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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Das "höhere Auge" der Dichtkunst

Die hier dargelegte These eines "höheren Auges" ist für das Verständnis der Sinneshierarchie im "Ofterdingen" von zentraler Bedeutung. Denn Novalis vermeidet mit diesem Begriff die Festlegung auf einen der herkömmlichen Sinne und setzt stattdessen die Anschauung einer höheren Welt an die Spitze der Sinneshierarchie. Entscheidend ist, wie in den folgenden Punkten deutlich wird, die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung.

1. Im zweiten Kapitel des ersten Teils legen die Kaufleute den Grundstein für das Konzept einer "Dichtkunst als inneren Wahrnehmung" - Die Poesie überschreitet die Fähigkeiten der herkömmlichen Sinne, was sich zugleich mit dem frühromantischen Konzept deckt.

2. Hintergrund dieses Strebens nach einem "höheren Auge" ist die Tatsache, dass die höheren Ebenen des menschlichen Seins nicht mehr unmittelbar geschaut werden können. Dies gelingt nur noch, wie im ersten Kapitel des ersten Teils deutlich wird, in einer Art "Zwischenreich".

3. In unmittelbarer Verbindung zur Annahme eines Zwischenreiches, in der sich die äußere mit der inneren Wahrnehmung verbinden soll, steht das Motiv des Schleiers, wie es sich in verschiedenen Textstellen manifestiert. Dieses Motiv führt sogleich zu einer grundlegenden Problematik des Textes: Erfüllt Novalis Buch das von ihm propagierte Schauen einer höheren Welt oder bleibt es bei der Beschreibung dieser Forderung stehen? 

 

Dichtkunst als innere Wahrnehmung

Im folgenden Auszug diskutieren die Kaufleute über die Rolle der Dichtkunst als einer ganz und gar auf das Innere ausgerichteten Kunst. Wiederum ließe sich fragen, ob hinter dieser Position auch die Ansichten von Novalis und sein frühromantisches Konzept zu erkennen sind oder nicht. Bei den als Link markierten Stellen können sie eine Kurzerklärung erhalten, wenn sie mit der Maus auf sie zeigen.

Die Kaufleute sagten darauf: »Wir haben uns freilich nie um die Geheimnisse der Dichter bekümmert, wenn wir gleich mit Vergnügen ihrem Gesange zugehört. Es mag wohl wahr sein, daß eine besondere Gestirnung dazu gehört, wenn ein Dichter zur Welt kommen soll; denn es ist gewiß eine recht wunderbare Sache mit dieser Kunst. Auch sind die andern Künste gar sehr davon unterschieden, und lassen sich weit eher begreifen. Bei den Malern und Tonkünstlern kann man leicht einsehn, wie es zugeht, und mit Fleiß und Geduld läßt sich beides lernen. Die Töne liegen schon in den Saiten, und es gehört nur eine Fertigkeit dazu, diese zu bewegen, um jene in einer reizenden Folge aufzuwecken. Bei den Bildern ist die Natur die herrlichste Lehrmeisterin. Sie erzeugt unzählige schöne und wunderliche Figuren, gibt die Farben, das Licht und den Schatten, und so kann eine geübte Hand, ein richtiges Auge, und die Kenntnis von der Bereitung und Vermischung der Farben, die Natur auf das vollkommenste nachahmen. Wie natürlich ist daher auch die Wirkung dieser Künste, das Wohlgefallen an ihren Werken, zu begreifen. Der Gesang der Nachtigall, das Sausen des Windes, und die herrlichen Lichter, Farben und Gestalten gefallen uns, weil sie unsere Sinne angenehm beschäftigen; und da unsere Sinne dazu von der Natur, die auch jenes hervorbringt, so eingerichtet sind, so muß uns auch die künstliche Nachahmung der Natur gefallen. Die Natur will selbst auch einen Genuß von ihrer großen Künstlichkeit haben, und darum hat sie sich in Menschen verwandelt, wo sie nun selber sich über ihre Herrlichkeit freut, das Angenehme und Liebliche von den Dingen absondert, und es auf solche Art allein hervorbringt, daß sie es auf mannigfaltigere Weise, und zu allen Zeiten und allen Orten haben und genießen kann. Dagegen ist von der Dichtkunst sonst nirgends äußerlich etwas anzutreffen. Auch schafft sie nichts mit Werkzeugen und Händen; das Auge und das Ohr vernehmen nichts davon: denn das bloße Hören der Worte ist nicht die eigentliche Wirkung dieser geheimen Kunst. Es ist alles innerlich, und wie jene Künstler die äußern Sinne mit angenehmen Empfindungen erfüllen, so erfüllt der Dichter das inwendige Heiligtum des Gemüts mit neuen, wunderbaren und gefälligen Gedanken. Er weiß jene geheimen Kräfte in uns nach Belieben zu erregen, und gibt uns durch Worte eine unbekannte herrliche Welt zu vernehmen. Wie aus tiefen Höhlen steigen alte und künftige Zeiten, unzählige Menschen, wunderbare Gegenden, und die seltsamsten Begebenheiten in uns herauf, und entreißen uns der bekannten Gegenwart. Man hört fremde Worte und weiß doch, was sie bedeuten sollen. Eine magische Gewalt üben die Sprüche des Dichters aus; auch die gewöhnlichen Worte kommen in reizenden Klängen vor, und berauschen die festgebannten Zuhörer.«

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart 1987, S. 26/ 27

 

 

Das Zwischenreich

Die Konzeption eines höheren Auges, das den inneren mit dem äußeren Blick verbinden soll, rührt von der Tatsache her, dass die "höheren Mächte" nur noch mittelbar wahrzunehmen sind. So sagt der Vater zu Heinrich im ersten Kapitel der "Erwartung": "In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr statt." [1] Dies ist jetzt nur noch in einer Art "Zwischenreich" möglich, das in der folgenden Textstelle doppelt definiert wird: Zum einen aus der Sicht der Wahrnehmung als eine "geschickte Verteilung von Licht, Farbe und Schatten" zum anderen aus historischer Sicht als Zwischenwelt zwischen Barbarei und Moderne. Erst in letzterer ist eine höhere Wahrnehmung möglich. Bleiben Sie mit dem Mauszeiger auf den als Link markierten Stellen um ein Kurzerklärung zu erhalten.

Heinrich war eben zwanzig Jahre alt geworden. Er war nie über die umliegenden Gegenden seiner Vaterstadt hinausgekommen; die Welt war ihm nur aus Erzählungen bekannt. Wenig Bücher waren ihm zu Gesichte gekommen. Bei der Hofhaltung des Landgrafen ging es nach der Sitte der damaligen Zeiten einfach und still zu; und die Pracht und Bequemlichkeit des fürstlichen Lebens dürfte sich schwerlich mit den Annehmlichkeiten messen, die in späteren Zeiten ein bemittelter Privatmann sich und den Seinigen ohne Verschwendung verschaffen konnte. Dafür war aber der Sinn für die Gerätschaften und Habseligkeiten, die der Mensch zum mannigfachen Dienst seines Lebens um sich her versammelt, desto zarter und tiefer. Sie waren den Menschen werter und merkwürdiger. Zog schon das Geheimnis der Natur und die Entstehung ihrer Körper den ahndenden Geist an: so erhöhte die seltnere Kunst ihrer Bearbeitung, die romantische Ferne, aus der man sie erhielt, und die Heiligkeit ihres Altertums, da sie sorgfältiger bewahrt, oft das Besitztum mehrerer Nachkommenschaften wurden, die Neigung zu diesen stummen Gefährten des Lebens. Oft wurden sie zu dem Rang von geweihten Pfändern eines besondern Segens und Schicksals erhoben, und das Wohl ganzer Reiche und weitverbreiteter Familien hing an ihrer Erhaltung. Eine liebliche Armut schmückte diese Zeiten mit einer eigentümlichen ernsten und unschuldigen Einfalt; und die sparsam verteilten Kleinodien glänzten desto bedeutender in dieser Dämmerung, und erfüllten ein sinniges Gemüt mit wunderbaren Erwartungen. Wenn es wahr ist, daß erst eine geschickte Verteilung von Licht, Farbe und Schatten die verborgene Herrlichkeit der sichtbaren Welt offenbart, und sich hier ein neues höheres Auge aufzutun scheint: so war damals überall eine ähnliche Verteilung und Wirtschaftlichkeit wahrzunehmen; da hingegen die neuere wohlhabendere Zeit das einförmige und unbedeutendere Bild eines allgemeinen Tages darbietet. In allen Übergängen scheint, wie in einem Zwischenreiche, eine höhere, geistliche Macht durchbrechen zu wollen; und wie auf der Oberfläche unseres Wohnplatzes die an unterirdischen und überirdischen Schätzen reichsten Gegenden in der Mitte zwischen den wilden, unwirtlichen Urgebirgen und den unermeßlichen Ebenen liegen, so hat sich auch zwischen den rohen Zeiten der Barbarei und dem kunstreichen, vielwissenden und begüterten Weltalter eine tiefsinnige und romantische Zeit niedergelassen, die unter schlichtem Kleide eine höhere Gestalt verbirgt. Wer wandelt nicht gern im Zwielichte, wenn die Nacht am Lichte und das Licht an der Nacht in höhere Schatten und Farben zerbricht; und also vertiefen wir uns willig in die Jahre, wo Heinrich lebte und jetzt neuen Begebenheiten mit vollem Herzen entgegenging. [2]

 

 

Das Schleier-Motiv

Dieses Motiv wird im "Heinrich von Ofterdingen" an verschiedenen Stellen kenntlich. 

  1. Eingeführt wird es zum ersten Mal im ersten Kapitel des ersten Teils, als das Phänomen des Traums von Heinrich als ein Riss in einem geheimnisvollen Vorhang gedeutet wird. 

  2. In der Atlantis-Episode (Ende drittes Kapitel, erster Teil) ist es der Sänger, der der Prinzessin den Schleier hebt. Dies kann als eine Anspielung auf das Vermögen der Dichtkunst gelesen werden, den Schleier zu heben, der über der Erkenntnis einer höheren Welt liegt. 

  3. Das Schleier-Motiv lässt nun verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu, die eng mit der Poetik des Romans verknüpft sind und deshalb auch eine Art Fazit des vorliegenden Projektes bilden.

 

 

Der Vorhang

Geht man davon aus, dass Novalis höhere Erkenntnis von der Existenz eines Zwischenreichs abhängig macht, so könnte der Traum ein Beispiel für eine solche Übergangswelt sein. Wie sehr der Traum als eine Möglichkeit der Erkenntnis, also als eine Art inneres Schauen gelten kann, wird zu Beginn des Romans im Gespräch Heinrichs mit seinem Vater deutlich. Dabei wird auch das Motiv des Vorhangs eingeführt, der hier als Barriere zwischen Innerem und Äußerem definiert wird. Bleiben Sie mit dem Mauszeiger auf den als Link markierten Stellen um ein Kurzerklärung zu erhalten. Ein Klick führt Sie dann zurück zu "Das höhere Auge".

In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr statt. Die alten Geschichten und Schriften sind jetzt die einzigen Quellen, durch die uns eine Kenntnis von der überirdischen Welt, soweit wir sie nötig haben, zuteil wird; und statt jener ausdrücklichen Offenbarungen redet jetzt der heilige Geist mittelbar durch den Verstand kluger und wohlgesinnter Männer und durch die Lebensweise und die Schicksale frommer Menschen zu uns. Unsre heutigen Wunderbilder haben mich nie sonderlich erbaut, und ich habe nie jene großen Taten geglaubt, die unsre Geistlichen davon erzählen. Indes mag sich daran erbauen, wer will, und ich hüte mich wohl jemanden in seinem Vertrauen irre zu machen.« - »Aber, lieber Vater, aus welchem Grunde seid Ihr so den Träumen entgegen, deren seltsame Verwandlungen und leichte zarte Natur doch unser Nachdenken gewißlich rege machen müssen? Ist nicht jeder, auch der verworrenste Traum, eine sonderliche Erscheinung, die auch ohne noch an göttliche Schickung dabei zu denken, ein bedeutsamer Riß in den geheimnisvollen Vorhang ist, der mit tausend Falten in unser Inneres hereinfällt? In den weisesten Büchern findet man unzählige Traumgeschichten von glaubhaften Menschen, und erinnert Euch nur noch des Traums, den uns neulich der ehrwürdige Hofkaplan erzählte, und der Euch selbst so merkwürdig vorkam.

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart 1987, S. 13

 

Die Atlantis-Episode

Diese Textstelle ist ein Beispiel für die Erzähltechnik des Romans. Immer wieder werden kurze Binnenerzählungen in eine große Rahmenhandlung eingebettet, so dass unklar ist, wo die Position des Autors liegt und wo nicht. In der Atlantis-Episode, deren Schluss hier aufgeführt ist, geht es um die Liebe eines Dichters zu einer Prinzessin. Für die vorliegende Thematik ist dabei das Motiv des Schleiers von Bedeutung, da der Dichter der Prinzessin, nachdem er gesungen hat, den Schleier vom Gesicht reißt. Dies könnte ein weiterer Beleg für die These sein, dass Novalis die Fähigkeit der Dichtung betonen will, den Schleier zwischen Innerem und Äußerem zu zerreißen um so eine höhere Erkenntnis zu garantieren.

So weit war er in seinem Gesange gekommen, und ein sonderbares Erstaunen hatte sich der Versammlung bemächtigt, als während dieser Strophen ein alter Mann mit einer verschleierten weiblichen Gestalt von edlem Wuchse, die ein wunderschönes Kind auf dem Arme trug, das freundlich in der fremden Versammlung umhersah, und lächelnd nach dem blitzenden Diadem des Königs die kleinen Händchen streckte, zum Vorschein kamen, und sich hinter den Sänger stellten; aber das Staunen wuchs, als plötzlich aus den Gipfeln der alten Bäume, der Lieblingsadler des Königs, den er immer um sich hatte, mit einer goldenen Stirnbinde, die er aus seinen Zimmern entwandt haben mußte, herabflog, und sich auf das Haupt des Jünglings niederließ, so daß die Binde sich um seine Locken schlug. Der Fremdling erschrak einen Augenblick; der Adler flog an die Seite des Königs, und ließ die Binde zurück. Der Jüngling reichte sie dem Kinde, das darnach verlangte, ließ sich auf ein Knie gegen den König nieder, und fuhr in seinem Gesange mit bewegter Stimme fort: [...] Der Jüngling hob mit bebender Hand bei diesen Worten, die sanft in den dunklen Gängen verhallten, den Schleier. Die Prinzessin fiel mit einem Strom von Tränen zu den Füßen des Königs, und hielt ihm das schöne Kind hin. Der Sänger kniete mit gebeugtem Haupte an ihrer Seite. Eine ängstliche Stille schien jeden Atem festzuhalten. Der König war einige Augenblicke sprachlos und ernst; dann zog er die Prinzessin an seine Brust, drückte sie lange fest an sich und weinte laut. Er hob nun auch den Jüngling zu sich auf, und umschloß ihn mit herzlicher Zärtlichkeit. Ein helles Jauchzen flog durch die Versammlung, die sich dicht zudrängte. Der König nahm das Kind und reichte es mit rührender Andacht gen Himmel; dann begrüßte er freundlich den Alten. Unendliche Freudentränen flossen. In Gesänge brachen die Dichter aus, und der Abend ward ein heiliger Vorabend dem ganzen Lande, dessen Leben fortan nur ein schönes Fest war. Kein Mensch weiß, wo das Land hingekommen ist. Nur in Sagen heißt es, daß Atlantis von mächtigen Fluten den Augen entzogen worden sei.«

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart 1987, S. 47-49 

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[1] Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart 1987, S. 13.

[2] ebd., S. 19/ 20.


Martin Schneider: Sinneshierarchie: "Heinrich von Ofterdingen". 06.11.2002.

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