Goethezeitportal.de

 

Inhalt

 

Goethe, Schiller und die Goethezeit auf Google+

Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Das musikalische Literaturbild

Mit E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Die Fermate" liegt uns ein intermedial verwobener Text vor, in dem der Dichter, der auch Musiker und Maler war, Malerei, Musik und Literatur kunstvoll miteinander verknüpft und somit im Grunde mehr als eine Erzählung geschaffen, sondern ein "Literaturbild []komponiert"[1] hat. Diese Verflechtung der Künste wird von Beginn an deutlich:[2]

Mit der Beschreibung eines Gemäldes, nämlich Johann Erdmann Hummels "Gesellschaft in einer italienischen Lokanda", setzt die Erzählung ein, welche jedoch nicht mit dem eigentlichen Bildtitel, sondern mit dem musikwissenschaftlichen Terminus "Die Fermate" überschrieben ist. Tatsächlich zeigt das Gemälde auch eine Szene des Musizierens, die "Aug' und Gemüt" (FM, 31) erlustigen soll. Das Bild, "getreu eine Szene" (FM, 32) aus dem Leben des Betrachters Theodor darstellend, erweckt dessen Erinnerung an seinen künstlerischen Reifeprozess "wie durch einen Zauberschlag" (FM, 33), so dass er seinem Freund Eduard seine Jugendgeschichte zu erzählen beginnt. Somit sind Malerei, Musik und Literatur von Beginn an miteinander untrennbar verwoben, in Form der Beschreibung/Betrachtung des eine musizierende Gruppe darstellenden Gemäldes, mit welcher die Erzählung für den Leser eingeleitet wird, und die zugleich innertextlich die musikalische "Initiationsgeschichte"[3] Theodors auslöst.
Mit der dem Gemälde zugeschriebenen Wirkungsabsicht "Aug' und Gemüt" zu erlustigen, sowie im Rahmengespräch der Freunde thematisiert Hoffmann darüber hinaus zwei Möglichkeiten der Kunstbetrachtung, die zugleich zwei Lesarten des Textes implizieren: Eduard betrachtet das Bild auf eine oberflächliche, tatsächlich nur das "Aug'" erlustigende Weise, bewundert die realitätsnahe Darstellung und versteht es als "kulinarische[] Anregung"[4]. Im Gegensatz dazu steht Theodor: Sein Auge verweilt nicht auf der Oberfläche, dem Bildvordergrund, sondern dringt in das Bildinnere ein, in den Laubgang mit Reiter, in dem er sich selbst erkennt und worüber seine Erinnerung geweckt wird. Das Innere, der Kern des Bildes löst also zugleich im Inneren des Betrachters etwas aus, wirkt auf dessen "Gemüt", was das "echte[] Kunstsehen"[5] nach Hoffmann ausmacht.

Nur die eindringliche Betrachtung, und auf den Leser übertragen heißt das, das sich in den Text vertiefende Lesen, führt zum Kern der Aussage, zum Gesamtzusammenhang. Auf eine solche Art der Kunstbetrachtung aus der richtigen Perspektive lässt sich auch die Form der Fermate selbst im Gemälde erkennen, nämlich im Halbrund des Laubendachs und dem darunter gesetzten Reiter als fermatischer Punkt. Das Gemälde stellt also nicht nur, wie auf den ersten Blick ersichtlich, eine musikalische Szenerie dar, sondern weist darüber hinaus auch die architektonische Form des Fermatenzeichens auf. Ebenso wie der Bildbetrachter über die ins Bildinnere weisende Hand der einen Frauenfigur auf den Punkt der Fermate, nämlich den Reiter, geführt wird, geschieht dies beim Leser über die Bildbeschreibung, die mit dem Reiter endet.

Diese Betonung des Bildhintergrunds geht einher mit der Betonung der Hintergrundgeschichte des Gemäldes in Theodors Erzählung: Der Rückblick in seine Jugend bis hin zum Wiedersehen mit den Sängerinnen bildet den eigentlichen Kern der Erzählung, an deren Ende erst deutlich wird, dass der Binnenerzähler, die Hauptfigur Theodor, identisch mit dem Reiter ist. Damit findet eine doppelte "Innenschau"[6] statt, nämlich sowohl im Bild als auch im Text in Form der Erinnerung Theodors. Der vermeintliche - gemalte wie erzählte - Hintergrund des Bildes entpuppt sich letztlich als Bild- und Textzentrum, wobei dieser intermediale Zusammenhang dem Leser erst spät verdeutlicht wird: Erst am Ende der Erzählung seiner künstlerischen "Initiationsgeschichte"[7] schlägt Theodor den (Fermaten-)Bogen zur gemalten Szenerie. Aus der Rückschau des Lesers seinerseits nun, aus der "umgekehrten Perspektive"[8], fügen sich Bild, Text und Musikthematik zu einer wohlgerundeten Erzählung, einem musikalischen "Literaturbild"[9] zusammen: "Sonderbar, aber ziemlich plausibel" (FM, 54), wie der Leser zusammen mit Eduard am Ende sagen kann.

Das Projekt untersucht "Die Fermate" insbesondere unter dem Aspekt der musikalischen Dichtung, d.h. in Hinblick auf die vielfältigen Musik-Text-Relationen. Aufgrund der vielschichtigen Verwobenheit von Bild, Text und Musik, welche die Besonderheit der Erzählung ausmacht, soll jedoch auch der intermediale Gesamtzusammenhang hervorgehoben und dem Leser eine andere Betrachtungsweise der Hoffmannschen Erzählung vorgeführt werden. 

 

Die Bedeutung des Augenblicks

Von zentraler Bedeutung für das tiefere Verständnis der "Fermate" als literarisch-malerische Komposition ist der Begriff des Augenblicks, der sich mit der Bedeutung der Fermate als musikwissenschaftlicher Terminus verschränkt.[10] 

Der wortwörtliche Blick der Augen und der Augenblick als Moment der Entscheidung spielen eine wichtige Rolle in der Künstlerentwicklungsgeschichte Theodors. Gleich zu Beginn der Erzählung wird in der Beschreibung des Bildes die Improvisationskunst der Sängerin als der "wichtigste[] höchste[] Moment" (FM, 31) bezeichnet. Dies ist, wie sich im Laufe der Handlung herausstellt, in doppeltem Sinne der Fall:

Musikalisch als die Betonung eines besonderen Augenblicks im Lied durch die Improvisation einer Kadenz, welche die Fermate per definitionem kennzeichnet. Zugleich ist dieser künstlerische Moment für Theodor aber auch der Augenblick der Erkenntnis, die ihn während des Innehaltens der Sängerin in ihrer Kadenz ereilt. Dieser Erkenntnismoment  der Fermate vollzieht sich insgesamt drei mal in der Erzählung. Als erstes löst die Betrachtung des Hummelschen Gemäldes Theodors Erinnerung an seine Jugend und damit künstlerische Entwicklungsgeschichte aus, da er in jenem "wichtigsten höchsten Moment" der Sangeskunst "getreu eine Szene aus [s]einem Leben mit völliger Porträtähnlichkeit der handelnden Personen" (FM, 32 f.) erkennt. Diese beim Anblick des Gemäldes "wie durch einen Zauberschlag geweckt[e]" (FM, 33) Erinnerung ist zugleich die Vorgeschichte des Gemäldes, die er seinem Freund Eduard erzählt. Darin wird der Erkenntnis- und damit Initiationsmoment Theodors für seine Entwicklung zum Komponisten deutlich: Es ist der Gesang, genauer gesagt die Fermatenkunst, die Kunst der Improvisation Laurettas, welche die "innere Musik" (FM, 38) Theodors erweckt,[11] der sich daraufhin von der strengen Kompositionslehre seines Klavierlehrers trennt und sich dem Studium einer neuen Art der Komposition widmet:

Ganz leise fing Lauretta den Ton an, den sie aushielt bis zum Fortissimo und dann schnell losbrach in eine kecke krause Figur durch anderthalb Oktaven. [...] sowie Lauretta immer kühner und freier des Gesanges Schwingen regte, wie immer feuriger funkelnd der Töne Strahlen mich umfingen, da ward meine innere Musik, so lange tot und starr, entzündet und schlug empor in mächtigen herrlichen Flammen. Ach! - ich hatte ja zum ersten mal in meinem Leben Musik gehört. [...] ich ergriff alle Tokkaten und Fugen, die ich zusammengedrechselt, ja sogar fünfundvierzig Variationen über ein kanonisches Thema, die der Organist komponiert [...], warf alles ins Feuer und lachte recht hämisch, als der doppelte Kontrapunkt so dampfte und knisterte. [...] Ich fing an das Italienische zu studieren und mich in Kanzonetten zu versuchen."

(FM, 37 f., 40).

 

Dieser Erkenntnismoment hat weitere Entscheidungen des jungen Protagonisten zur Folge: Er verläßt sein Heimatstädtchen zusammen mit den Italienerinnen, um sich ausschließlich dem Studium der Musik zu widmen und erkennt bald darauf in Teresinas Sangeskunst die "wahre Musik" (FM, 40).[12] Avancierte auf den ersten Blick Lauretta zu seinem "Ideal" (ebd.), ist es auf den zweiten die ernste Schwester, von der er "kein Auge" (FM, 43) mehr wenden kann, und die seine weitere musikalische Entwicklung nachhaltig beeinflußt, so dass er "manch hohes ernstes Lied" (FM, 44) komponiert. Diese Erkenntnis kulminiert beim Benefiz-Konzert, als Theodor die "letzte Fermate" (FM, 44) Laurettas schlichtweg "zu lang" erscheint und er - Teresina buchstäblich hinter sich wissend - diesen "höchsten Moment" (FM, 45) abrupt unterbricht:

"Die letzte Fermate trat ein. Lauretta bot alle ihre Kunst auf, Nachtigalltöne wirbelten auf und ab - aushaltende Noten - dann bunte krause Rouladen, ein ganzes Solfeggio! In der Tat schien mir das Ding diesmal beinahe zu lang, ich fühlte einen leisen Hauch; Teresina stand hinter mir. In demselben Augenblick holte Lauretta aus zum anschwellenden Harmonika-Triller, mit ihm wollte sie in das a tempo hinein. Der Satan regierte mich, nieder schlug ich mit beiden Händen den Akkord, das Orchester folgte, geschehen war es um Laurettas Triller, um den höchsten Moment, der alles in Staunen versetzen sollte."

(FM, 44 f.; Hervorhebung d. Verf.).

 

Teresina, bzw. ihr Idealbild in Theodors Innerem, ist von diesem Moment an - trotz ihres kurz darauf folgenden Verrats seiner Gefühle gegenüber dem italienischen Tenor (vgl. FM, 47 f.) - die Leitfigur der folgenden Jahre: Ihr Bild tritt im "Augenblick des Schaffens [...] recht klar und farbicht aus meinem Innern hervor." (FM, 49).

Der dritte Erkenntnismoment der Fermate vollzieht sich "vierzehn Jahre" (FM, 52 f.) nach dem Verlassen der Schwestern beim überraschenden Wiedersehen mit ihnen in einer italienischen Lokanda: Hier erkennt Theodor "auf den ersten Blick" (FM, 51) Lauretta und Teresina wieder und erlebt in der Szene mit dem Abbaten, die sich vor seinen Augen abspielt, seine eigene Handlung nochmals, da es nun der Abbate ist, der Laurettas Fermate "zu unrechter Zeit" (ebd.) beendet. Auf dieser letzten Etappe seiner Erkenntnisgeschichte kann Theodor aus der Distanz zu seiner eigenen Handlung und "das Übergewicht"  fühlend, "das die an mancher Lebens- und Kunsterfahrung reichen Jahre mir über sie gegeben hatten" (FM, 52) das Jugenderlebnis mit den Schwestern als "spaßhaft[es]" Abenteuer (ebd.) betrachten. Nun ist er mit dem Selbstbewußtsein  des gereiften Künstlers sicher:

",Und gut war es doch [...], daß ich hineinschlug in die Fermate [...].'" (ebd.).

 

Diese Erkenntnis, d. h. die erneute Konfrontation mit dem eigenen Fermatenerlebnis und den Schwestern, zieht jedoch eine weitere Einsicht des Künstlers nach sich, die er im Gespräch mit Eduard, also aus einer nochmals distanzierten Perspektive zum letzten Ereignis, deutlich macht: Das Wiedersehen mit den Sängerinnen, die Konfrontation mit den in der Realität gealterten Frauen, zerstört das innere Idealbild von ihnen, das Theodor sich bewahrt hatte als "himmelherrliche[n] Ton", der fortlebte "in ewiger Jugendfülle und Schönheit" (FM, 54) und aus dem er als Komponist seine Melodien schöpfen konnte. Das Ideal kann der Wirklichkeit nie standhalten, und Theodor ist sich nun erst, im reflektierenden Moment der Desillusionierung, der Bedeutung eines verklärten und dadurch inspirierenden Idealbildes für seine Kunstproduktion bewußt.[13] 

Der Fermatenmoment ist jedoch nicht nur für Theodor ein Augenblick der Erkenntnis, sondern in gewisser Weise auch für den Leser, der an jener Stelle, als Theodor die Szene in der Lokanda schildert, den Bezug zur Gemäldebeschreibung am Beginn der Erzählung herstellen kann und darauf explizit zusammen mit Eduard hingewiesen wird:

"Übrigens siehst Du, daß die Gesellschaft, zu der ich trat, eben diejenige ist, welche Hummel malte, und zwar in dem Moment, als der Abbate eben im Begriff ist, in Laurettas Fermate einzuschlagen."

(FM, 52).


Die Fermate ist damit sowohl in der Erzählung als auch in ihrer architektonischen Form betrachtet "Kern- und Aussagepunkt des Literaturgemäldes":[14]

Das Gespräch der Kunstfreunde umrundet - bildlich ausgedrückt - Theodors Erinnerung wie ein Fermatenbogen den darunter liegenden Kern, bzw. Fermatenpunkt. Der Fermaten- und Erkenntnismoment wiederholt sich innerhalb der Erzählung mehrmals für Theodor, so dass sich von einer kanonartigen Erzählstruktur sprechen läßt, und nicht zuletzt stellt sich auch beim Leser die Erkenntnis über den Gesamtzusammenhang von Text, Bild und Musik ein, den E.T.A. Hoffmann kunstvoll über den Augenblicksbegriff komponiert hat.

 

Die richtige Perspektive

Für das Verständnis des Hoffmannschen Kunstsehens und -verstehens und damit der "Fermate" ist die Erkenntnis der intermedialen Verwobenheit von Text, Bild und Musik ausschlaggebend - was bereits die Untersuchung des zentralen Augenblick-Begriffs gezeigt hat. In enger Verbindung damit steht Hoffmanns "Konzept der Blickpunktsprünge"[15], mit welchem er sein musikalisches Literaturgemälde "Die Fermate" gleichsam komponiert hat. Dieses Konzept wird gleich zu Beginn der Erzählung in der staccatoartigen Beschreibung des Bildes deutlich:

"- Eine üppig verwachsene Laube - ein mit Wein und Früchten besetzter Tisch - an demselben zwei italienische Frauen einander gegenübersitzend - die eine singt, die andere spielt Chitarra - zwischen beiden hinterwärts stehend ein Abbate, der den Musikdirektor macht. Mit aufgehobener Battuta paßt er auf den Moment, wenn Signora die Kadenz, in der sie mit himmelwärts gerichtetem Blick begriffen, endigen wird im langen Trillo, dann schlägt er nieder, und die Chitarristin greift keck den Dominanten-Akkord. - Der Abbate ist voll Bewunderung - voll seligen Genusses - und dabei ängstlich gespannt. - Nicht um der Welt willen möchte er den richtigen Niederschlag verpassen. Kaum wagt er zu atmen. Jedem Bienchen, jedem Mücklein möchte er Maul und Flügel verbinden, damit nichts sumse. Um so mehr ist ihm der geschäftige Wirt fatal, der den bestellten Wein gerade jetzt im wichtigsten höchsten Moment herbeiträgt. - Aussicht in einen Laubgang, den glänzende Streiflichter durchbrechen. - Dort hält ein Reiter, aus der Lokanda wird ihm ein frischer Trunk aufs Pferd gereicht." (FM, 31).

 

Die Gedankenstriche, welche die parataktischen Sätze beenden, funktionieren hier nicht nur einer Fermate in einem Musikstück ähnlich - nämlich dieses akzentuierend bzw. den Schluß markierend -, sondern sind auch auf die Augen, den Blick des Bildbetrachters übertragbar: Jeder Gedankenstrich deutet einen Blickpunktsprung des Betrachters und damit des Lesers zum nächsten Objekt an. Mit dieser musikalischen Art der Beschreibung malt Hoffmann gleichsam vor den Augen des Lesers das Hummelsche Gemälde. Damit dem Leser jedoch "Die Fermate" insgesamt als Literaturgemälde augenfällig werden kann, ist er zum aufmerksamen Mitvollzug des ausgefeilt komponierten Textes aufgefordert, der in sich aus Blickpunktsprüngen und einem damit verbundenen Perspektivwechsel vom Vorder- zum Hintergrund aufgebaut ist. Einen ersten Hinweis auf die Art dieses Wechsels gibt wiederum die einleitende Beschreibung des Bildes, die über die Architektur der Räumlichkeit, nämlich die "üppig verwachsene Laube", zum Bildvordergrund springt, um das musikalische Geschehen um den Tisch herum zu verdeutlichen, und zuletzt auf den Hintergrund, in den Laubgang mit Reiter weist. Das Gemälde dann tatsächlich vor Augen, kann man aus dieser Beschreibungsreihenfolge das Fermatenzeichen als Bild im Bild erkennen:

Die Rundung der Laube entspricht dem Fermatenbogen, der Reiter im Hintergrund dem fermatischen Punkt darunter. Im Fortgang der Erzählung wird dann klar, dass der Reiter im Hintergrund des Bildes der eigentliche Mittelpunkt ist, die Hauptfigur Theodor nämlich:

"[...] als ich vor zwei Jahren Rom verlassen wollte, machte ich zu Pferde einen kleinen Abstecher. Vor einer Lokanda stand ein recht freundliches Mädchen, und es fiel mir ein, wie behaglich es sein müsse, mir von dem niedlichen Kinde einen Trunk edlen Weins reichen zu lassen."

(FM, 50; Hervorhebung d. Verf.).


Auf die Weise der eingangs erläuterten Bildbeschreibung wird also mit jedem Gedankenstrich die Perspektive vom Vordergrund auf den eigentlich zentralen Hintergrund gelenkt. Äquivalent dazu verschiebt sich die Perspektive auch im Laufe der Erzählung allmählich - nämlich von der Vorgeschichte (= Jugenderinnerung Theodors) der gemalten Szenerie bis zu ihrem tatsächlichen Stattfinden mit Theodor als beobachtender Reiter im Laubgang. Dem Leser kann dieser Zusammenhang jedoch nur am Ende der Erzählung und im vergleichenden Rückblick auf Handlung und Bild deutlich werden.[16] Zugleich wird dann erkennbar, dass damit auch Theodor die Perspektive wechselt: Zunächst wird er zusammen mit seinem Freund Eduard als Betrachter des Gemäldes geschildert. Dieses wirkt jedoch - im Gegensatz zu seinem Begleiter - nicht nur auf sein "Aug'", sondern auch auf sein "Gemüt" (FM, 31), sein Inneres. Er erkennt darin eine Szene aus seinem Leben wieder, welche in ihm die Erinnerung an seine künstlerische Entwicklungsgeschichte "wie durch einen Zauberschlag" (FM, 33) weckt. Im Zuge der darauf folgenden Erzählung über die Entzündung seiner "innere[n] Musik" (FM, 38), bewegt sich Theodor allmählich von seiner Rolle des äußeren Betrachters weg und erzählt sich gleichsam in das Bild hinein:

"Ich stieg vom Pferde und näherte mich langsam und auf jeden Ton lauschend der Weinlaube, aus der die Musik zu ertönen schien."

(FM, 50; Hervorhebung d. Verf.).

 

Hier vollzieht sich der oben bereits angedeutete Wechsel von der Außenperspektive zur Innenperspektive, vom betrachtenden Erzähler Theodor zum Reiter im Bild, und der "Zusammenhang" der Erinnerungsgeschichte "mit dem himmlischen Bilde" (FM, 49) wird klar. Am Ende jedoch wechselt Theodor erneut die Perspektive, im Augenblick seiner letzten Erkenntnis, nämlich der des gereiften Künstlers: 16 Jahre nach seinem Initiationserlebnis mit Lauretta und zwei Jahre nach der Wiederbegegnung mit den Schwestern, also zum Zeitpunkt der Gemäldebetrachtung 1814 (vgl. FM, 31, 50, 52 f.), hat Theodor - nachdem er seine eigene Geschichte in seiner Erzählung nochmals nachvollziehen konnte - die nötige Distanz zum Geschehen, um somit aus der erneuten Außenperspektive seine Erlebnisse mit Humor aber auch desillusioniert über das unkittbare Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit zu beurteilen.[17] Durch das Wiedersehen mit den einst inspirierenden, doch nun gealterten Sängerinnen ist seine "innere Melodie [...] zerbrochen[]", und

"[d]er Zauber ist vernichtet [...]. - Glücklich ist der Komponist zu preisen, der niemals mehr im Leben die wiederschaut, die mit geheimnisvoller Kraft seine innere Musik zu entzünden wußte."

(FM, 54; Hervorhebung i. Orig.).

 

Aus der 'richtigen' Perspektive "Die Fermate" betrachten - das heißt für den Leser, erstens den vermeintlichen Bildhintergrund, den Reiter unter dem Laubgang, als den tatsächlichen Vordergrund zu erkennen, worauf bereits die einleitende Bildbeschreibung über die Blickpunktsprünge weist. Theodor steht schließlich im Mittelpunkt der "Fermate", und das in doppeltem Sinne: sowohl in der Handlung als auch zeichenhaft als Punkt (= Reiter) unter dem Rundbogen. Und zweitens vollzieht sich mit dieser Bildinnenschau auch der Perspektivwechsel Theodors vom Bildbetrachter in sein Inneres, um schließlich aus dieser Reflexionssituation zu einer letztendlichen Distanz zum Geschehen zu finden. Am Ende wird der Leser mit dieser doppelten Erkenntnis  gemeinsam mit Theodors Gesprächspartner Eduard zum "begreifende[n] 'Kunstseher'"[18] und als solcher sagen können:

"Sonderbar, aber ziemlich plausibel" (FM, 45).

  1. Funktion der Integration der Malerei

  2. Johann Erdmann Hummel: Die Fermate 

  3. Das musikalische Literaturbild: "Aug' und Gemüt ... erlustigend" 

  4. Die Musik in der Fermate: Untersuchung der Musik-Text-Relationen 

  5. Die Hoffmansche Kunst sehen, lesen, hören - verstehen 

  6. Bibliographie

________________________________________________________

[1] Klier, S. 162
[2] Vgl. im Folgenden Klier, S. 110 f.; S. 118-127
[3] Klier, S. 127
[4] Klier, S. 122
[5] Ebd.
[6] Klier, S. 125
[7] Klier, S. 127
[8] Klier, S. 110
[9] Klier, S. 162 (Hervorhebung d. Verf.)
[10] Vgl. dazu im Folgenden Klier, S. 132-135
[11] Vgl. Klier, S. 144
[12] Vgl. Klier, S. 146
[13] Vgl. Dobat, S. 213, 224
[14] Klier, S. 158, vgl. S. 162
[15] Klier, S. 139; vgl. im Folgenden S. 140-142
[16] Vgl. Klier, S. 110
[17] Vgl. Klier, S. 143, 160-162
[18] Klier, S. 161

________________________________________________________

Kerstin Windisch: Integration von Elementen der Bildenden Kunst und der Musik dargestellt an E.T.A. Hoffmanns  "Die Fermate" - Das musikalische Literaturbild. 29.01.2003.

Das Fach- und Kulturportal der Goethezeit