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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Der Künstler als Genie

Mit Herder und Kant teilt Wackenroder die Vorstellung vom Genie als angeborene Gemütsgrundlage und von Gott erhaltenen Gabe: der Genius des Künstlers liegt in der Seele versteckt und verborgen, die Kunstbegeisterung kommt aus dem innersten der Seele. Synonym zum Begriff Geist verwendet er den Begriff Genius. Er differenziert zwischen dem forschenden Geist der Wissenschaften und dem bildenden Geist der Kunst; daran ist zu erkennen, dass Geist sowohl im Gefühl aus auch in der Kunst zu finden ist. Als besonderen Merkmal seiner Künstlergenies, wie Raffael oder Dürer, führt Wackenroder wiederholt Enthusiasmus und Inspiration an. Das Genie zeichnet sich durch folgende noch genauer zu erläuternde Begriffe aus: Empfindung, Gefühl, Herz, Gemüt, Seele und Geist.  (vgl. Köhler, S. 126 ff.)

 

Bedeutung Dürers und Mittelalterrezeption

In den Herzensergießungen erscheint das Kapitel „Ehrengedächtnis unseres ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers“ als das Herzstück; der Text wurde häufig publiziert und es wird auch davon gesprochen, dass hierin eine Programmschrift für die romantische Kunstbetrachtung gesehen werden kann.

Dürer ist für Wackenroder Vertreter des unbeholfenen altdeutschen Wesens in Leben und Werk. Nürnberg, die Stadt in der der Künstler lebte, wird als Stadt der „goldenen Zeit“ (S. 60 RUB) verherrlicht. Der Künstler entspricht dem Wertesystem, das Wackenroder in der Gegenwart vermisst. Das Leben im Mittelalter bedeutet für ihn: innige Beziehung zum Geistigen; durch den starken Glauben führen die Menschen eine kräftige, wahre Sprache und Dürer „hatte daran seine Lust, uns die Menschen zu zeigen, wie sie um ihn herum wirklich waren“. (RUB S. 57) Er steht stellvertretend für das Mittelalter, denn „aus seinem Geist spricht die Kunstweisheit und Erfahrung der vergangenen Zeiten.“ Dürer besitzt zwar weniger Fähigkeiten als zeitgenössische Maler Wackenroders, dafür besitzt seine Malerei „die eigentliche innere Seele der Kunst.“ (RUB S. 55) Dürers künstlerisches Tätigkeit wird aufgrund ihrer sozialen Bedeutung gelobt (Dürer lebte im Familienbund): Kunst und Leben bilden so bei ihm eine Einheit. Im Gegensatz zu Joseph Berglinger, der Kunst und Leben nicht zu vereinen mag. 

Die Genialität eines Künstlers lässt sich nicht erlernen. Er wird nur dann vollkommen, wenn er die ihn umgebende Welt beobachtet, wie Albrecht Dürer es getan hat. Eigenschaften, die Wackenroder an Raffael und an Dürer lobt: Beide malen mit viel Gefühl, aber auch mit erhabener Ruhe. Wackenroder setzt gleiche Kriterien für die italienische Renaissance, wie auch für die Kunst des deutschen Mittelalters an. Somit verliert die Antike an Vorbildposition, diese geht über auf das Mittelalter. Das von Wackenroder vermittelte Dürer-Bild wird vom Künstlerbund der Nazarener übernommen.

 

Ehrengedächtnis unseres ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers von einem kunstliebenden Klosterbruder

Nürnberg! du vormals weltberühmte Stadt! Wie gerne durchwanderte ich deine krummen Gassen; mit welcher kindlichen Liebe betrachtete ich deine altväterischen Häuser und Kirchen, denen die feste Spur von unsrer alten vaterländischen Kunst eingedrückt ist! Wie innig lieb ich die Bildungen jener Zeit, die eine so derbe, kräftige und wahre Sprache führen! Wie ziehen sie mich zurück in jenes graue Jahrhundert, da du, Nürnberg, die lebendigwimmelnde Schule der vaterländischen Kunst warst, und ein recht fruchtbarer, überfließender Kunstgeist in deinen Mauern lebte und webte: - da Meister Hans Sachs und Adam Kraft, der Bildhauer, und vor allen, Albrecht Dürer, mit seinem Freunde, Wilibaldus Pirkheimer, und so viel andre hochgelobte Ehrenmänner noch lebten! Wie oft hab ich mich in jene Zeit zurückgewünscht! Wie oft ist sie in meinen Gedanken wieder von neuem vor mir hervorgegangen, wenn ich in deinen ehrwürdigen Büchersälen, Nürnberg, in einem engen Winkel, beim Dämmerlicht der kleinen, rundscheibigen Fenster saß, und über den Folianten des wackern Hans Sachs, oder über anderem alten, gelben, wurmgefressenen Papier brütete; - oder wenn ich unter den kühnen Gewölben deiner düstern Kirchen wandelte, wo der Tag durch buntbemalte Fenster all das Bildwerk und die Malereien der alten Zeit wunderbar beleuchtet! --

Ihr wundert euch wieder, und sehet mich an, ihr Engherzigen und Kleingläubigen! O ich kenne sie ja, die Myrtenwälder Italiens, - ich kenne sie ja, die himmlische Glut in den begeisterten Männern des beglückten Südens: - was ruft ihr mich hin, wo immer Gedanken meiner Seele wohnen, wo die Heimat der schönsten Stunden meines Lebens ist! - ihr, die ihr überall Grenzen sehet, wo keine sind! Liegt Rom und Deutschland nicht auf einer Erde? Hat der himmlische Vater nicht Wege von Norden nach Süden, wie von Westen nach Osten über den Erdkreis geführt? Ist ein Menschenleben zu kurz? Sind die Alpen unübersteiglich? - Nun, so muß auch mehr als eine Liebe in der Brust des Menschen wohnen können. – -

Aber jetzt wandelt mein traurender Geist auf der geweiheten Stätte vor deinen Mauern, Nürnberg; auf dem Gottesacker, wo die Gebeine Albrecht Dürers ruhen, der einst die Zierde von Deutschland, ja von Europa war. Sie ruhen, von wenigen besucht, unter zahllosen Grabsteinen, deren jeder mit einem ehernen Bildwerk, als dem Gepräge der alten Kunst bezeichnet ist, und zwischen denen sich hohe Sonnenblumen in Menge erheben, welche den Gottesacker zu einem lieblichen Garten machen. So ruhen die vergessenen Gebeine unsers alten Albrecht Dürers, um dessentwillen es mir lieb ist, daß ich ein Deutscher bin.

Wenigen muß es gegeben sein, die Seele in deinen Bildern so zu verstehen, und das Eigne und Besondere darin mit solcher Innigkeit zu genießen, als der Himmel es mir vor vielen andern vergönnt zu haben scheinet; denn ich sehe mich um, und finde wenige, die mit so herzlicher Liebe, mit solcher Verehrung vor dir verweilten, als ich.

Ist es nicht, als wenn die Figuren in diesen deinen Bildern wirkliche Menschen wären, welche zusammen redeten? Ein jeglicher ist so eigentümlich gestempelt, daß man ihn aus einem großen Haufen herauskennen würde; ein jeglicher so aus der Mitte der Natur genommen, daß er ganz und gar seinen Zweck erfüllt. Keiner ist mit halber Seele da, wie man es öfters bei sehr zierlichen Bildern neuerer Meister sagen möchte; jeder ist im vollen Leben ergriffen, und so auf die Tafel hingestellt. Wer klagen soll, klagt; wer zürnen soll, zürnt; und wer beten soll, betet. Alle Figuren reden, und reden laut und vernehmlich. Kein Arm bewegt sich unnütz, oder bloß zum Augenspiel und zur Füllung des Raums; alle Glieder, alles spricht uns gleichsam mit Macht an, daß wir den Sinn und die Seele des Ganzen recht fest im Gemüte fassen. Wir glauben alles, was der kunstreiche Mann uns darstellt; und es verwischt sich nie aus unserm Gedächtnis.

Wie ists, daß mir die heutigen Künstler unsers Vaterlands so anders erscheinen, als jene preiswürdigen Männer der alten Zeit, und du vornehmlich, mein geliebter Dürer? Wie ists, daß es mir vorkommt, als wenn ihr alle die Malerkunst weit ernsthafter, wichtiger und würdiger gehandhabt hättet als diese zierlichen Künstler unsrer Tage? Mich dünkt, ich sehe euch, wie ihr nachdenkend vor eurem angefangenen Bilde stehet, - wie die Vorstellung, die ihr sichtbar machen wollt, ganz lebendig eurer Seele vorschwebt, - wie ihr bedächtlich überlegt, welche Mienen und welche Stellungen den Zuschauer wohl am stärksten und sichersten ergreifen, und seine Seele beim Ansehen am mächtig- sten bewegen möchten, - und wie ihr dann, mit inniger Teilnahme und freundlichem Ernst, die eurer lebendigen Einbildung befreundeten Wesen, auf die Tafel treu und langsam auftraget- - Aber die Neueren scheinen gar nicht zu wollen, daß man ernsthaft dem was sie uns vorstellen, teilnehmen solle; sie arbeiten vornehme Herren, welche von der Kunst nicht gerührt und veredelt, sondern aufs höchste geblendet und gekitzelt sein wollen; sie bestreben sich, ihr Gemälde zu einem Probestück von im vielen lieblichen und täuschenden Farben zu machen; sie prüfen ihren Witz in Ausstreuung des Lichtes und Schattens; - aber Menschenfiguren. scheinen öfters bloß um der Farben und des Lichtes willen, wahrlich ich möchte sagen, als ein notwendiges Übel im Bilde zu stehen.

Wehe muß ich rufen über unser Zeitalter, daß es die Kunst so bloß als ein leichtsinniges Spielwerk der Sinne übt, da säe doch wahrlich etwas sehr Ernsthaftes und Erhabenes ist. Achtet m den Menschen nicht mehr, daß man ihn in der Kunst vernachlässigt und artige Farben und allerhand Künstlichkeit mit Lichtern der Betrachtung würdiger findet? -

In den Schriften des von unserm Albrecht sehr hochgeschätzt und verteidigten Martin Luthers, worin ich, wie ich nicht ungern gestehe, einiges aus Wißbegier wohl gelesen habe, und in welchen viel Gutes verborgen sein mag, habe ich über die Wichtigkeit der Kunst eine merkwürdige Stelle gefunden, die mir jetzt lebhaft ins Gemüt kommt. Denn es behauptet dieser Mann irgendwo ganz dreist und ausdrücklich: daß nächst der Theologie, unter allen Wissenschaften und Künsten des menschlichen Geistes, die Musik den ersten Platz einnehme. Und ich muß offenherzig bekennen, daß dieser kühne Ausspruch meine Blicke sehr auf den ausgezeichneten Mann hingerichtet hat. Denn die Se aus welcher ein solcher Ausspruch kommen konnte, mußte die Kunst grade diejenige tiefe Verehrung empfinden, welche ich nicht woher, in so wenigen Gemütern wohnt, und welche nach meinem Bedünken, doch so sehr natürlich und so bedeutend ist.

Wenn nun die Kunst (ich meine, ihr Haupt- und wesentlicher Teil) wirklich von solcher Wichtigkeit ist; so ist es sehr unwürdig und leichtsinnig, sich von den sprechenden und lehrreichen Menschenfiguren unsere alten Albrecht Dürers hinwegzuwenden den, weil sie nicht mit der gleißenden äußeren Schönheit welche die heutige Welt für das Einzige und Höchste in der Kunst hält, ausgestattet sind. Es verrät nicht ein ganz gesundes und reines Gemüt, wenn sich jemand vor einer geistlichen Betrachtung, welche an sich triftig und eindringend ist, die Ohren zuhält, weil der Redner seine Worte nicht in zierlicher Ordnung stellet, oder weil er eine üble, fremde Aussprache, oder ein schlechtes Spiel mit Händen an sich hat. Hindern mich aber dergleichen Gedanken, diese äußere, und sozusagen bloß körperliche Schönheit der Kunst, wo ich sie finde, nach Verdienst zu schätzen und zu bewundern?

Auch wird dir das, mein geliebter Albrecht Dürer, als ein grober Verstoß angerechnet, daß du deine Menschenfiguren nur so bequem nebeneinander hinstellst, ohne sie künstlich durcheinander zu verschränken, daß sie ein methodisches Gruppo bilden. Ich liebe dich in dieser deiner unbefangenen Einfalt und hefte mein Auge unwillkürlich zuerst auf die Seele und tiefe Bedeutung deiner Menschen, ohne daß mir dergleichen Tadelsucht nur in den Sinn kommt. Viele Personen aber scheinen von derselben, wie von einem bösen, quälenden Geiste, so geplagt, daß sie dadurch zu verachten und zu verhöhnen angereizt werden, ehe sie ruhig betrachten können - und am allerwenigsten über die Schranken der Gegenwart sich in die Vorzeit hinüberzusetzen vermögen. Gern will ich euch zugeben, ihr eifrigen Neulinge, daß ein junger Schüler jetzt klüger und gelehrter von Farben, Licht und Zusammenfügung der Figuren reden mag, als der alte Dürer es verstand; spricht aber sein eigener Geist aus dem Knaben, oder nicht vielmehr die Kunstweisheit und Erfahrung der vergangenen Zeiten? Die eigentliche, innere Seele der Kunst fassen nur einzelne auserwählte Geister auf einmal, mag auch schon die Führung des Pinsels noch sehr mangelhaft sein; alle die Außenwerke der Kunst hingegen werden nach und nach, durch Erfindung, Übung und Nachdenken zur Vollkommenheit gebracht. Es ist aber eine schnöde und betrauernswerte Eitelkeit, die das Verdienst der Zeiten ihrem eigenen schwachen Haupte zur Krone aufsetzt und ihre Nichtigkeit unter erborgtem Glanze verstecken will. Hinweg, ihr weisen Knaben, von dem alten Künstler von Nürnberg! - und daß keiner verspottend ihn zu richten sich vermesse, der noch kindisch darüber naserümpfen kann, daß er nicht Tizian und Correggio zu Lehrmeistern hatte, oder daß man zu seiner Zeit so seltsam altfränkische Kleidung trug!

Denn auch um deswillen wollen die heutigen Lehrer ihn, so wie manchen andern. guten Maler seines Jahrhunderts, nicht schön und edel nennen weil sie die Geschichte aller Völker und wohl selbst die geistlichen Historien. unserer Religion in die Tracht ihrer Zeiten kleiden. Allein ich denke dabei, wie doch ein jeder Künstler, der die Wesen vergangener Jahrhunderte durch seine Brust gehen läßt, sie mit dem Geist und Atem seines Alters beleben muß; und wie es doch billig und natürlich ist, daß die Schöpfungskraft des Menschen alles Fremde und Entfernte, und also auch selbst die himmlischen Wesen, sich liebend nahebringt und in die wohlbekannten und geliebten Formen seiner Welt und seines Gesichtskreises hüllt.

Als Albrecht den Pinsel führte, da war der Deutsche auf dem Völkerschauplatz unsers Weltteils noch ein eigentümlicher und ausgezeichneter Charakter von festem Bestand; und seinen Bildern ist nicht nur in Gesichtsbildung und im ganzen Äußeren, sondern auch im inneren Geiste, dieses ernsthafte, gerade und kräftige Wesen des deutschen Charakters treu und deutlich eingeprägt. In unsern Zeiten ist dieser festbestimmte deutsche Charakter, und ebenso die deutsche Kunst, verloren gegangen. Der junge Deutsche lernt die Sprachen aller Völker Europas und soll prüfend und richtend aus dem Geiste aller Nationen Nahrung ziehen; - und der Schüler der Kunst wird belehrt, wie er den Ausdruck Raffaels, und die Farben der venezianischen Schule, und die Wahrheit der Niederländer, und das Zauberlicht des Correggio, alles zusammen nachahmen, und auf diesem Wege zur alles übertreffenden Vollkommenheit gelangen solle. - O traurige Afterweisheit! 0 blinder Glaube des Zeitalters, daß man jede Art der Schönheit, und jedes Vorzügliche aller großen Künstler der Erde, zusammensetzen, und durch das Betrachten aller, und das Erbetteln von ihren mannigfachen großen Gaben, ihrer aller Geist in sich vereinigen, und sie alle besiegen könne! - Die Periode der eigenen Kraft ist vorüber; man will durch ärmliches Nachahmen und klügelndes Zusammensetzen das versagende Talent erzwingen, und kalte, geleckte, charakterlose Werke sind die Frucht. Die deutsche Kunst war ein frommer Jüngling in den Ringmauern einer kleinen Stadt unter Blutsfreunden häuslich erzogen; nun sie älter ist, ist sie zum allgemeinen Weltmanne geworden, der mit den kleinstädtischen Sitten zugleich sein Gefühl und sein eigentümliches Gepräge von der Seele weggewischt hat.

Ich möchte um alles nicht, daß der zauberhafte Correggio, oder der prächtige Paolo Veronese, oder der gewaltige Buonarroti ebenso gemalt hätten als Raffael. Und eben auch stimme ich keinesweges in die Redensarten derer mit ein, welche sprechen: «Hätte Albrecht Dürer nur in Rom eine Zeitlang gehauset, und die echte Schönheit und das Idealische vom Raffael abgelernt, so wäre er ein großer Maler geworden; man muß ihn bedauern, und sich nur wundern, wie er es in seiner Lage noch so weit gebracht hat. » Ich finde hier nichts zu bedauern, sondern freue mich, daß das Schicksal dem deutschen Boden an diesem Manne einen echt-vaterländi5chen Maler gegönnt hat. Er würde nicht er selber geblieben sein; sein Blut war kein italienisches Blut. Er war für das Idealische und die erhabene Hoheit eines Raffaels nicht geboren; er hatte daran seine Lust, uns die Menschen zu zeigen, wie sie um ihn herum wirklich waren, und es ist ihm gar trefflich gelungen.

Dennoch aber fiel es mir, als ich in meinen jüngern Jahren die ersten Gemälde vom Raffael sowohl als von dir, mein geliebter Dürer, in einer herrlichen Bildergalerie sah, wunderbar in den Sinn, wie unter allen andern Malern, die ich kannte, diese beiden eine ganz besonders nahe Verwandtschaft zu meinem Herzen hätten. Bei beiden gefiel es mir so sehr, daß sie so einfach und grade, ohne die zierlichen Umschweife anderer Maler, uns die Menschheit in voller Seele so klar und deutlich vor Augen stellen. Allein ich getraute mich damals nicht, meine Meinung jemandem zu entdecken, weil ich glaubte, daß jeder mich verlachen würde, und wohl wußte, daß die mehresten in dem alten deutschen Maler nichts als etwas sehr Steifes und Trockenes erkennen. Ich war indes an dem Tage, da ich jene Bildergalerie gesehen hatte, so voll von diesem neuen Gedanken, daß ich damit einschlief, und mir in der Nacht ein entzückendes Traumgesicht vorkam, welches mich noch fester in meinem Glauben bestärkte. Es dünkte mich nämlich, als wenn ich, nach Mitternacht, von dem Gemach des Schlosses, worin ich schlief, durch die dunklen Säle des Gebäudes, ganz allein mit einer Fackel nach der Bildergalerie zuginge. Als ich an die Tür kam, hörte ich drinnen ein leises Gemurmel; - ich öffnete sie, - und plötzlich fuhr ich zurück, denn der ganze große Saal war von einem seltsamen Lichte erleuchtet, und vor mehreren Gemälden standen ihre ehrwürdigen Meister in leibhafter Gestalt da, und in ihrer alten Tracht, wie ich sie in Bildnissen gesehen hatte. Einer von ihnen, den ich nicht kannte, sagte mir, daß sie manche Nacht vom Himmel herunterstiegen, und hier und dort auf Erden in Bildersälen bei der nächtlichen Stille umherwankten, und die noch immer geliebten Werke ihrer Hand betrachteten. Viele italienische Maler erkannt ich; von Niederländern sah ich sehr wenige. Ehrfurchtsvoll ging ich zwischen ihnen durch; - und siehe! da standen, abgesondert von allen, Raffael und Albrecht Dürer Hand in Hand leibhaftig vor meinen Augen und sahen in freundlicher Ruhe schweigend ihre beisammen-hängenden Gemälde an. Den göttlichen Raffael anzureden hatte ich nicht den Mut; eine heimliche ehrerbietige Furcht verschloß mir die Lippen. Aber meinen Albrecht wollte ich soeben begrüßen, und meine Liebe vor ihm ausschütten; - allein in dem Augenblick verwirrte sich mit einem Getöse alles vor meinen Augen, und ich erwachte mit heftiger Bewegung.

Dieses Traumgesicht hatte meinem Gemüt innige Freude gemacht, und diese ward noch vollkommener, als ich bald nachher in dem alten Vasari las, wie die beiden herrlichen Künstler auch bei ihren Lebzeiten wirklich, ohne sich zu kennen, durch ihre Werke, Freunde gewesen, und wie die redlichen und treuen Arbeiten des alten Deutschen vom Raffael mit Wohlgefallen angesehen wären, und er sie seiner Liebe nicht unwert geachtet hätte.

Das aber kann ich freilich nicht verschweigen, daß mir nachher bei den Werken der beiden Maler immer so wie in jenem Traum zumute war, daß ich nämlich bei denen des Albrecht Dürer wohl manchmal mich daran versuchte, ihr echtes Verdienst jemandem zu erklären, und über ihre Vortrefflichkeiten mich in Worte auszubreiten wagte; bei den Werken Raffaels aber immer von der himmlischen Schönheit so überfüllt und bedrängt ward, daß ich nicht wohl darüber reden noch jemandem deutlich auseinandersetzen konnte, woraus mir überall das Göttliche hervorleuchte.

Aber ich will jetzt meine Blicke von dir nicht abwenden, mein Albrecht. Vergleichung ist ein gefährlicher Feind des Genusses; auch die höchste Schönheit der Kunst übt nur darin, wie sie soll, ihre volle Gewalt an uns aus, wenn unser Auge nicht zugleich seitwärts auf andere Schönheit blickt. Der Himmel hat seine Gaben unter die großen Künstler der Erde so verteilet, daß wir durchaus genötiget werden, vor einem jeglichen stille zu stehen und jeglichem seinen Anteil unserer Verehrung zu opfern.

Nicht bloß unter italienischem Himmel, unter majestätischen Kuppeln und korinthischen Säulen - auch unter Spitzgewölben, kraus verzierten Gebäuden und gotischen Türmen wächst wahre Kunst hervor.

Friede sei mit deinen Gebeinen, mein Albrecht Dürer! und möchtest du wissen, wie ich dich liebhabe, und hören, wie ich unter der heutigen, dir fremden Welt der Herold deines Namens bin. - Gesegnet sei mir deine goldene Zeit, Nürnberg! die einzige Zeit, da Deutschland eine eigene vaterländische Kunst zu haben sich rühmen konnte. - Aber die schönen Zeitalter ziehen über die Erde hinweg und verschwinden, wie glänzende Wolken über das Gewölbe des Himmels wegziehn Sie sind vorüber, und ihrer wird nicht gedacht; nur wenige rufen sie aus innerer Liebe in ihr Gemüt zurück, aus bestäubten Büchern und bleibenden Werken der Kunst.

 

 

Bedeutung Raffaels und der italienischen Renaissance

Wackenroder Kunstansicht der italienischen Renaissance lässt sich an drei Merkmalen charakterisieren:

1. Wackenroders Kunsttexte sind keine konkreten Gemäldeschilderungen, vielmehr versucht er eine neue Kunstanschauung zu etablieren. Seine Kunsttheorie ist primär textgestützt. Seine Hauptquelle ist Vasari. Allein auf einer schriftlichen Quelle basierend, erfährt der Klosterbruder wie Raffael seine Bilder empfand:

" So ist der Inhalt des unschätzbaren Blattes, welches in meine Hände fiel. Wird man nun deutlich vor Augen sehen, was der göttliche Raffael unter den merkwürdigen Worten versteht, wenn er sagt:

" Ich halte mich an ein gewisses Bild im Geiste, welches in meine Seele kommt."" (RUB S. 11)

2. Während für die Künstler in der Renaissance Qualitäten wie Fleiß, kluges Urteil und handwerkliches Können unerlässlich waren, geht Wackenroder davon aus, dass das Kunstgenie diese Ebene des Lernens, Wissens und Handwerkens überschreitet und somit das ganze Wesen der Kunst mit einem ganz neuen Auge durchblickt. Somit stellt er die Kunst mit der Höchstform menschlicher Vollendung gleich.

3. Mit dem Motiv des Göttlichen greift Wackenroder auf Topoi der Renaissancekunst selbst zurück. Im Kapitel "Raffaels Erscheinung" führt der Autor das Geheimnis der Schönheit der Raffaelschen Madonnen auf einen Traum und eine visionäre Sicht zurück, die der Künstler hatte, und die seitdem all seinen Madonnendarstellungen zugrunde läge.

"Einst, in der Nacht, da er, wie es ihm schon oft geschehen sei, im Traume zur Jungfrau gebetet habe, sei er, heftig bedrängt, auf einmal aus dem Schlafe aufgefahren. In der finsteren Nacht sei sein Auge von einem hellen Schein an der Wand [...] angezogen worden, und da er recht zugesehen, so sei er gewahr geworden, dass sein Bild der Madonna [...] an der Wand gehangen, von dem mildesten Lichtstrahle und ein ganz volllkommenes und wirklich lebendiges Bild geworden sei. Die Göttlichkeit in diesem Bilde habe ihn so sehr überwältigt, dass er in helle Tränen ausgebrochen sei." (RUB S. 10)
 

Michelangelo Buonarotti (1475 - 1564)


"Die Seele des Michelangelo (ergriff) immer mit Macht das Außerordentliche und Ungeheure und drückte in seinen Figuren eine angespannte, übermenschliche Kraft aus. Er versuchte sich gern an erhabenen Gegenständen; er wagte in seinen Bildern die kühnsten und wildesten Stellungen und Gebärden; er drängte Muskeln auf Muskeln und wollte in jede Nerve seiner Figuren die hohe poetische Kraft stempeln, wovon er erfüllt war." (HE, S. 78)

Michelangelo gilt Vielen als der Vollender der Renaissance, in dessen Person und Schaffen sich Größe und Tragik dieser Epoche wie in keinem anderen zeigen. Seine Kunst auf den Gebieten der Malerei, Bildhauerei und Architektur bildet ein einheitliches Werk in dessen Zentrum die schöpferische menschliche Gestalt mit ihrer Kraft und ihrem Leiden steht. Das künstlerische Schaffen ist für Michelangelo Mittel zur Selbst- und Welterkenntnis des Menschen und wird ihm zu einer Art Universal-Religion.
 

Michelangelo Buoarotti, Sohn einer Bürgerfamilie in Caprese bei Arezzo besuchte die Werkstatt Ghirlandaios in Florenz, wechselte aber schnell zu Bertoldo di Giovanni, der ihn in den Kreis der Medici einführte. Nach dem Sturz der Medici arbeitet er in Bologna, Florenz und Rom. In Florenz suchte er die Auseinandersetzung mit da Vinci.
 

Michelangelo glaubte vor allem in der Bildhauerei seine Vorstellung vom Menschen als dem Mittelpunkt der göttlichen Schöpfung verwirklichen zu können. Der Körper ist für ihn primär Masse und Volumen, das dem widerständigen Material abgerungen werden muss; diese Auffassung übertrug er auch auf die Malerei.
 

In seinem berühmtesten Werk, der Sixtinischen Kapelle, zeigt er die Schöpfungsgeschichte, wie er sie versteht: Im Zentrum steht der zu eigener Tat- und Schöpferkraft befreite Mensch - das Renaissanceideal in seiner höchsten Vollendung. In seiner Erschaffungsszene treffen zwei mächtige Energien aufeinander: Gott als wirkende Kraft und der Mensch, der noch in sich ruht. Es fehlt nur der Funke, der von Finger zu Finger überspringt und dem Menschen seine Tatkraft verleiht

 

 

Wackenroders Kunsterlebnis

Wackenroder hat die Originale von Raffael nie gesehen. Sein größtes Kunsterlebnis war in Pommerfelden, als er ein Madonnenbild von Joos van Cleve sah, das damals noch für ein Gemälde Raffaels gehalten wurde.

 

Wackenroders Sprache zur Visualisierung von Bildeindrücken

Am Beispiel der Schilderung der Gemälde Leonardo da Vincis im Kapitel "Das Muster eines kunstreichen und dabei tief gelehrte Malers, vorgestellt in dem Leben des Leonardo da Vinci, berühmten Stammvaters der florentinischen Schule" (S. 37ff.)

Das heilige Abendmahl:

Die Figuren werden auf lebendige Art und Weise beschrieben: "der seelenvolle Ausdruck in den Köpfen der Jünger Christi, wie jeder den Herrn zu fragen scheinet: Herr! bin ich's?"                                                              

Wackenroder erweckt die Figuren durch direkte Rede zum Leben. Des Weiteren erzählt er eine Anekdote aus dem Schaffensprozess da Vincis an dem Werk, wodurch die Bedeutung der Figur des Judas betont wird.   

 

Die Mona Lisa:

Auch hier beschreibt Wackenroder, unter welchen Umständen das Bild gemalt wurde. "Sooft nun die edle Frau ihm (=da Vinci) zum Malen saß, rief er allemal einige Personen herzu, die sie durch eine angenehme und muntre Musik auf Instrumenten, mit der menschlichen Stimme begleitet, aufheitern musste. [...]Dagegen kannte er die die Wirkung einer fröhlichen Musik, wie sie sich in den Mienen des Gesichts abspiegelt, wie sie alle Züge auf löst und in ein liebliches reges Spiel setzt." Die Vorstellung von der Hintergrundmusik erweckt im Leser einen ganz neuen Eindruck bei der imaginären Bildbetrachtung.

Im Kapitel "Zwei Gemäldeschilderungen" schreibt der Klosterbruder: "Ein schönes Gemälde ist, meinem Sinne nach, eigentlich gar nicht zu beschreiben; denn in in dem Augenblicke, da man mehr als ein einziges Wort darüber sagt, fliegt die Einbildung von der Tafel weg und gaukelt für sich allein in den Lüften." Wackenroder lässt den Klosterbruder jedoch eine "Methode" entwickeln, mit der er versucht Bilder zu Verbalisieren: Er lässt die Figuren in den Bildern zu Wort kommen, lässt sie in direkter Rede ihre vermeintlichen Gedanken und Gefühle rezitieren.

 

Die heilige Jungfrau mit dem Jesuskinde (Maria della Sedia)

Wenn Text und Bildausschnitte zusammen betrachtet werden, wird die Beschreibungstechnik Wackenroders greifbarer. 

 

 

Maria della Sedia - ein Bild wird verbal zerlegt:

Hier sollen die einzelnen Textabschnitte der Gemäldeschilderungen mit den Bildausschnitten verbunden werden:

RUB, S. 42 f.:

Maria:

Warum bin ich doch so überselig
Und zum allerhöchsten Glück erlesen, 
Das die Erde jemals tragen mag?
Ich verzage bei dem großen Glücke, 
Und ich weiß nicht Dank dafür zu sagen,
Nicht mit Tränen, nicht mit lauter Freude.
Nur mit Lächeln und mit tiefer Wehmut
Kann ich auf dem Götterkinde ruhen,
Und mein Blick vermag es nicht, zum Himmel
Und zum güt’ gen Vater aufzusteigen. 
Nimmer werden meine Augen müde,
Dieses Kind, das mir im Schoße spielet,
Anzusehen mit tiefer Herzensfreude.
Ach! Und welche Fremde, große Dinge, 
Die das unschuldvolle Kind nicht ahndet,
Leuchten aus den klugen blauen Augen
Und aus all den kleinen Gaukeleien!
Ach! Ich weiß nicht, was ich sagen soll!
Dünkt mich’ s doch, ich sei nicht mehr auf dieser Erde,
Wenn ich in mir recht lebendig denke:
Ich, ich bin die Mutter dieses Kindes.

 

Das Jesuskind:

Hübsch und bunt ist die Welt um mich her!
Doch ist’ s mir nicht wie den andern Kindern,
doch kann ich nicht recht spielen, 
nichts fest angreifen mit der Hand,           
Nicht laut jauchzend frohlocken.              
Was sich lebendig,                                   
Vor meinen Augen regt und bewegt,       
Kommt mir vor wie vorbeigehend Schattenbild
Und artiges Blendwerk.                           
Aber innerlich bin ich froh                         
Und denke mir innerlich schönere Sachen   
Die ich nicht sagen kann.

 

Der kleine Johannes:

Ach! Wie bet ich es an, das Jesuskindlein!
Ach wie lieblich und voller Unschuld      
Gaukelt es in der Mutter Schoß! –         
Lieber Gott im Himmel, wie bet ich heimlich zu Dir,                                                         
Und danke Dir,                                          
Und preise Dich um Deine große Gnade,   
Und flehe Deinen Segen herab auch für mich!

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Ursula Hörmann und Claudia Gandlgruber: Wackenroder und Tieck: "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders"- Hierarchie der Künste. 22.02.2003.   

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