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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Der Mythos der Ursprache

Nicht zufällig erscheint der Mythos der Ursprache im gleichen Zeitraum, in dem die Wahrnehmung immer mehr zu zersplittern beginnt.

Der Diskurs über die sinnliche Wahrnehmung zeigt, dass die Wahrnehmung wie eine Sprache strukturiert ist. Der geheilte Blinde muss das sehen erst lernen.

Diese Erkenntnis der semantischen Konstruktion der Wahrnehmung verweist auf einen Ursprungspunkt, bei dem das Wahrgenommene noch unmittelbar mit seiner Bedeutung verbunden ist. Die Sprache ist hierbei noch genau der sinnlich-mimetischer Ausdruck dessen, was sie beschreiben will.

Wahrnehmung und Sprache, später nur noch durch die Analogie der Semantik verbunden, werden in diesem Ursprungspunkt eins.

Mit diesem Ursprungspunkt befasst sich der zeitgenössische Diskurs über Wahrnehmung und Sprache. Und er findet sich auch in dem Begriff der einen Sprache, der Natursprache.

Mit dem Mythos der Ursprache wird an die Einheit von Sinneswahrnehmung und Sprache geglaubt.

 

 

Wie setzt sich die Literatur der Goethezeit mit dem Mythos der Ursprache auseinander?

Die Literatur versucht nicht nur die Wahrnehmung sprachlich einzufangen, sie versucht die Wahrnehmung neu zu gestalten. Der Text soll eine eigene Sinnlichkeit sprachlich hervorbringen.

Im Unterschied zum wissenschaftlichen Diskurs, bei dem die Sinne von außen begrifflich erfasst werden, will der literarische Text die Sinne von innen beleben. Hierbei muss er jedoch seine eigenen sprachlichen Grenzen erfahren.

Der Unterschied von Wahrnehmung und Sprache wird zur Antriebskraft der literarischen Produktion. Durch den Text wird die Widersprüchlichkeit der Wahrnehmung sichtbar gemacht.

 

 

Die Auseinandersetzung der Wissenschaft mit der Wahrnehmung

Je mehr sich die Naturwissenschaft der Aufklärung, in erster Linie die Medizin, mit der Erforschung der menschlichen Wahrnehmung befasst, desto weniger finden die Defizite ihrer eigenen Wahrnehmung Beachtung.

Sind die Beiträge über die Leistung der Wahrnehmung zahlreich, so finden die philosophischen und ästhetischen Reflexionen über die Mängel dieses Diskurses kaum Beachtung.

Die Literatur hat in diesem Diskurs der Goethezeit in ihrer Bemühung um den lebenden Körper den Mangel des wissenschaftlichen Fortschritts bereits sehr früh benannt. 

 

Das romantische Konzept einer Synästhesie der Sinne

Die Synästhesie hat zwei Aspekte:

  1. Das Alte der ganzheitlichen Ursprache
  2. Das Neue der Sinneszersplitterung

 

Synästhesie ist immer eine Rekonstruktion. Sie vermittelt die Sinne im Medium des Textes. Sie ist auf die Sprache angewiesen und auf Ihre Fähigkeit anhand von Metaphern Verbindungen herzustellen.

Aus der Synästhesie entsteht die literarische Utopie der Einheit von Wahrnehmung, Sprache und Körper.

 

 

Das synästhetische Paradigma

Eine vollständige Paradigmatik der Metapher registriert alle Arten der "kategorialen Vertauschung" bzw. ihrer Abweichung im Verhältnis zum gewöhnlichen Sprachgebrauch".

Das synästhesische Paradigma:

  • Die Substitution der Wahrnehmungsbereiche der einzelnen Sinne erzeugt die synästhetische Metapher.
  • Die synästhetische Metapher hat die Funktion der paradoxen Erweiterung des Textes und der Versinnlichung.
  • Nach der Poetik der Romantiker ist die Welt ein Rätsel. Sie eröffnet sich nur der tieferen Einsicht. Ahnung, Traum und komplexe Sinneserfahrung (Synästhesie).
  • Im Gegensatz dazu ist die Erfassung der Welt im Sinne der Aufklärung nur durch Verstandesklugheit und der Wahrnehmung des Einzelsinns möglich. (Bei der klassizistischen Wertehierarchie der Sinne ist Sehen der am stärksten distanzierte und rationalste Sinn während der Geruchssinn am stärksten somatisch und irrational ist. [sexuelle Vereinigung = Umkehrung der Sinneshierarchie des rational kontrollierten Alltags.])

 

Beim synästhetischen Paradigma gibt es Vertauschungen in verschiedenen Bereichen:

1.      visuell - akustisch

2.      visuell - taktil

3.      visuell - olfaktorisch

4.      akustisch - taktil

5.      akustisch - olfaktorisch

6.      akustisch - geschmacklich etc.

 

Beispiele:

visuell - akustisch

Ein mächtiger Springquell stieg zwischen den vielen Fackeln mit zahllosen Lichtern hinauf in die Dunkelheit der tönenden Wipfel, [...]. (H.v.O. S.44)

Gewaltige Klänge bebten in den silbernen Gesang, [...] (H.v.O. S. 76)

 

visuell - taktil

Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abendrots; [...]. (H.v.O. S.11)

 

akustisch - geschmacklich

Himmel und Erde flossen in süße Musik zusammen. (H.v.O. S.132)

 

Vgl. Heinrich F. Plett. Einführung in die rhetorische Textanalyse. 9., aktualisierte und erw. Aufl. Hamburg: Buske, 2001. S. 103-104

 

 

Sprachliche Analyse

Wie gezeigt wurde, ist die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung und der Hierarchie der Sinne ein zentraler Aspekt der Goethezeit. In dem Diskurs über die Wahrnehmung unterscheiden sich Wissenschaft und Literatur grundlegend.
 
Im Gegensatz zur Wissenschaft bemüht sich die Literatur der Zeit um eine Erweiterung der sprachlichen Möglichkeiten.
Das Konzept der Synästhesie ist hierbei das Ideal der Einheit von Wahrnehmung, Sprache und Körper.
 
 


Wie wird nun sprachlich dieses Ideal umgesetzt?

Das synästhetische Paradigma ist der wesentlichste Punkt mit dem das Ideal umgesetzt wird.
 

Es stellen sich jedoch auch diese Fragen:

  • Wie ist die Verteilung der Sinneswahrnehmungen im Text?
  • Lässt sich eine Sinneshierarchie anhand des Wortgebrauches im Text feststellen?
  • Ist die Sinneshierarchie konstant oder variiert die Gewichtung der Sinne? 

 

Um diese Fragen zu beantworten wurde am Text eine Analyse des Wortgebrauches durchgeführt. Die Analyse ist eine Stichprobenanalyse. Es wurden die Kapitel 1, 3, 6, sowie der 2. Teil "Die Erfüllung"  des Heinrich von Ofterdingen untersucht.

Es wurden sprachliche Elemente aller Wortarten die Sinneseindrücke vermitteln statistisch erhoben. Hierbei wurde folgende Sinneswahrnehmungen Beachtung geschenkt: visuell, akustisch, taktil, olfaktorisch und geschmacklich.

 

 

Ergebnis über die relative Häufigkeit der Sinneswahrnehmungen

Insgesamt kann man sagen, dass in der Sprache des Heinrich von Ofterdingen zum Großteil visuelle und akustische Sinneswahrnehmungen beschrieben werden. Die folgenden Grafiken sollen einen groben Einblick in die Sinneshierarchie des Heinrich von Ofterdingen vermitteln. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Beide Sinneswahrnehmungen werden in etwa gleichberechtigt verwendet. 

Es stehen hier 334 gezählte visuelle Sinneseindrücken zu 306 akustischen. Eine  wesentlich geringere Rolle spielen die drei weiteren Sinne. Der Tastsinn  [taktil (25)] als auch der Geschmackssinn (23) werden recht selten gebraucht. 

 

 

 

 

 

 

Die Sinneshierarchie in den einzelnen Kapiteln

Die Betrachtung der einzelnen ausgewerteten Kapitel zeigt keine wesentliche Schwankung der Sinneshierarchie zwischen den Kapiteln. Bei allen ausgewerteten Kapiteln sind der visuelle und der akustische Sinn die am häufigsten beschriebenen Sinne.

Die Gewichtung dieser beiden Sinne ist jedoch in den einzelnen Kapiteln unterschiedlich. Während im Kapitel 1 und im 2. Teil der visuelle Sinn überliegt, wird in den Kapiteln 3 und 6 der akustische Sinn häufiger verwendet. Das, im Vergleich zum Gesamtergebnis starke Aufkommen des Tastsinns ist im 1. Kapitel auffällig. Der Geschmackssinn wird in Kapitel 1 und 3 vermehrt beschrieben.

 

 

Schlußfolgerung

Insgesamt findet sich die ausgewogenste Verteilung der Sinne im Kapitel 1. hierbei wird deutlich, dass die klassische Sinneshierarchie auf der sprachlichen Ebene des Heinrich von Ofterdingen beibehalten wird.
 
 
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[1] Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart 1987, S. 19

[2] ebd., S. 85 


Martin Schneider: Sinneshierarchie: "Heinrich von Ofterdingen". 06.11.2002. 
Lilli Buettner: Sinneshierarchie: "Heinrich von Ofterdingen" - Ergebnis.  03.03.2003.

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