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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Duplizität und chronischer Dualismus

„[J]ene seltsame Narrheit, in der das eigene Ich sich mit sich selbst entzweit“ [1], so ließe sich ein Zustand beschreiben, den Hoffmanns Charaktere immer wieder erdulden müssen. Man könnte diese zwiegespaltene Verfassung als „chronischen Dualismus“ [2] bezeichnen. Wodurch aber entsteht diese Zerrissenheit, unter der auch der Student Anselmus im Märchen „Der goldne Topf“ leidet?  

„Die nachaufklärerische Situation, die Hoffmann vorfand, war vom Widerstreit zweier anscheinend unvereinbarer Prinzipien charakterisiert“ [3]. Auf der einen Seite stehen Rationalismus, Positivismus und die Vernunft, auf der anderen die Romantik und der „innere Sinn“. [4] Vertreten sind beide Prinzipien grob gesagt durch die Welt des Philisters und Bürgers und die Welt des Künstlers und Poeten. In dem Aufkommen der Neoromantik und der fin de siècle Stimmung um 1900 erlangt diese Problematik des Dualismus im Zusammenhang mit dem Künstlertum noch stärkere Brisanz. 

Anselmus steht beispielhaft für die Figur des chronischen Dualisten, des mit sich selbst Entzweiten, was der Feststellung eines Krankheitsbildes nahe kommt. Er wird beschrieben als entsetzlich ungeschickt und tollpatschig, aber auch als jemand mit einem kindlich frommen (vgl. GT, S. 90) und poetischen Gemüt (vgl. GT, S. 89). Oder, wie Konrektor Paulmann es ausdrückt: „Sie haben immer so einen Hang zu den Poeticis gehabt, und da fällt man leicht in das Phantastische und Romanhafte.“ (GT, S. 20) Dieser sieht dann auch solche „Phantasmata“ (ebd.), die den Menschen quälen und ängstigen, als körperliche Krankheit an und rät zu einer Behandlung mit „Blutigeln“, die man sich auf den „Hintern appliziert“ (vgl. ebd.), wohl zur Stimulanz der Vernunft, wie man sarkastisch zu bemerken geneigt ist. Ob krank oder nicht, seine „pathologisch scheinende Exzentrizität macht ihn [...] empfänglich für die Einwirkungen der „anderen“ Welt, wie diese umgekehrt ihn weiter der Bürgersphäre entfremdet.“ [5]

Die Spannung zwischen den Polen, der Sphäre des Bürgerlichen und der des Wunderbaren droht Anselmus zu zerreißen: „selbst noch herkunftsmäßig den bürgerlichen Deutungen und Wertungen verpflichtet, [muss er] den Konflikt am eigenen Leibe austragen.“ [6]

Die Gebundenheit an bürgerliche, „vernünftige“ Interpretationsmuster zeigt sich bei Anselmus immer wieder. Rückblickend deutet er seine wunderbaren, übernatürlichen Erlebnisse um und versucht sie in einer Welt, deren oberstes Maß die Vernunft darstellt, zu verorten.

So glaubt er in der zweiten Vigilie bei der Bootsfahrt über die Elbe erneut die goldenen Schlänglein zu erblicken, die neben der Gondel im Wasser zu schwimmen scheinen. Ihr Anblick scheint ihm so wirklich, dass er sich sogar zu ihnen ins Wasser stürzen will und nur im letzten Moment vom Schiffer zurückgehalten wird (vgl. GT, S. 17). Als ihn nun aber die anderen Bootsinsassen wahnsinnig wähnen und der Konrektor gar von „Anfällen“ (ebd.) spricht, muss Anselmus seinen Irrtum erkennen. Das, was er für die Schlänglein hielt, war in Wirklichkeit nur der Widerschein eines Feuerwerks, eine Täuschung also. Aus der Perspektive der Vernunft scheint dies die einzig akzeptable Erklärung. Und doch empfindet der Student einen Zwiespalt und ist hin und her gerissen (vgl. GT, S. 18). Weder kann er einfach an das Wunderbare und Unglaubliche glauben, ohne das Prinzip der Vernunft gefährdet zu sehen, noch reicht dieses Prinzip aus, um ihn für die phantastischen Erscheinungen blind zu machen und ihn seine innersten Empfindungen verleugnen zu lassen. Anselmus vertraut nicht auf seine eigene Wahrnehmung, da sie ihm mal in die eine, mal in die andere Richtung Streiche zu spielen scheint. Er gehört also keiner Sphäre wirklich an. Im Laufe der Entwicklung muss sich Anselmus allerdings für eine Seite entscheiden, da der Kompromiss zwischen innerer und äußerer Welt unmöglich anmutet. (Es wird schließlich für ihn „zum Vergehen, der plausiblen Skepsis des Alltagsverstandes nachzugeben, da muss der Zweifler zur Strafe ins Kristall, in das Gefängnis, in dem die andern leben, ohne es zu wissen.“ [7])

Ist die Entscheidung für einen der beiden Lebensentwürfe die Lösung für das Problem des chronischen Dualismus? Es scheint nicht so, denn:

„Heilung gibt es nur in der integrativen Zusammenschau, im durch Reflexion erreichten Verständnis für das Recht und die Gültigkeit zweier unterschiedlicher Ich-Aspekte. Gerade die einsichtsvolle Hinnahme der Gespaltenheit hebt diese auf, das bewusste Verharren in einem Spannungsfeld und Schwebezustand kuriert vom peinigenden „Dualismus“ und auch von der radikalen Scheidung zweier einander ausschließender Welten.“ [8]

Im „Goldnen Topf“ wird aber gerade diese Möglichkeit zur Lösung des Konflikts nicht aufgezeigt, schließlich muss Anselmus die bürgerliche Welt verlassen und findet seine Selbstverwirklichung erst im Zauberreich Atlantis. Einen Kompromiss gibt es also nicht, denn die Spaltung der Welt kann nicht aufgehoben werden.

Und doch geschieht in der Schlußvigilie etwas bemerkenswertes, in mehr als einer Hinsicht. Zum einen verlässt der Erzähler im wahrsten Sinne seinen Posten, seinen höheren Standpunkt, tritt auf fiktionsbrechende Weise in seine eigene Erzählung hinein und wird zur handelnden Figur.

Der „Salamander Lindhorst“ (GT, S. 125) bietet ihm in einem Brief seine Hilfe bei der Fertigstellung des Märchens an:

„Wollen Sie daher die zwölfte Vigilie schreiben, so steigen Sie ihre verdammten fünf Treppen hinunter, verlassen Sie Ihr Stübchen und kommen Sie zu mir.“ (GT, S. 125)

Zum anderen tröstet Lindhorst den Erzähler, der, nach seiner im Punschrausch erlebten Atlantis-Vision, das Zauberreich für immer verloren glaubt, mit den Worten, er habe „dort wenigstens einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum [seines] inneren Sinns“ (GT, S. 130). Das „Leben in der Poesie“ (ebd.) scheint also das Leben in der „realen“, bürgerlichen Welt nicht auszuschließen. So werden also „die Gegenwelten des Bürgerlichen nicht überwunden und vernichtet, sondern in das Poetische integriert.“ [9] 

 

Weiter zu den Punkten: 

  1. Die Fantasiestücke in Callots Manier
  2. Callots Vorbildfunktion – der Dichter als Maler
  3. Das Erzählmodell der „narrativen Inszenierung“
  4. Die innere und die äußere Welt – die Grenzen zwischen Imagination und Wirklichkeit
  5. Duplizität und chronischer Dualismus im „goldnen Topf"
  6. Illusion und Wirklichkeit – Verwandlungsprozesse und Perspektivenwechsel
  7. Ausblick
  8. Bibliographie

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[1] Puknus 1992, S. 53.
[2] Vgl. ebd.
[3] Ebd.
[4] Vgl. ebd.
[5] Ebd., S. 54.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Ebd., S. 59.
[9] Steinecke 2001, S. 148. 

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Natalia Igl: Grenzgänge zwischen Imagination und Wahrnehmung: Duplizität und chronischer Dualismus im „goldnen Topf".  26.02.2003.

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