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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Zusammenfassung der Untersuchung

Das vorliegende Web-Projekt versucht anhand ausgewählter Textstellen die Sinneshierarchie im Heinrich von Ofterdingen zu untersuchen. Dabei wird deutlich, dass es nicht so sehr die Differenzen zwischen Auge und Ohr bzw. Auge und Hand ist, die die Wahrnehmungsproblematik im Ofterdingen bestimmen, sondern vor allem die Konzeption eines "höheren Auges", das die äußere mit der inneren Welt verbinden und zu transzendentaler Erkenntnis gelangen kann. Diese Erkenntnis findet in einem romantischen Zwischenreich statt, in dem die entsprechenden  Wahrnehmungsvoraussetzungen vorgefunden werden. Anhand der Untersuchung des Schleier-Motivs wird außerdem ersichtlich, dass auch die Literatur, neben dem Traum, die Fähigkeit hat, den Vorhang, der den Blick ins Innere und damit die Möglichkeit der Erkenntnis verstellt zu zerreißen.

 

Fazit

Jedoch könnte man gerade das Motiv des Schleiers und damit auch die vom Roman selbst postulierte Poetik gegen ihre eigene Intention deuten. Ausgehend von einer Textstelle im ersten Teil des Romans (s.u.) ließe sich auch behaupten, dass gerade die Konzeption eines höheren Auges den Schleier nicht lüftet, sondern diesen erst erzeugt. Schließlich steht Novalis vor dem Problem, wie sich eine andere, "geschickte Verteilung von Licht, Farbe und Schatten" [1], die die Dichtkunst ausmachen soll, mit der normalen visuellen Wahrnehmung verbinden lässt. Der Dichter, der dem Roman zufolge für das "innere Betrachten" zuständig ist, wird trotz allem gezwungen, diesen inneren Blick sich mit der "realen" Außenwelt in Einklang zu bringen. Doch gerade die Bevorzugung dieses inneren Schauens bringt, wie in folgender Textstelle (5. Kapitel, erster Teil) klar wird, ein Problem mit sich. Der Dichter ist es, der den Schleier selbst erzeugt, ohne ihn zu lüften:

»Auch ich bin den Dichtern«, sagte der Alte, »von jeher deshalb zugetan gewesen. Das Leben und die Welt ist mir klarer und anschaulicher durch sie geworden. Es dünkte mich, sie müßten befreundet mit den scharfen Geistern des Lichtes sein, die alle Naturen durchdringen und sondern, und einen eigentümlichen, zartgefärbten Schleier über jede verbreiten. Meine eigene Natur fühlte ich bei ihren Liedern leicht entfaltet, und es war, als könnte sie sich nun freier bewegen, ihrer Geselligkeit und ihres Verlangens froh werden, mit stiller Lust ihre Glieder gegeneinander schwingen, und tausenderlei anmutige Wirkungen hervorrufen.«[2]

 

Die von Novalis vorgenommene Verknüpfung der Wahrnehmungsproblematik mit der Forderung nach einer romantischen Poetik ist es also, was diesen Roman nicht nur für die deutsche Literaturgeschichte so wichtig, sondern auch für die Wissenschaft befragbar macht.  

Die Literatur bleibt auf der Ebene der Sinneshierarchie und Sinneszersplitterung die die Aufklärung formuliert. Durch die ästhetische Produktion des Textes zeigt sie jedoch die Mängel dieses Diskurses auf. Während die Sinne im wissenschaftlichen und aufklärerischen Prozess des Fortschritts funktionalisiert werden, schafft die ästhetische Sprache der Literatur Freiräume. 

Die Studie von Peter Utz zielt auf die Sinnlichkeit des Textes. Er möchte erfahrbar machen, wie die Sinnlichkeit im aktiven Lernprozess hergestellt wird. "Wo, so schreibt Peter Utz, die reale Wahrnehmung sich auf einzelne Sinne verengt, will die literarische Wahrnehmung eine umfassende Öffnung zur sinnlichen Realität" (vgl. Peter Utz S. 9) 

  
 
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[1] Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart 1987, S. 19

[2] ebd., S. 85 


Martin Schneider: Sinneshierarchie: "Heinrich von Ofterdingen". 06.11.2002. 

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