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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Illusion und Wirklichkeit – Verwandlungsprozesse und Perspektivenwechsel

„Der Herr ist wohl nicht recht bei Troste!“ (GT, S. 14) So oder ähnlich ist die übliche Reaktion der bürgerlichen Welt auf Anselmus „Ausbrüche“. So „dringt Alltagsrede und ein Appell des gesunden Menschenverstandes an sein Ohr, genug, um ihm die gewohnte Realität zu vergegenwärtigen und ihn zu ernüchtern.“ [1]

„Anselmus war es so, als würde er aus einem tiefen Traum gerüttelt oder gar mit eiskaltem Wasser begossen, um ja recht jähling zu erwachen.“ (GT, S. 14f) Anselmus war also scheinbar wirklich „von Sinnen“, d. h. er war sich seines Tuns und Treibens nicht recht bewusst und wird durch die philisterhafte Stimme der Vernunft, mal verkörpert durch eine „ehrbare Bürgersfrau“ (GT, S. 14), mal durch Konrektor Paulmann, der ihn stets mit „Lehren“ und „Ermahnungen“ (vgl. GT, S. 45) versorgt, aus seinen Träumen gerissen. Auf die Ernüchterung folgt die Desillusionierung [2]: „[nun] sah er erst wieder deutlich, wo er war, und besann sich, wie ein sonderbarer Spuk ihn geneckt und gar dazu getrieben habe, ganz allein für sich selbst in laute Worte auszubrechen.“ (GT, S. 15)

Die Wahrnehmung bewegt sich zeitweise auf der Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit. Da die Wahrnehmungserlebnisse jedoch das Ergebnis von Interpretationen sind, bedeutet das folglich, dass sich die Wahrnehmung je nach der Perspektive, die der Beobachter einnimmt, ändern kann und die Bewusstseinsinhalte, unsere Erlebniswelt also, von unserem Geist hervorgebracht wird. [3]

Bei der Interpretation der Sinneseindrücke spielen Faktoren wie Emotionen, Kohärenz (d.h. der innere Sinnzusammenhang), aber auch gesellschaftliche Determinationen eine Rolle. Dies führt einerseits zu einer starken Selektion im Wahrnehmungsprozess, andererseits auch zu einer eventuellen rückwirkenden Uminterpretation des Wahrgenommenen.  

Als Beispiel für derartige „Verwandlungsprozesse“, Perspektivwechsel und selektive Wahrnehmungen, die Illusionen und Halluzinationen generieren oder auch auflösen, dienen drei Szenen aus dem „Goldnen Topf“:

1. die beiden Episoden im Garten des Archivarius Lindhorst in der sechsten und der neunten Vigilie
2. Veronikas Tagtraum in der fünften Vigilie
3. Anselmus Gefangenschaft in der Flasche in der zehnten Vigilie.

 

Der Garten des Archivarius Lindhorst

Auf den ersten Blick scheint das Wunderbare im „Goldnen Topf“ nichts anderes zu sein, als Halluzination. Es ist inkonsistent, nicht greifbar, sondern nur visionär schaubar und mit der normalen sinnlichen Wahrnehmung nicht fassbar. [4] Und doch wird klar, dass die Existenz des Wunderbaren mit einem Wechsel der Perspektive zusammenhängt. [5]

Dieser Perspektivenwechsel lässt sich am Beispiel der beiden grundverschiedenen Erscheinungsformen des Gartens im Hause Lindhorsts aufzeigen. Das eine Mal erscheint er Anselmus als wundersamer Zaubergarten (vgl. GT, S. 60f und die Ausführungen zu den Grenzen zwischen Imagination und Wirklichkeit), das andere Mal als gewöhnlicher Hausgarten, der all seinen seltsamen Reiz verloren hat (vgl. GT, S. 101).

„Wie sehr sich die Gegenstände der höheren Welt dem sinnlichen Zugriff entziehen, bezeugen sowohl ihre ständigen Verwandlungen wie die Synästhesien, in denen sie zu Anselmus sprechen. Verschmelzungen von Sinneseindrücken verschiedener Qualität erschließen sich nicht den einzelnen fünf Sinnen, von denen jeder nur das aufzunehmen vermag, was ihm adäquat ist, sondern einem Sensorium, in dem sich die Einzelsinne zu einer höheren Einheit zusammengeschlossen haben [...]. Sobald Anselmus seinen Blick aufs Sehen einschränkt oder sein Gehör auf Laute, ist das Wunderbare auch schon verhüllt und verstummt, mit der Folge, dass er sich getäuscht glaubt.“ [6]

Daher rührt für die Angehörigen der bürgerlichen Welt wie auch für Anselmus selbst bis zu seiner Wandlung der Eindruck, als sei er von Sinnen, als „rappelt’s [ihm] im Kopfe“ (GT, S. 97), denn seine wundersamen Erlebnisse übersteigen das von Vernunft geprägte Bewusstsein.

„Die visionäre Macht, die Anselmus die Anschauung des Übernatürlichen vermittelt, scheint in der Tat in den tiefen des Unbewussten zu wohnen, dort, wo die Träume schlummern, denn wie er während des Erlebnissen sich seiner selbst kaum jemals bewusst ist, so erwacht er am Ende auch immer wie aus einem Traum.“ [7]

 

Veronikas Tagtraum

Nicht nur Anselmus muss sich mit der Existenz des Wunderbaren, sei es nun als Illusion oder als faktische Wirklichkeit, auseinandersetzen. Auch Angehörige der bürgerlichen Sphäre werden zuweilen „am hellen Tage von einer sonderbaren Gespensterfurcht [...] übermannt“ (GT, S. 49f). So geschieht es Veronika, die sich in der fünften Vigilie einem (zuerst) angenehmen Tagtraum hingibt, in dem sie sich als Gattin des künftigen Hofrats Anselmus sieht.

Sie lässt sich so sehr von ihren lebhaften Phantasien mitreißen, dass sie ihr schließlich ganz real erscheinen. Als sie über die phantasierten Ohrringe, ein Geschenk des ebenfalls erträumten Gatten, so sehr in Verzückung gerät, dass sie laut „Ach, die schönen, niedlichen Ohrringe“ (GT, S. 47) ruft, sogar aufspringt um die erdachten Schmuckstücke wirklich im Spiegel zu bewundern (vgl. ebd.), reizt dies ihren Vater Konrektor Paulmann zu dem Ausspruch „man hat ja Anfälle wie der Anselmus“ (ebd.).

Veronika wird  von ihren Träumereien so gefangen genommen, dass sie in ihren Augen Wirklichkeit werden. Und das, obwohl sie weder von Natur aus zu „Halluzinationen“ neigt, im Gegensatz zu Anselmus, dessen „poetisches Gemüt“ (vgl. GT, S. 89) ihn dafür zu prädestinieren scheint, noch unter dem Einfluss halluzinogener Stoffe steht (vgl. im Gegensatz die Punschgesellschaft in der neunten Vigilie, GT, S. 96-100). Doch das ist nach heutigen Erkenntnissen nicht weiter verwunderlich, denn „[s]ogar vollständig halluzinierte Zustände werden körperlich erlebt, und dazu bedarf es keineswegs einer psychischen Störung, halluzinogener Drogen oder Traumerlebnisse.[...] Neurobiologische Versuche können mittlerweile auch belegen, dass bei Vorgängen der Imagination wieder der gesamte sensorische Apparat in Gang gesetzt wird, der die Analyse des ursprünglichen Sinnesreizes vorgenommen hat.“ [8] Das Bewusstsein greift also in diesem Fall auf eine Art Erinnerung zurück, ein bereits im Gedächtnis gespeichertes Modell, das abgerufen werden kann und sich bei seiner Aktivierung kaum von einem unmittelbaren Wahrnehmungsprozess unterscheidet. [9] Somit erlebt Veronika ihre Träumerei wirklich als real und ist sogar in der Lage, „halluzinierte“ Ohrringe zu sehen.

Als dann im nächsten Moment der echte Anselmus durch die Türe tritt und Veronika ihn „in seinem ganzen Wesen verändert“ (ebd.) findet, verwischt die Grenze zwischen (Tag-)Traum und Wirklichkeit zusehends. In Anselmus Verhalten erkennt Veronika bereits den angehenden Hofrat, auch scheint er in der Tat an ihr interessiert zu sein (vgl. GT, S. 47f). In ihren Hoffnungen bestätigt und durch Anselmus galantes Verhalten und zärtlichen Blick (vgl. ebd.) angetan, befindet sie sich in einem Zustand emotionaler Erregung.

Vielleicht lässt sich aus dieser Perspektive auch der folgende Abschnitt erklären, in dem Veronikas Tagtraum in einen Alptraum übergeht. Die starken Emotionen, die sich in ihr regen, beeinflussen ihre Wahrnehmung derart, dass ihre Selbstzweifel, die zuerst eher bildhaft in Form einer feindseligen Gestalt (vgl. GT, S. 48), die in ihrem Inneren zu ihr spricht, auftauchen, sich schließlich in ebendieser manifestieren, ja materialisieren und Veronika aus allen Ecken des Zimmers verspottet und verhöhnt.

„Aber hinter jedem Schränkchen, das Veronika wegrückte, hinter den Notenbüchern, die sie vom Klavier, hinter jeder Tasse, hinter der Kaffeekanne, die sie aus dem Schrank nahm, sprang jene Gestalt wie ein Alräunchen hervor und lachte höhnisch und schlug mit den kleinen Spinnenfingern Schnippchen und schrie: „Er wird doch nicht dein Mann!“ Und dann, wenn sie alles stehen und liegen ließ und in die Mitte des großen Zimmers flüchtete, sah es mit langer Nase riesengroß hinter dem Ofen hervor und knurrte und schnurrte: „Er wird doch nicht dein Mann!“ (GT, S. 48f)

Die furchtbare Erscheinung verflüchtigt sich erst, als sie durch die Ankunft der Freundinnen durchbrochen wird, munterer und lachender Mädchen (vgl. GT, S. 49), die Veronika aus ihrer Starre reißen:

„und in dem Augenblick wurde nun auch Veronika gewahr, dass sie den Ofenaufsatz für eine Gestalt und das Knarren der übel verschlossenen Ofentür für die feindseligen Worte gehalten hatte.“

So interpretiert Veronika ihr eben Erlebtes um und passt es den veränderten Rahmenbedingungen an. Durch das fröhliche und sorglose Auftreten ihrer Freundinnen aus ihrem Zustand der Selbstzweifel und namenlosen Furcht gerissen, verliert die Umgebung ihren Schrecken und alles nimmt wieder seine normale Gestalt an.

Veronikas Emotionen, ihre Ängste und Zweifel sind es, die ihr Bewusstsein derart beeinflussen, dass ihre Wahrnehmung sich an der Grenze zur Illusion bewegen. Als ihre Aufmerksamkeit von der Selbstwahrnehmung und dem Blick nach innen auf einen äußeren Reiz gelenkt wird, ändert sich auch ihre Stimmungslage, wenn auch langsam, und ihre veränderte Wahrnehmung führt zu einer neuen Interpretation des Wahrgenommenen. Die scheinbare Verwandlung der Gegenstände resultiert also aus einem Wechsel der Perspektive.

 

Anselmus Gefangenschaft in der Flasche

Immer wieder interpretiert Anselmus seine wunderbaren Erlebnisse rückwirkend als Illusion und Täuschung. Mehr als auf seine traumgleichen Visionen vertraut er auf seine tatsächliche Wahrnehmung. „Die Quelle dieses Vertrauens aber, das Organ, welches Anselmus rät, nichts zu glauben, als was ihm die Sinne vermitteln, ist nach Hoffmann die Vernunft.“ [10] Denn Anselmus ist ein „Kind der neuen Zeit“ [11], in der das Märchen angesiedelt ist. Die Vernunft meldet sich bei ihm „spontan wie ein Instinkt“ [12] und wirkt so seinem „poetischen Gemüt“ (vgl. GT, S. 89) entgegen. Somit erscheint Anselmus, aus der Perspektive der (bürgerlichen) Vernunft, das Wunderbare als unwirklich. Dabei ist die Wirklichkeit nicht mit Wahrheit gleichzusetzen. Denn „wahr“ kann etwas auch dann sein, wenn es nicht „wirklich“, das heißt sinnlich erfahrbar ist. [13] Dann wird diese Wahrheit entweder von der Vernunft als Täuschung deklariert, oder sie wird „zu einem Gegenstand des Glaubens“ [14].

Erst sein Glaube an die Existenz des Wunderbaren bietet Anselmus einen Ausweg aus seiner Gefangenschaft in der Flasche (vgl. Textauszug) und möglicherweise auch aus seinem „chronischen Dualismus“. 

Die Erfahrungen in seinem seltsamen Kerker sind es, die ihn letztlich von seinen immer wiederkehrenden Zweifeln befreien. Auf dem Regal, auf dem der Student gefangen ist, stehen außer der seinen noch fünf weitere Flaschen, in denen „drei Kreuzschüler und zwei Praktikanten“ (GT, S. 106) eingeschlossen sind. In der Unterhaltung, die Anselmus mit ihnen führt (GT, vgl. S. 105ff, [Link zum Textauszug]) verkehren sich auf einmal die Rollen. Wieder wird er für verrückt gehalten, verrückt, weil er von wunderbaren Dingen phantasiert und sich in einer gläsernen Flasche wähnt. Doch diesmal hat die Stimme der Vernunft keinen Erfolg, weder Ernüchterung noch Desillusionierung stellen sich ein.

„Aber wenn [Anselmus] nicht desillusioniert wird, so offenbar deshalb, weil er sich gar nicht mehr in einer Illusion befindet. Sind es dann nicht vielmehr die anderen, die sich einer Illusion hingeben? Damit ist der Spieß umgedreht und die Frage nach der Wahrheit des Wunderbaren auch eine Frage nach der Echtheit des Wirklichen geworden.“ [15] 

Welcher Art aber ist diese Wahrheit, die sich Anselmus in seiner Gefangenschaft erschließ? Wie kann es sein, dass er auf einmal eine „Erleuchtung“ erfährt und seine Zweifel verliert? Hat sich ihm allein durch die Ereignisse, rein durch äußere Einflüsse also, etwas neues offenbart, oder hat sich nicht vielmehr sein Blick für etwas geöffnet, was schon immer in seinem Innern verborgen lag, ein Wissen, dass für sein Bewusstsein, seine Sinne nicht fassbar war? 

„Lange vor dem Entdecken der Tiefenpsychologie glaubten er [Hoffmann] und andere Zeitgenossen an die Existenz einer etwa im Erlebnis der Musik angesprochenen und besonders im Traum zugänglichen seelischen Schicht, des heute sogenannten kollektiven Unbewussten, deren Inhalte allen Menschen gemeinsam sind, und daher den Charakter der überindividuellen Verbindlichkeit tragen.“ [16] 

Es ist denkbar, dass Anselmus durch seine Erfahrungen als Gefangener in der zehnten Vigilie, durch seine Erkenntnis, dass in diesem Fall nicht das Wunderbare Trugbild ist, sondern die von den anderen dafür gehaltene Realität sich als Schein erweist, dass Anselmus sich also dadurch aus dem Griff der Vernunft befreit und neben seinen fünf Sinnen einen weiteren, „inneren Sinn“ (vgl. GT, S. 130) entdeckt. Dadurch erkennt er seine eigentliche Bestimmung, die ihn schließlich nach Atlantis entrückt: das Leben in der Poesie.

„[W]ahre Poesie ist für Hoffmann aus den Tiefen des Unbewussten geschöpfte Wahrheit.“ [17] in diesem Sinne ist Anselmus ein wahrer Poet, dank der Entdeckung seines höheren „inneren Sinns“, der die Grenzen zwischen Wunderbarem und Wirklichkeit, Imagination und Wahrnehmung unscharf werden lässt. 

„Wie aber der Gegensatz zwischen beiden beim Menschen der neuen Zeit auch eine Kluft zwischen Traum und Sinneserfahrung und Innen- und Außenwelt ist und die Welt des Traums nach aufgeklärter Meinung bloß Schein ist im Gegensatz zur Außenwelt als dem allein Seienden, widmet sich die Erzählung auch der folgenden Absicht: die Schranke zwischen Schein und Sein abzubauen, damit auch Innen und Außen und Traum und Sinneserfahrung und Wunder und Alltag zueinander fließen.“ [18]

 

Weiter zu den Punkten: 

  1. Die Fantasiestücke in Callots Manier
  2. Callots Vorbildfunktion – der Dichter als Maler
  3. Das Erzählmodell der „narrativen Inszenierung“
  4. Die innere und die äußere Welt – die Grenzen zwischen Imagination und Wirklichkeit
  5. Duplizität und chronischer Dualismus im „goldnen Topf"
  6. Illusion und Wirklichkeit – Verwandlungsprozesse und Perspektivenwechsel
  7. Ausblick
  8. Bibliographie 

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[1] Pikulik 1969, S. 345.
[2] Vgl. ebd.
[3] Vgl. Huber  2003, S. 171.
[4] Vgl. Pikulik 1969, S. 346.
[5] Vgl. ebd., S. 347.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8]  Huber 2003, S. 189.
[9] Vgl. ebd., S. 179f.
[10] Pikulik 1969, S. 348.
[11] Ebd.
[12] Ebd.
[13] Zur Unterscheidung von Wahrheit und Wirklichkeit und zur Verklärung derselben vgl. Pikulik 1969, vor allem S. 349-352 und S. 355-365.
[14] Ebd., S. 349.
[15] Ebd., S. 355.
[16] Ebd., S. 368.
[17] Ebd.
[18] Ebd., S. 370.
 

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Natalia Igl: Grenzgänge zwischen Imagination und Wahrnehmung:  Illusion und Wirklichkeit – Verwandlungsprozesse und Perspektivenwechsel.  26.02.2003.

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