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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Das Auge

Das Auge wird im 18. Jahrhundert zum Medium und Gegenstand der Wissenschaft. Es werden große Fortschritte in der Augenheilkunde gemacht. Die Heilung von Blinden wird zum Paradigma des aufklärerischen Gedanken.

Aufklärung bedeutet: Die Augen öffnen 

In diesem epochalen Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert verliert die Wissenschaft das Bewusstsein für die eigene Relativität.

 

Auge versus Ohr 

               

Folgt Novalis in seiner Konzeption des Textes der Vorgehensweise anderer Romantiker (z.B. Clemens Brentano oder Joseph von Eichendorff), die ihr synästhetisches Konzept durch eine Stärkung des Hörsinns gegenüber dem Auge verwirklichen wollen?


Betrachtet man den Text genauer, gibt es keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Die ausgewählten Textstellen zeigen zwar die Beschäftigung Novalis mit dem Problem der Sinneshierarchie, jedoch belegen sie keine eindeutige Festlegung.

 

  1. "Das Bad in den Farben" nimmt Heinrich in der Traumszene zu Beginn des Romans. Problematisch ist hier der Ausdruck "Heilige Stille": Ist es ein Beleg für oder gegen die Abwertung des auditiven gegenüber den anderen Sinnen?

  2. Die Sirenen-Episode ist dagegen ein Beleg für die Einbeziehung des Hörsinns in das poetische Konzept des Autors. 

  3. Die Figur des Klingsohr (Kling + Ohr!) spricht schon durch ihren Namen für das Konzept des Dichters als Sängers, wie es an verschiedenen Stellen im Roman auftaucht.

 

 

Das Bad in den Farben

Aus der folgenden Textstelle kann man nicht eindeutig schließen, dass sowohl der visuelle als auch der haptische Sinn dem Hörsinn durchaus vorgezogen werden. Zwar ist das Bad in den Farben eine Verknüpfung des haptischen mit dem visuellen Sinn, jedoch ist auch von einer "heiligen Stille" die Rede. 

Der Gang führte ihn gemächlich eine Zeitlang eben fort, bis zu einer großen Weitung, aus der ihm schon von fern ein helles Licht entgegen glänzte. Wie er hineintrat, ward er einen mächtigen Strahl gewahr, der wie aus einem Springquell bis an die Decke des Gewölbes stieg, und oben in unzählige Funken zerstäubte, die sich unten in einem großen Becken sammelten; der Strahl glänzte wie entzündetes Gold; nicht das mindeste Geräusch war zu hören, eine heilige Stille umgab das herrliche Schauspiel. Er näherte sich dem Becken, das mit unendlichen Farben wogte und zitterte. Die Wände der Höhle waren mit dieser Flüssigkeit überzogen, die nicht heiß, sondern kühl war, und an den Wänden nur ein mattes, bläuliches Licht von sich warf. Er tauchte seine Hand in das Becken und benetzte seine Lippen. Es war, als durchdränge ihn ein geistiger Hauch, und er fühlte sich innigst gestärkt und erfrischt. Ein unwiderstehliches Verlangen ergriff ihn sich zu baden, er entkleidete sich und stieg in das Becken. Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abendrots; eine himmlische Empfindung überströmte sein Inneres; mit inniger Wollust strebten unzählbare Gedanken in ihm sich zu vermischen; neue, niegesehene Bilder entstanden, die auch ineinanderflossen und zu sichtbaren Wesen um ihn wurden, und jede Welle des lieblichen Elements schmiegte sich wie ein zarter Busen an ihn. Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen, die an dem Jünglinge sich augenblicklich verkörperten.

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart 1987, S. 10/ 11
 

 

Die Sirenen-Episode (Auszug)

Die Sirenen-Episode (1. Teil, 2. Kapitel), belegt eindeutig die Bedeutung der Musik und des Hörens für die Dichtkunst.

So sollen vor uralten Zeiten in den Ländern des jetzigen Griechischen Kaisertums, wie uns Reisende berichtet, die diese Sagen noch dort unter dem gemeinen Volke angetroffen haben, Dichter gewesen sein, die durch den seltsamen Klang wunderbarer Werkzeuge das geheime Leben der Wälder, die in den Stämmen verborgenen Geister aufgeweckt, in wüsten, verödeten Gegenden den toten Pflanzensamen erregt, und blühende Gärten hervorgerufen, grausame Tiere gezähmt und verwilderte Menschen zu Ordnung und Sitte gewöhnt, sanfte Neigungen und Künste des Friedens in ihnen rege gemacht, reißende Flüsse in milde Gewässer verwandelt, und selbst die totesten Steine in regelmäßige tanzende Bewegungen hingerissen haben. Sie sollen zugleich Wahrsager und Priester, Gesetzgeber und Ärzte gewesen sein, indem selbst die höhern Wesen durch ihre zauberische Kunst herabgezogen worden sind, und sie in den Geheimnissen der Zukunft unterrichtet, das Ebenmaß und die natürliche Einrichtung aller Dinge, auch die innern Tugenden und Heilkräfte der Zahlen, Gewächse und aller Kreaturen, ihnen offenbart. Seitdem sollen, wie die Sage lautet, erst die mannigfaltigen Töne und die sonderbaren Sympathien und Ordnungen in die Natur gekommen sein, indem vorher alles wild, unordentlich und feindselig gewesen ist. Seltsam ist nur hiebei, daß zwar diese schönen Spuren, zum Andenken der Gegenwart jener wohltätigen Menschen, geblieben sind, aber entweder ihre Kunst, oder jene zarte Gefühligkeit der Natur verloren gegangen ist. In diesen Zeiten hat es sich unter andern einmal zugetragen, daß einer jener sonderbaren Dichter oder mehr Tonkünstler - wiewohl die Musik und Poesie wohl ziemlich eins sein mögen und vielleicht ebenso zusammen gehören wie Mund und Ohr, da der erste nur ein bewegliches und antwortendes Ohr ist - daß also dieser Tonkünstler übers Meer in ein fremdes Land reisen wollte.

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart 1987, S. 28/ 29

 

 

 

Klingsohr

Die Figur des Klingsohr (oder: Klingsor/ Klinschor) ist ein häufig verwendeter Topos des Literaturgeschichte. Im "Parzival" Wolfram von Eschenbachs ist Klinschor ein mächtiger Zauberer, Nachkomme des Vergil und Herzog von Terre de Labur. In seinem Schloss Schastel marveil hält er 400 edle Frauen gefangen, die durch Gawan erlöst werden. Im Wartburgkrieg ist er als König von Ungarland im Rätselspiel der Gegner Wolframs, der ihn jedoch mit göttlichem Beistand besiegt. Als Meistersänger nennt ihn auch der Artikel in Zedlers Universallexikon.
 
Richard Wagner verwendet die Klingsor-Figur sowohl im Rahmen seiner Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" als auch im "Parzival".  Eine eigenartige Verwendung findet Hermann Hesse in seiner Erzählung "Klingsors letzter Sommer": Bei ihm ist Klingsor kein Dichter, sondern ein Maler.

 

 

Gleichwertigkeit des Ohres

Eine Textstelle aus der Sirenen-Episode des "Ofterdingen" belegt eindeutig das Zusammenwirken von Poesie und Musik. Die Sirenen-Episode wird im zweiten Kapitel des ersten Teils von den Kaufleuten erzählt, ist also, wie die Atlantis-Episode des dritten Kapitels eine Binnenerzählung. Damit bleibt unklar, ob Novalis die Bezeichnung des Dichters als "Sänger", wie sie in beiden Erzählungen vorgenommen wird, als ein zu erstrebendes Ideal oder vielmehr als eine vergangene, historische Episode betrachtet. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass nicht nur die Protagonisten der Binnenerzählungen als "Sänger" dargestellt werden, sondern auch Heinrich selbst permanent so bezeichnet wird.

Auch Klingsohr, der im Roman als Dichter-Vorbild Heinrichs fungiert, trägt die Vorrangigkeit des auditiven Sinns schon in seinem Namen: Kling + Ohr!

 

 

Unterlegenheit des Ohres

Das Bad in den Farben

Diese Textstelle ist in den Traum Heinrichs im ersten Kapitel der Erzählung eingebettet und redet ausdrücklich von einer "heiligen Stille". Auge und Tastsinn werden dem Ohr vorgezogen. Dieser Abschnitt könnte ein Beleg für eine These von Utz sein. Er geht davon aus, das Novalis ein neues Körpergefühl schaffen wolle, um dessen durch Medizin und Politik hervorgerufene Wahrnehmung als "Abstractum" zu überwinden.

 


Martin Schneider: Sinneshierarchie: "Heinrich von Ofterdingen". 06.11.2002.

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