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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Die innere und die äußere Welt – die Grenzen zwischen Imagination und Wirklichkeit

Wenn Hoffmann Callots Zeichnungen als „Reflexe aller der fantastischen wundervollen Erscheinungen“ bezeichnet, „die der Zauber seiner überregen Fantasie hervorrief“ [1], dann versteht er die Bilder als „mittels seiner Phantasie katalysierte Reflexe von Erscheinungen“ [2] Das Ergebnis des Schaffensprozesses ist somit ein Zusammenspiel von Innerem und Äußerem, eine Interpretation der äußeren Welt durch den Blick der inneren Welt.

„Die Art, wie der Dichter die Wirklichkeit des Lebens auffasst, wird wesentlich mitbestimmt von jenem von Hoffmann oft umschriebenen Ahnen, das sich einer eindeutigen Wirklichkeitsdefinition entzieht. Bilder der äußeren und inneren Welt des Menschen treten in ein Wechselverhältnis zueinander und bestimmen letztlich die von Hoffmann als existenziell empfundene Befindlichkeit: die Duplizität.“ [3]

In Hoffmanns Märchen „Der goldne Topf“ gibt es immer wieder Momente, in denen man nicht zwischen Realität und Imagination unterscheiden kann, sei es die Metamorphose des Archivarius Lindhorst zum Geier in der vierten Vigilie oder etwa ein „kleiner Mann in einem grauen Mäntelchen“ (GT, S. 99), der in die etwas zu ausgelassene Punschgesellschaft beim Konrektor Paulmann tritt und den Anwesenden als er hinausgeht als grauer Papagei erscheint (GT, S. 100).

Verwandlungsprozesse wie diese bezeichnen „die Mehrdeutigkeit von Realität, setzen konventionelle Anschauungsmuster außer Kraft und reißen neue Perspektiven auf.“ [4]

Hoffmann geht mit diesen Metamorphosen über schlichte Metaphern hinaus. Weder vergleicht er das „gravitätische Männlein“ (GT, S. 100) in seinem Auftreten oder Aussehen mit dem eines grauen Papageien, noch steh beides als Produkt uneigentlicher Rede nebeneinander – vielmehr ist der bzw. das eine der bzw. das andere. Der berauschten Punschgesellschaft erscheint der graubemäntelte Diener plötzlich als Papagei – oder erschien ihnen der graue Papagei zuerst irrtümlicherweise als kleiner, grau gekleideter Mann?

Hoffmann lässt hier keinen Zweifel daran, dass beide „Sichtweisen“, beide Wahrnehmungen gleichberechtigt nebeneinander stehen. „Jene Verwandlungsprozesse [machen] eine eindeutige Bestimmbarkeit des Wirklichen unmöglich.“ [5]

„Die genaue Betrachtung und Orientierung an der Wirklichkeit liegen sowohl Hoffmanns als auch Callots Werk zugrunde. [...] Die Perspektive, aus der heraus sich diese Beobachtung und Formgebung im Kunstwerk vollzieht, muss zwangsläufig eine andere als die gewöhnliche, eine veränderte sein.“ [6]

Dies erfordert eine Wahrnehmung, die sich sowohl am Detail als auch am Gesamten orientiert. Das bedeutet, Hoffmanns „berichtete Perzepte“ bzw. vermittelte Wahrnehmungserlebnisse sind einerseits sehr detailliert geschildert, gerade in den Grenzbereichen zwischen Imagination und Wahrnehmung Wiedergabe eines Gesamtbildes. Ein Gesamtbild, das sowohl visuelle als auch auditive, ja sogar olfaktorische Reize umfasst und verschmelzen lässt.

In der sechsten Vigilie betritt Anselmus zum ersten Mal das Haus des Archvarius und findet sich in einem herrlichen Gewächshaus wieder. Zuerst wird Anselmus der Blumenpracht gewahr, die ihn umgibt. Je länger er den Garten betrachtet, desto weitläufiger und prachtvoller erscheint er ihm. Dann nimmt er „seltsame Stimmen“ und „herrliche Düfte“ wahr (GT, S. 60). Bis hierhin verläuft seine Wahrnehmung noch strukturiert und ist ausgerichtet auf einzelne Details. Im nächsten Moment aber fließen alle Eindrücke ineinander und schaffen ein neues, größeres Bild, dass Anselmus Sinne überwältigt. „Von dem Anblick, von den süßen Düften des Feengartens berauscht, blieb Anselmus festgezaubert stehen.“ (GT, S. 60) Daraufhin beginnt ein Kikkern und Lachen (vgl. ebd.) und der Student bemerkt die Vögel, die ihn mit Spottversen verhöhnen. Der Feuerlilienbusch, der zuvor so prächtig vor dem ihm aufragte und seinen Blick fesselte, schreitet mit einem Mal auf ihn zu und „entpuppt“ sich als der Hausherr Lindhorst. (vgl. GT, S. 61). Anselmus ließ sich nur von dessen bunten Schlafrock täuschen – oder nicht? An dieser Stelle scheint sie Wahrnehmung plötzlich zu kippen. Und doch deutet sich der Übergang zur Imagination vielleicht bereits in den synästhetischen Bildern an, die schon am Anfang der Szene bzw. am Beginn von Anselmus Wahrnehmungserlebnis stehen. Kristallstrahlen spritzen hervor und fallen plätschernd nieder, als ob sie Wasser wären, seltsame Stimmen rauschen – wiederum wie Wasser – und säuseln wie Wind (vgl. GT, S. 60). Es ist überhaupt ein seltsames Gewächshaus, welches ein „magisches blendendes Licht“ (ebd.) erhellt, ohne dass man dessen Quelle bestimmen kann.

Es findet also wieder eine Art Verwandlungsprozess statt, der bereits auf sprachlicher wie auch situativer Ebene angekündigt wird. Das Ergebnis des Prozesses ist aber mehr als die Zusammensetzung aller an ihm beteiligten Details. Anders ausgedrückt, Hoffmann übermittelt hier ein Wahrnehmungserlebnis, das nicht nur mehr, sondern – nach dem Grundsatz der Gestaltpsychologie – etwas anderes ist als die Summe seiner Teile. [7]

Diese andere Wahrnehmung, die sich in der scheinbaren Verschmelzung von Realität und Imagination äußert, setzt allerdings einen Beobachter bzw. ein wahrnehmendes Subjekt voraus, das einerseits in das Geschehen involviert ist, andererseits als außenstehender Betrachter distanziert und reflektiert ist. Da diese zweite Komponente von Anselmus durchaus nicht erfüllt wird, ist folglich klar, dass der Erzähler jene Mittlerfunktion einnimmt. Von seinem erhöhten Standpunkt aus gelingt der Grenzgang zwischen der äußeren und der inneren Welt und lässt sich übermitteln mit Hilfe des Erzählprinzips der distanzierten bzw. romantischen Ironie. Die Ironie dient hier als Seismograph für die Duplizität des menschlichen Daseins. [8] Sowohl erzählerische Distanz als auch Reflexion ziehen sich durch das gesamte Märchen und verweisen immer wieder auf die Kluft zwischen äußerer und innerer Welt, zwischen Imagination und (faktischer) Wahrnehmung. Und auf ihre Untrennbarkeit voneinander.  

 

Weiter zu den Punkten: 

  1. Die Fantasiestücke in Callots Manier
  2. Callots Vorbildfunktion – der Dichter als Maler
  3. Das Erzählmodell der „narrativen Inszenierung“
  4. Die innere und die äußere Welt – die Grenzen zwischen Imagination und Wirklichkeit
  5. Duplizität und chronischer Dualismus im „goldnen Topf"
  6. Illusion und Wirklichkeit – Verwandlungsprozesse und Perspektivenwechsel
  7. Ausblick
  8. Bibliographie

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[1] Hoffmann 1993, S. 17
[2] Bomhoff 1999, S. 57.
[3] Ebd.
[4] Ebd., S. 58.
[5] Ebd.
[6] Ebd., S. 64.
[7] Die Gestaltpsychologie ist eintheoretischer Ansatz der Wahrnehmungs- und Denkpsychologie, demzufolge Elemente einer Stimuluskonfiguration, also Element aus dem gleichen physikalischen Energiebereich (z.B. Licht- oder Schallwellen) nach bestimmten Gestaltprinzipien automatisch organisiert bzw. gruppiert werden. Vgl z.B. Rainer Guski: Wahrnehmen – ein Lehrbuch. Stuttgart u. a. 1996, S. 26ff.
[8] Bomhoff 1999, S. 66. 

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Natalia Igl: Grenzgänge zwischen Imagination und Wahrnehmung: Die innere und die äußere Welt – die Grenzen zwischen Imagination und Wirklichkeit“.  26.02.2003. 

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