Goethezeitportal.de

 

Inhalt

 

Goethe, Schiller und die Goethezeit auf Google+

Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Struktureller Aufbau der Erzählung in sieben musikalische Szenen

Die Erzählung Ritter Gluck ist inhaltlich aufgebaut in sieben musikalische Szenerien, deren Herzstück der Mythos vom Schaffen ist. Sie alle haben unterschiedliche Bedeutung, sind aber ebenso wie die Erzählung des Schaffens daraufhin zu prüfen, ob sie das was der Schaffensmythos lehrt auch vertreten, denn in allen diesen Szenen ist der "Unbekannte" die agierende Person, und von daher sind auch diese Einzelinterpretationen in ein Gefüge einzubringen, das dem des Schaffensmythos entspricht. 

1. Kaffeehausmusik, "Arie Aus Fanchon"
2. Ouvertüre der "Iphigenia in Aulis"
3. Glucks Gesang des Chores der Priesterinnen aus der "Iphigenia in Tauris"
4. Schaffensmythos
5. Kritik am Berliner Musikgeschehen
6. Rezeption von Gluck Armida auf Berliner Opernbühne
7. Reproduktion der Armida Ouvertüre

 

1. Kaffeehausmusik

Die Erzählung weist gleich zu Beginn auf die musikalische Thematik hin, indem der Blick auf die schlechte Unterhaltungsmusik geworfen wird. Die Zuhörer werden mit einer miserablen Vorstellung einer Arie aus Fanchon (oder das Liedermärchen von Friedrich Himmel) gequält, danach folgt "das verwünschte Trio eines höchst niederträchtigen Walzers, dass den Erzähler aus der Traumwelt reißt. Der Erzähler steht in seiner Rezeptionshaltung aller Musik und allen Musikern negativ gegenüber, die nicht seinem erlernten Oktavverbot entspricht.

An dieser Stelle tritt Gluck auf, und hält dieser Rezeptionshaltung entgegen, indem er nicht die Qualität der Musik kritisiert, den Zuhörer, den Oktavenjäger, der dazu neigt zu theoretisieren, nicht in die Musik einzudringen.

Gluck setzt dieser Art Musik zu Hören eine andere Alternative entgegen in der zweiten musikalischen Szene. [1]

Der Spätherbst in Berlin hat gewöhnlich noch einige schöne Tage. Die Sonne tritt freundlich aus dem Gewölk hervor, und schnell verdampft die Nässe in der lauen Luft, welche durch die Straßen weht. Dann sieht man eine lange Reihe, buntgemischt -- Elegants, Bürger mit der Hausfrau und den lieben Kleinen in Sonntagskleidern, Geistliche, Jüdinnen, Referendare, Freudenmädchen, Professoren, Putzmacherinnen, Tänzer, Offiziere usw. durch die Linden nach dem Tiergarten ziehen. Bald sind alle Plätze bei Klaus und Weber besetzt; der Mohrrübenkaffee dampft, die Elegants zünden ihre Zigaros an, man spricht, man streitet über Krieg und Frieden, über die Schuhe der Madame Bethmann, ob sie neulich grau oder grün waren, über den geschlossenen Handelsstaat und böse Groschen usw., bis alles in eine Arie aus Fauchen zerfließt, womit eine verstimmte Harfe, ein paar nicht gestimmte Violinen, eine lungensüchtige Flöte und ein spasmatischer Fagott sich und die Zuhörer quälen.  Dicht an dem Geländer, welches den Weberschen Bezirk von der Heerstraße trennt, stehen mehrere kleine runde Tische und Gartenstühle; hier atmet man freie Luft, beobachtet die Kommenden und Gehenden, ist entfernt von dem kakophonischen Getöse jenes vermaledeiten Orchesters; da setze ich mich hin, dem leichten Spiel meiner Phantasie mich überlassend, die mir befreundete Gestalten zuführt, mit denen ich über Wissenschaft, über Kunst, über alles, was dem Menschen am teuersten sein soll, spreche.  Immer bunter und bunter wogt die Masse der Spaziergänger bei mir vorüber, aber nichts stört mich, nichts kann meine phantastische Gesellschaft verscheuchen.  Nur das verwünschte Trio eines höchst niederträchtigen Walzers reißt mich aus der Traumwelt.  Die kreischende Oberstimme der Violine und Flöte und des Fagotts schnarrenden Grundbaß allein höre ich; sie gehen auf und ab, fest aneinanderhaltend in Oktaven, die das Ohr zerschneiden, und unwillkürlich, wie jemand, den ein brennender Schmerz ergreift, ruf ich aus: "Welche rasende Musik! Die abscheulichen Oktaven!" - Neben mir murmelt es: "Verwünschtes Schicksal! Schon wieder ein Oktavenjäger!"

Ich stehe auf und werde nun erst gewahr, daß, von mir unbemerkt, an demselben Tisch ein Mann Platz genommen hat, der seinen Blick starr auf mich richtet und von dem nun mein Auge nicht wieder loskommen kann.

Nie sah ich einen Kopf, nie eine Gestalt, die so schnell einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht hätten. Eine sanfte gebogene Nase schloß sich an eine breite, offene Stirn, mit merklichen Erhöhungen über den buschigen, halbgrauen Augenbrauen, unter denen die Augen mit beinahe wildem, jugendlichem Feuer (der Mann mochte über fünfzig sein) hervorblickten. Das weichgeformte Kinn stand in seltsamem Kontrast mit dem geschlossenen Munde, und ein skurriles Lächeln, hervorgebracht durch das sonderbare Muskelspiel in den eingefallenen Wangen, schien sich aufzulehnen gegen den tiefen, melancholischen Ernst, der auf der Stirn ruhte. Nur wenige graue Löckchen lagen hinter den großen, vom Kopfe abstehenden Ohren. Ein sehr weiter, moderner Überrock hüllte die große hagere Gestalt ein. Sowie mein Blick auf den Mann traf, schlug er die Augen nieder und setzte das Geschäft fort, worin ihn mein Ausfruf wahrscheinlich unterbrochen hatte. Er schüttete nämlich aus verschiedenen kleinen Tüten mit sichtbarem Wohlgefallen Tabak in eine vor ihm stehende große Dose und feuchtete ihn mit rotem Wein aus einer Viertelsflasche an. Die Musik hatte aufgehört; ich fühlte die Notwendigkeit ihn anzureden. "Es ist gut, daß die Musik schweigt," sagte ich; "das war ja nicht auszuhalten." Der Alte warf mir einen flüchtigen Blick zu und schüttete die letzte Tüte aus. "Es wäre besser, daß man gar nicht spielte!" nahm ich nochmals das Wort. "Sind Sie nicht meiner Meinung?" "Ich bin gar keiner Meinung", sagte er. "Sie sind Musiker und Kenner von Profession..."
"Sie irren; beides bin ich nicht. Ich lernte ehemals Klavierspielen und Generalbaß, wie eine Sache, die zur guten Erziehung gehört, und da sagte man mir unter anderm, nichts mache einen würdigern Effekt, alls wenn der Baß mit der Oberstimme in Oktaven fortschreite.  Ich nahm das damals auf Autorität an und habe es nachher immer bewährt gefunden."

2. Ouvertüre der "Iphigenia in Aulis"

Gluck lässt das selbe Ensemble, das in der ersten Szene spielt die Ouvertüre der "Iphigenie auf in Aulis" spielen. Er setzt der zuerst passiven Hörweise des Erzählers eine aktive Hörweise entgegen, die er selbst durch Bewegung und Gestik in ihrem dramatischem Verlauf nachvollzieht. Er wird selbst zum Kapellmeister, der durch seinen körperlichen Einsatz  das "Skelett" von Tönen mit "Fleisch und Farben", er wird also selbst beim Hören produktiv.

Erst durch die Aufhebung der Distanz zwischen Werk und Zuhörer kann sich der wahre Gehalt der Musik offenbaren. Das werk ist abhängig von dem Zuhörer, der sich in die Musik einfühlt, mit ihr verschmilzt, ohne dies ist das Werk nichts wert. Dies ist vergleichbar mit der im dritten Abschnitt des Schaffensmythos beschriebenen Verschmelzung von Künstler mit der Natur.

Es kommt zum Ausdruck, dass Musik eben nur ganz subjektiv empfunden werden kann, erst wenn die Musik durch ein Individuum zu leben beginnt kommt ihr Wahrheitsgehalt zum Vorschein. [2]

"Wirklich?" fiel er mir ein, stand auf und schritt langsam und bedächtig nach den Musikanten hin, indem er öfters, den Blick in die Höhe gerichtet, mit flacher Hand an die Stirn klopfte, wie jemand, der irgendeine Erinnerung wecken will. Ich sah ihn mit den Musikanten sprechen, die er mit gebietender Würde behandelte. Er kehrte zurück, und kaum hatte er sich gesetzt, als man die Ouvertüre der "Iphigenia in Aulis" zu spielen begann.

Mit halbgeschlossenen Augen, die verschränkten Arme auf den Tisch gestützt, hörte er das Andante; den linken Fuß leise bewegend, bezeichnete er das Eintreten der Stimmen: jetzt erhob er den Kopf -- schnell warf er den Blick umher -- die linke Hand, mit auseinandergespreizten Fingern, ruhte auf dem Tische, als greife er einen Akkord auf dem Flügel, die rechte Hand hob er in die Höhe; es war ein Kapellmeister, der dem Orchester das Eintreten des andern Tempos angibt -- die rechte Hand fällt, und das Allegro beginnt! -- Eine brennende Röte fliegt über die blassen Wangen: die Augenbrauen fahren zusammen auf der gerunzelten Stirn, eine innere Wut entflammt dem wilden Blick mit einem Feuer, das mehr und mehr das Lächeln wegzehrt, das noch um den halbgeöffneten Mund schwebte. Nun lehnt er sich zurück, hinauf ziehen sich die Augenbrauen, das Muskelspiel auf den Wangen kehrt wieder, die Augen erglänzen, ein tiefer, innerer Schmerz löst sich auf in Wollust, die alle Fibern ergreift und krampfhaft erschüttert -- tief aus der Brust zieht er den Atem, Tropfen stehen auf der Stirn; er deutet das Eintreten des Tutti und andere Hauptstellen an; seine rechte Hand verläßt den Takt nicht, mit der linken holt er sein Tuch hervor und fährt damit über das Gesicht. -- So belebte er das Skelett, welches jene paar Violinen von der Ouvertüre gaben, mit Fleisch und Farben. Ich hörte die fanfte, schmelzende Klage, womit die Flöte emporsteigt, wenn der Sturm der Violinen und Bässe ausgetobt hat und der Donner der Pauken schweigt; ich hörte die leise anschlagenden Töne der Violoncelle, des Fagotts, die das Herz mit unnennbarer Wehmut erfüllen; das Tutti kehrt wieder, wie ein Riese hehr und groß schreitet das Unisono fort, die dumpfe Klage erstirbt unter seinen zermalmenden Tritten. --

Die Ouvertüre war geendigt; der Mann ließ beide Arme herabsinken und saß mit geschlossenen Augen da, wie jemand, den eine übergroße Anstrengung entkräftet hat. Seine Flasche war leer; ich füllte sein Glas mit Burgunder, den ich unterdessen hatte geben lassen. Er seufzte tief auf, er schien aus einem Traume zu erwachen. Ich nötigte ihn zum Trinken; er tat es ohne Umstände, und indem er das volle Glas mit einem Zuge hinunterstürzte, rief er aus: "Ich bin mit der Aufführung zufrieden! das Orchester hielt sich brav!"

 

3. Glucks Gesang des Chores der Priesterinnen
aus der "Iphigenia in Tauris"

Es wurden in den ersten zwei Szenen zwei verschiedene Arten von Rezeption beschrieben. Hier in der dritten Szene kommt nun noch eine andere Komponente hinzu. Der Erzähler und Gluck unterhalten sich über die Berliner, und als Reaktion darauf erklärt Gluck nicht was er gegen die Berliner hat, sondern beginnt "kaum vernehmlich den Chor der Priesterinnen aus der Iphigenia in Tauris " zu singen; Er verwand allerdings "gewisse andere Wendungen der Melodien, die durch Kraft und Neuheit frappierten". Die Interpretation , dass dies in Anlehnung an die Reventanttheorie der Deutung der Titelfigur als eine Wiederbelebung der Werke in der Berliner Aufführungspraxis durch neues und innovatives halte ich für zweitrangig.

Vielmehr liegt diese Auffassung von Musik doch ganz im Sinne der Schlegelschen Romantik, wo ein Werk niemals abgeschlossen ist, dass jeder der darauf trifft es weiterführen kann. Denn nichts hat eine feste Bedeutung, das Werk kann nicht in einem bestimmten Bedeutungssystem festgehalten werden. [3]

Er stand auf und ging einige Male heftig auf und ab; dann trat er ans Fenster und sang kaum vernehmlich den Chor der Priesterinnen aus der "Iphigenia in Tauris", indem er dann und wann bei dem Eintreten der Tutti an die Fensterscheiben klopfte. Mit Verwundern bemerkte ich, daß er gewisse andere Wendungen der Melodien nahm, die durch Kraft und Neuheit frappierten. Ich ließ ihn gewähren. Er hatte geendigt und kehrte zurück zu seinem Sitz. Ganz ergriffen von des Mannes sonderbarem Benehmen und den phantastischen Äußerungen eines seltenen musikalischen Talents, schwieg ich. Nach einer Weile fing er an:  

4. Der Prozess des Schaffens

Ort des Schaffens ist das "Reich der Träume", eine Art Gegenwelt zur Wirklichkeit. Es ist eine Art synästhetischer Zustand, alles ist irgendwie gleichzeitig, ist Wahrheit und Einheit, dem alles Schaffen entspringt. Der Künstler sieht hier die Künste ineinander greifen, sieht sie in ihrem ursprünglichem einheitlichem Zustand. Er erkennt die Dinge in Ihrem ursprünglichem Zustand und benutzt die Literatur als Verbindendes Element. Will der Künstler nun aber das hier gesehene in die Wirklichkeit transferieren mit Hilfe der Literatur, so stößt er auf die Unzulänglichkeit der Wortsprache. Diese muss also potenziert werden. [4]

Die Erzählsituation im "Ritter Gluck", in der der Unbekannte von diesem "Reich der Träume" spricht kann auch als ein Mythos vom Schaffen betrachtet werden. Die Einführung des Begriffs Mythos Erleichtert noch einmal das Verstehen von dem, wovon in ihm die Rede ist.  Dem Mythos ist es möglich Unfassbares und Unmögliches greifbar zu machen. Er vermag es Grenzen des nicht sagbaren zu überschreiten, und diese somit erträglich zu machen. Die Form des Mythos unterstützt also die Musik als Sprache der Synästhesie. Dieser Mythos vom Schaffen berichtet darüber, wie der Künstler zu seinem Werk gelangt. [5]

 

5. Kritik am Berliner Musikgeschehen

Diese Schilderung spielt sich mehr indirekt ab. Hier erklärt sich Glucks Aversion gegen die Berliner allgemein als ein Aversion gegen zeitgenössisches Künstlertum, sowie gegen die Aufführungspraxis des öffentlichen Theaterbetriebs. Es ist gleichzeitig auch ein direkter Ausspruch der in den ersteren Szenen schon indirekten Kritik einer distanzierten Rezeption. Erst durch ein enthusiastisches Herangehen an das Werk, wie es in der Szene zuvor der Fall ist wird ein Rezeption authentisch. Hoffman verurteilt hier ganz stark den Umgang der Öffentlichkeit und auch der modernen Komponisten mit großen Werken, wie er es im Musikgeschehen Berlins erleben musste, wo er "die hohen Meisterwerke Mozarts erst auf dem Theater mißhandeln sah´und dann darüber so gemein aburteiln hörte als wären es Exercitia eines Anfängers", wo die Iphigenia Ouvertüren vertauscht wurden, so dass nicht nur ihre Wirkung verloren ging, sondern vielmehr auch die Mischung beider Werke an der Intension Glucks vorbeigeht. [6]

 

6. Rezeption von Glucks Armida
auf der Berliner Opernbühne

In dieser Szene werden die Aufführungskritik und die Rezeptionsdarstellung zusammengeführt. Gluck zeichnet oder vielmehr reproduziert das Bühnengeschehen einer Armida Aufführung in seinem musikalisch- dramatischem Verlauf. Rezipierend wohnt er der Verstümmelung seiner Werke bei, verstärkt wird hier noch einmal auf das Schicksal seiner Werke hingewiesen, indem Gluck aufschreit "Welcher böse Geist hat mich hier festgebannt?" [7]

 

7. Reproduktion der Armida Ouvertüre

Hier in dieser Szene werden die Worte des Unbekannten aus dem Schaffensmythos deutlich. Meisterhaft spielt er die Ouvertüre der Armida von leeren Blättern ab, und behauptet "alles dieses, mein Herr, habe ich geschrieben, als ich aus dem Reich der Träume kam." In dieser Szenerie trifft noch mehr zusammen, als Kritik an den "Unheiligen", denen er "Heilige" gegeben hat.[8] Mit dieser Reproduktion übt er nicht nur Kritik am zeitgenössischem Missbrauch der Musik, er versucht sie sogar zu revidieren, indem er von leeren Notenblättern spielend den Akt der schriftlichen Festlegung zurück nimmt, und sich so an den Ort  des Augenblicks der Schöpfung transferiert.[9] Er steigert das Werk, das in seiner wahren Wirkungsgeschichte von der Statik des Notenbildes zu einer dynamischen, sich selbst steigernden Produktion.[10]

 

 Weiter zu den Punkten:

  1. Intermedialität
  2. Synästhesie
  3. Musikalische Szenen
  4. Interpretation der Titelfigur Gluck

__________________________________________________________                                

[1] Rüdiger, S.32
[2] Rüdiger, S.33
[3] Rüdiger, S.33-34
[4] Bomhoff, S.36
[5] Lubkoll, S.12
[6] Rüdiger, S. 34
[7] Rüdiger, S.34-35
[8] Rüdiger, S.36
[9] Lubkoll, S. 269
[10] Rüdiger, S. 37

Das Fach- und Kulturportal der Goethezeit