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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger"

 

Inhalt der Geschichte

Mit Musik beschäftigt sich Wackenroder in der letzten Geschichte der „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“, die mit „Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger" überschrieben ist.

Joseph Berglinger wächst in einem kunstfeindlichen Umfeld auf, das sich ausschließlich den Anforderungen des Alltags widmet. Sein Vater, nach dem Tod von Josephs Mutter allein für Joseph und  seine fünf Schwestern verantwortlich, hat Mühe, die Familie mit seinem Arzt-Gehalt durchzubringen. Auch Joseph wäre von seinem Vater für den Beruf des Arztes bestimmt gewesen. Doch dieser flieht vor dem Alltag in eine Welt der Phantasie, die er im Anhören von Musik findet. Als Josephs Vater ihn mit aller Gewalt zur ärztlichen Ausbildung zwingen will, flieht dieser in die benachbarte Bischofsstadt zu einem Verwandten, der ihm die Ausbildung zum Musiker ermöglicht. Obwohl Joseph sogar Kappellmeister wird, ist er dennoch nicht glücklich. Das Publikum scheint sich seiner Musik und seinem emotionalen Ausdruck zu verweigern. 

Für Joseph Berglinger ist Musik Gefühl, für sein Publikum  ist Musik ausschließlich ein Medium der gesellschaftlichen Repräsentation und der Unterhaltung. Als Berglinger an sich selbst und seiner Berufung zu zweifeln droht, gelingt ihm endlich doch ein von seinen Hörern akzeptiertes Werk. Die Freude währt allerdings nicht lange, denn er wird an das Sterbebett seines Vaters geholt. Zwar versöhnt sich Joseph noch mit seinem Vater, doch der Schmerz über seine Nutzlosigkeit überwältigt ihn. Denn das Geld, das er seinem Vater gesandt hatte, hatte seine Schwester unterschlagen. So hatte er nicht einmal die Lebensumstände seiner Familie verbessern können. Zudem verzweifelte er an seinen musikalischen Fähigkeiten und der prinzipiellen Kunstfähigkeit der allzu sinnlichen Musik. Doch schließlich komponiert er sein letztes Werk, die Passionsmusik, die „den Weg für alle nachfolgenden fiktiven ‚romantischen’ Künstler bereitet“. [1]

 

Berglingers erstes Musikerlebnis

"Stabat Mater" war das erste geistliche Oratorium, das Joseph Berglinger in seiner Kindheit zu hören bekam. Es hatte einen "vorzüglich tiefen Eindruck auf ihn gemacht" und er sagte sich oft die "so lieblichen und rührenden Worte" dieses Oratoriums vor: 

"Stabat Mater dolorosa
Juxta crucem lacrymosa,
Dum pendebat filius:
Cujus animam gementem,
Contristantem et dolentem
Pertransivit gladius. 

O quam tristis et afflicta
Fuit illa benedicta
Mater unigeniti:
Quae moerebat et dolebat
Et tremebat, cum videbat
Nati poenas inclyti.

Und wie es weiter heißt.“

 

 

Hörbeispiel

Als Hörbeispiel habe ich das "Stabat Mater" von Gioacchino Rossini gewählt. Er lebte auch zur Zeit der Romantik, wenngleich später als Wilhelm Heinrich Wackenroder. Dennoch kann ich mir gut vorstellen, dass das Oratorium, welches bei Berglinger einen so tiefen Eindruck hinterlassen hat, so ähnlich geklungen hat.

Als Verfasser von "Stabat Mater" gilt Jacopone aus Todi in Umbrien (gestorben 1306). Die Sequenzdichtung Jacopones sucht in schwermütigen Terzinen sich in die Leiden der Mutter Christi unter dem Kreuz einzufühlen und diese Leiden fromm  zu betrachten, um aus der Betrachtung Gnade für das eigene Seelenheil zu gewinnen

Seit der Doppelchor-Vertonung Palestrinas hat die Dichtung immer wieder Musiker angezogen. Berühmt wurde die Komposition des Pergolesi, die auch Rossini als Vorbild gedient hat. Rossini reiste 1831 auf Einladung eines vermögenden Bankiers nach Spanien. In Madrid bestellte der adlige Prälat Francisco Varela bei ihm die Komposition eines "Stabat Mater". Rossini hatte zunächst Bedenken, willigte dann aber ein. Er teilte die Dichtung in zehn Abschnitte. Entsprechend der italienischen und französischen Oper weitete er gegenüber Pergolesi den Vokalapparat auf vier Solostimmen und Chor aus.

Eine Krankheit zwang ihn, nach Vollendung der ersten sechs Teile die Komposition abzubrechen und den Bologneser Komponisten Giuseppe Tadolini mit der Fertigstellung der restlichen vier Sätze zu beauftragen. In dieser Form sandte er das Manuskript am 28. März 1832 an den Auftraggeber. Am Karfreitag des folgenden Jahres wurde es in Madrid zum ersten Mal aufgeführt.

Vier Jahre später starb Varela, und seine Erben wollten das Werk veröffentlichen lassen. Rossini ging gerichtlich dagegen vor und komponierte daraufhin auch die letzten vier Sätze selbst um das Werk dann im Druck erscheinen zu lassen. Die Uraufführung dieses von ihm ganz komponierten Werkes fand am 7. Januar 1842 in Paris statt. Das "Stabat Mater" ist neben der "Petite Messe solennelle" die bedeutendste Komposition des späten Rossini.

Alfred Beaujean. Rossinis "Stabat Mater" in der Tradition italienischer Kirchenmusik. In: Inlet zur CD: Rossini. Stabat Mater. Symphonie-Orchester und Chor des Bayerischen Rundfunks, dirigiert von Semyon Bychkov. München 1989: Philips Classics Productions, S.7

 

 

Synästhesien in „Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger“

Für Wackenroder ist das musikalische Erlebnis sinnlich und bildhaft. Beim Hören von Musik verschmelzen bei ihm die Sinne, das Akustische gewinnt synästhetische Dimensionen. Diese Empfindung setzt Wackenroder in der Gestalt des Berglinger um. Häufig, wenn Berglinger Musik hört, erscheinen vor seinem inneren Auge Bilder:

"... die Musik durchdrang seine Nerven mit leisen Schauern und lies, so wie sie wechselte, mannigfache Bilder vor ihm aufsteigen. So kam es ihm bei manchen frohen und herzerhebenden Gesängen zum Lobe Gottes ganz deutlich vor, als wenn er den König David im langen königlichem Mantel, die Krone auf dem Haupt, vor der Bundeslade, lobsingend hertanzen sähe;"[2]

"Bei fröhlichen und entzückenden vollstimmigen Symphonien, die er vorzüglich liebte, kam es ihm gar oftmals vor, als säh' er ein munteres Chor von Jünglingen und Mädchen auf einer heitern Wiese tanzen, wie sie vor- und rückwärts hüpften und wie einzelne Paare zuweilen in Pantomimen zueinander sprachen und sich dann wieder unter den frohen Haufen mischten. Manche Stellen in der Musik waren ihm so klar und eindringlich, daß die Töne ihm Worte zu sein schienen."[3]

"Fast täglich rief er sich mit Wehmut die herrliche Zeit in der bischöflichen Residenz in seinen Gedanken zurück und stellte sich die köstlichen Sachen, die er dort gehört hatte, wieder vor die Seele."[4]

 

Ist Joseph Berglinger ein Dilettant ?

Im ausgehenden 18. Jahrhundert beschäftigten sich zahlreiche Künstler mit dem Problem des Dilettantismus in der Kunst. Auch Goethe und Schiller haben dieses Thema in einer unvollendeten Gemeinschaftsarbeit diskutiert.[5]

Berglingers Musikerleben ist von Anfang an emotional geprägt. Töne bilden für ihn den ausschließlichen Zugang zu seinen Empfindungen und zu seinem Innern.[6] Berglinger ist es nur möglich, zu empfinden, wenn er Musik hört. Wie sehr Musik für Berglinger Empfindung und Genuss ist, zeigt die Häufigkeit der geschilderten Musikerlebnisse. Diesen ganzen Hörerlebnissen steht nur eine einzige Beschreibung eines Kompositionsprozesses gegenüber. Daraus lässt sich schließen, dass Berglingers musikalische Erfahrungen als Hörer wesentlich wichtiger zu sein scheinen als die Erfahrungen als Komponist.[7] Dieses Übergewicht an lustvollen Hörerlebnissen im Vergleich zu schöpferischen Prozessen ist in der zeitgenössischen Diskussion eine Kennzeichnung, die den Dilettant beschreiben.[8] Deshalb folgert Kertz-Welzel, dass Berglingers Künstlerexistenz verdächtig sei.

Karl Philipp Moritz schrieb 1786 in seinem Aufsatz „Über die bildende Nachahmung des Schönen“[9], dass der „falsche Künstler“[10] aufgrund seiner starken Empfindungsfähigkeit dem Irrtum verfällt, das Schaffen von Kunstwerken stelle den Gipfel des Genusses dar. Ein Übergewicht des Fühlens kann für Moritz niemals selbst kreativ werden. Es zerstört mit dem Drang nach einem eigenen Werk vielmehr sich selbst, die eigene Empfindungs- und Genussfähigkeit. Schöpferische Kraft ist keine Folge des Empfindungsvermögens, sondern ein eigenständiges Vermögen.[11]

Hanslick meint dazu sogar, dass „der Laie bei der Musik am meisten und der Künstler am wenigsten empfinde“.[12]

Auch die Figur des Klosterbruders als Erzähler unterstützt die These, dass Berglingers künstlerische Existenz im Verdacht des Dilettantismus steht. In einem Resümee über Berglingers Leben stellt er die Frage: „Soll ich sagen, daß er vielleicht mehr dazu geschaffen war, Kunst zu genießen als auszuüben?“.[13]

Berglinger sehnt sich in seiner Zeit als Künstler zurück nach seinen Musikerfahrungen der Kindheit, als er Musik lediglich genossen hat. Denn der für ihn wichtige Genuss der Musik scheint durch seine eigene schöpferische Tätigkeit als Komponist verloren gegangen zu sein. Für Berglinger gibt es nur noch Leiden und Selbstzweifel. Er leidet unter seiner eigenen Lust an der Kunst und der mangelnden Anerkennung beim Publikum. Denn Anerkennung durch die Zuhörer hätte seine Existenz als produktiver Künstler gerechtfertigt und ihn weg vom Verdacht des Dilettantismus gebracht.

 

Berglingers Musik und das Publikum

Berglinger muss bei seinem Verwandten die Regeln des Komponierens erlernen, auch wenn es ihm schwer fällt: „Es war eine mühselige Mechanik“[14]. Es gelingt Berglinger schließlich sogar, Musik zu komponieren, die dem Hof gefällt, sonst wäre er nicht Kapellmeister geworden. Und eben diese Tatsache, dass Berglinger Kapellmeister einer bischöflichen Residenzstadt geworden ist, lässt Hertrich, behaupten, dass Berglinger mehr als nur ein „dilettantischer Tonsetzer“[15] gewesen sein muss.

Berglinger selbst ist mit seinen Werken jedoch unzufrieden, denn seine Musik besitzt nicht die Wirkung, die er sich wünscht. Der Kapellmeister erwartet von seinen Hörern Reaktionen, die seinen eigenen Gefühlen in der Kindheit ähnlich sind. Er will, dass alle Zuhörer genauso intensiv hören und empfinden wie er selbst. Das Publikum reagiert jedoch ganz anders als Berglinger erwartet hätte. Er schildert seine enttäuschten Erwartungen folgendermaßen:

„Daß ich mir einbilden konnte, diese in Gold und Seide stolzierende Zuhörerschaft käme zusammen, um ein Kunstwerk zu genießen, um ihr Herz zu erwärmen, ihre Empfindung dem Künstler darzubringen! Können doch diese Seelen selbst in dem majestätischen Dom, am heiligsten Feiertage, indem alles Große und Schöne, was Kunst und Religion nur hat, mit Gewalt auf sie eindringt, können sie dann nicht einmal erhitzt werden, und sie sollten 's im Konzertsaal? - Die Empfindung und der Sinn für Kunst sind aus der Mode gekommen und unanständig geworden;"[16]

Das Publikum sieht einen Konzertbesuch nur als gesellschaftliches Ereignis, hört Musik nur zur Belustigung der Sinne und zum angenehmen Zeitvertreib.

Allerdings ist auch von zwei Werken Berglingers die Rede, die sich von den übrigen unterscheiden. Das eine Werk wird mit Erfolg im Konzertsaal aufgeführt. Die Reaktionen des Publikums entsprechen zum ersten Mal Berglingers Vorstellungen: Statt lautem, oberflächlichem Beifall bekommt er einen stillen Beifall, „welcher weit schöner als ein lauter ist“[17]. Berglinger wird durch diesen Beifall derart von Glücksgefühlen erfüllt, dass er sagt: „es schien das erstemal, daß er auf die Herzen der Zuhörer etwas gewirkt hatte“[18]. Auch das letzte Werk scheint sich von den anderen zu unterscheiden. Berglinger komponiert diese Passionsmusik nach dem Tod seines Vaters, als er von tiefen Schmerzen des irdischen Lebens erfüllt ist. Zunächst denkt er, er könne in diesem Zustand gar nicht komponieren. Doch dann wirft er alles Emotionale und allen Lustgewinn von sich ab. Er reißt „sich mit aller Gewalt auf und (streckt) mit dem heißesten Verlangen die Arme zum Himmel empor“[19]

Berglinger komponiert zwar nach wie vor mit großer Emotionalität, doch diese ist nicht subjektiv, sondern objektiv. Das heißt, er stellt „das Leiden und die Schmerzen an sich dar, nicht mehr seine persönlichen“[20] Berglinger gelingt es zum ersten Mal, dass er seine eigene beschränkte Existenz transzendiert, weil er alle Schmerzen des Leidens und nicht nur die eigenen musikalisch zu fassen vermag. Durch sein eigenes Leiden überschreitet Berglinger seine Grenzen und wird als leidender Künstler zum Schöpfer einer neuen Ästhetik.


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[1] Kertz-Welzel. Alexandra: Die Transzendenz der Gefühle. Beziehungen zwischen Musik und Gefühl bei Wackenroder / Tieck und die Musikästhetik der Romantik. St. Ingbert 2001: Röhrig Universitätsverlag.
 

[2] Wackenroder/Tieck: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. 

  Ditzingen 2001: Reclam, S. 106 (künftig abgekürzt HE)

[3] ebd., S. 107f. (Hervorhebung original)

[4] ebd., S. 109

[5] Kertz-Welzel. Alexandra: Die Transzendenz der Gefühle. Beziehungen zwischen Musik und Gefühl bei Wackenroder / Tieck und die Musikästhetik der Romantik. St. Ingbert 2001: Röhrig Universitätsverlag, S. 102

[6] ebd., S. 93

[7] ebd., S. 97

[8] vgl. Reimer, Erich: „Kenner-Liebhaber-Dilettant“. In: HmT (1976), S.5ff, zitiert nach Kertz-Welzel

[9] ebd., S. 97

[10] Das Wort "Dilettant" wird im 18. Jahrhundert selten benutzt. Selbst Goethe wendet sich 1799 noch ratsuchend an einen Spezialisten des Italienischen, weil er sich bezüglich Bedeutung und Gebrauch nicht völlig sicher ist. Wird das Wort "Dilettant" dennoch benutzt, so bezeichnet es im ausgehenden 18. Jahrhundert meist den Liebhaber, nur gelegentlich den Kenner. Erst allmählich entwickelt sich der abwertende Sinn des Wortes, der den Dilettanten als sich selbst überschätzender Möchte-Gern-Künstler auffaßt, z.B. durch die Verwendung bei Sulzer in seiner "Theorie der schönen Künste". (Vaget, H. Rudolf: Der Dilettant. Eine Skizze der Wort- und Bedeutungsgeschichte, in: Jahrbuch der Schiller Gesellschaft XIV (1970), S. 133 ff), zitiert nach Kertz-Welzel.

[11] nach Kertz-Welzel, S. 97f.

[12] nach Kertz-Welzel, S. 92

[13] HE, S. 123, Hervorhebung original

[14] HE, S. 116

[15] ebd., S. 101

[16] ebd., S. 116

[17] ebd.

[18] ebd., S. 122

[19] Kertz-Welzel, S.109

[20] nach Kertz-Welzel, S. 109
 
 

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Ursula Hörmann, Claudia Gandlgruber und Steffi Wegele: Wackenroder und Tieck: "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders"- Hierarchie der Künste. 22.02.2003.   

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