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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Das Erzählmodell der „narrativen Inszenierung“

Neben der Ironie, die das Märchen durchzieht, gibt es im „Goldnen Topf“ ein weiteres wichtiges Grundmuster im Erzählprozess.

„Die Literatur benützt seit dem späten 18. Jahrhundert intensiv Erzählverfahren, die, gleichwohl fingiert, nach dem gleichen Muster funktionieren wie das mentale Selbst-Konstrukt in jedem Moment unseres wachen Bewusst-seins.“ [1]

Diese Technik der „narrativen Inszenierung“ [2] nutzt Hoffmann in vielen seiner Erzählungen sehr intensiv. Sie kommt seinem Anspruch entgegen, ein lebendiges Bild zu erzeugen, das den Leser gefangen nimmt und ihm die Figuren der Geschichte so vorzuführen, dass er glaubt, sie persönlich zu kennen (vgl. „Callots Manier“ und das Bild vom Dichter als Maler). Mit Hilfe der narrativen Inszenierung „lassen sich Innenleben und Intentionen von literarischen Figuren entwickeln, die uns suggestiv vertraut sind, da sie nach den gleichen Regeln erstellt werden wie unser eigenes Selbstgefühl und gewissermaßen an unser Körpergedächtnis appellieren“ [3].


Dieser Appell ist in der zehnten Vigilie wörtlich zu nehmen. Dort wendet sich der Erzähler an den Leser und bittet ihn darum, sich mit Hilfe seiner Phantasie in den Studenten Anselmus hineinzuversetzen und dessen Notlage nachzuempfinden. Er lässt den Leser allerdings nicht „auf dem Trocknen“, sondern gibt im folgenden parenthetischen Textabschnitt eine Interpretation von Anselmus Wahrnehmung wider.

„Mit Recht darf ich zweifeln, dass du, günstiger Leser, jemals in einer gläsernen Flasche verschlossen gewesen sein solltest, es sei denn, dass ein lebendiger neckhafter Traum dich einmal mit solchem feeischen Unwesen befangen hätte. War das der Fall, so wirst Du das Elend des armen Studenten Anselmus recht lebhaft fühlen; hast du aber auch dergleichen nie geträumt, so schließt dich deine rege Phantasie mir und dem Anselmus zu Gefallen wohl auf einige Augenblicke ins Kristall ein. – Du bist von blendendem Glanze dicht umflossen, alle Gegenstände ringsum erscheinen dir von strahlenden regenbogenfarben erleuchtet und umgeben – alles zittert und wankt und dröhnt im Schimmer – du schwimmst regungs- und bewegungslos wie in einem festgefrorenen Äther, der dich einpresst, so dass der Geist vergebens dem toten Körper gebietet. Immer gewichtiger drückt die zentnerschwere Last deine Brust – immer mehr und mehr zehrt jeder Atemzug die Lüftchen weg, die im engen Raum noch auf und nieder wallten – deine Pulsadern schwellen auf, und von grässlicher Angst durchschnitten, zuckt jeder Nerv im Todeskampfe blutend. – Habe Mitleid, günstiger Leser, mit dem Studenten Anselmus, den diese namenlose Marter in seinem gläsernen Gefängnisse ergriff;“ (GT, S. 104f).

Die Formulierung in der zweiten Person, die direkte assoziative Anrede des Lesers sowie die Aneinanderreihung der einzelnen Wahrnehmungen wirken in gewisser Weise hypnotisch. Der Wahrnehmungsvorgang wird so eindringlich geschildert, dass der Leser sich dem „Mitleiden“ kaum entziehen kann.

Die Intention des Erzählers, die Phantasie des Lesers anzuregen und diesem eine unglaubliche und phantastische Begebenheit glaubhaft zu machen, indem er sie sozusagen am eigenen Leib erfährt, erinnert wieder an Hoffmanns Vorrede zu den Fantasiestücken und an das Bild der Himmelsleiter zur Phantasie.

 

Weiter zu den Punkten: 

  1. Die Fantasiestücke in Callots Manier
  2. Callots Vorbildfunktion – der Dichter als Maler
  3. Das Erzählmodell der „narrativen Inszenierung“
  4. Die innere und die äußere Welt – die Grenzen zwischen Imagination und Wirklichkeit
  5. Duplizität und chronischer Dualismus im „goldnen Topf"
  6. Illusion und Wirklichkeit – Verwandlungsprozesse und Perspektivenwechsel
  7. Ausblick
  8. Bibliographie 

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[1] Huber  2003, S. 184.
[2] Vgl. ebd.
[3] Ebd. 

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Natalia Igl: Grenzgänge zwischen Imagination und Wahrnehmung: Das Erzählmodell der „narrativen Inszenierung“.  26.02.2003.

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