessiert Müller in erster Linie die Frage, wie die von Uhland angeschaute Welt lyrisch erfasst wird. Müller unterscheidet dabei zwischen dem "Gefühl" und dem "Gemüt", das das Stehende und Dauernde in dem Wechsel der Empfindungen sei.  "Gemüt" ist nach Müller eine distanzierte Haltung des Dichters gegenüber der angeschauten Welt.

"Die Lösung des Verhältnisses zwischen den "objectiven Gebilden" der Welt , die der  Dichter anschaut und abbilden will, und dem sie aufnehmenden "Gemüth" liegt in einer Wechselwirkung, in der das "Subjective" die Gestalten, die es trägt, durchleuchtend und wiederscheinend färbt, das "Objective aber die Grundfarbe des Subjectivem" bedingt."(2)

Müller problematisiert nach Popp also die grundsätzliche Position des Dichters zwischen "Objectivem" und "Subjectivem", zwischen Natur und Gemüt, zwischen der Welt und des Ichs. Besonders aufschlussreich charakterisiert Müller das distanzierte Verhältnis zwischen Gemüt und angeschauter Natur am Beispiel der Dichtung Kerners.

"Die Natur ist eine Hieroglyphenschrift von Blumen und Sternen, aus welcher sie sich und ihre Sehnsucht herauslesen möchte, und die Stimme des Waldes und der Lüfte sind ihr Vorklänge und Nachhalle dessen, was in ihrem eigenen Inneren nach Tönen ringt."(3)

Müller interessiert demnach nicht, was der Dichter anschaut und abbildet, sondern wie er anschaut und abbildet.

 

Die Nebensonnen

Drei Sonnen sah ich am Himmel stehn, 
Hab lang und fest sie angesehn;
Und sie standen da so stier,   
Als könnten sie nicht weg von mir.
Ach, meine Sonnen seid ihr nicht!
Schaut andren doch ins Angesicht 
Ja, neulich hatt ich auch wohl drei:
Nun sind hinab die besten zwei.    
Ging` nur die dritt` erst hinterdrein!
Im Dunkel wird mir wohler sein. 

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(1) Popp, Wolfgang:  Die Dichtung Wilhelm Müllers. Ein Beitrag zum Problem sekundärer dichterischer Erscheinungen in der Literaturgeschichte. Konstanz 1967.S. 100.

(2) Popp, S.91.

(3) Popp, S. 92
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Sarah Klumpp und Anna Falkenberg: Musik über Worte. 22.02.2003.

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