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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Callots Vorbildfunktion – der Dichter als Maler

In Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ wendet sich der Erzähler direkt an den Leser, nachdem die bisherigen Geschehnisse in Briefform dargelegt wurden. Er entschuldigt sich dafür, die Geschichte Nathanaels bisher nicht mit eigenen Worten erzählt zu haben und erläutert seine Schwierigkeiten, die wundersamen Ereignisse in die richtigen Worte zu kleiden:

„Und nun wolltest Du das innere Gebilde mit allen glühenden Farben und Schatten und Lichtern aussprechen und mühtest Dich ab, Worte zu finden, um nur anzufangen. Aber es war Dir, als müsstest Du nun gleich im ersten Worte alles Wunderbare, Herrliche, Entsetzliche, Lustige, Grauenhafte, das sich zugetragen, recht zusammengreifen, so dass es, wie ein elektrischer Schlag, alles treffe. Doch jedes Wort, alles was Rede vermag, schien Dir farblos und frostig und tot. [...] Hattest Du aber wie ein kecker Maler [vgl. Hoffmanns Beschreibung Callots als „kecker Meister“ in der Vorrede zu den Fantasiestücken!], erst mit einigen verwegenen Strichen, den Umriß Deines innern Bildes hingeworfen, so trugst Du mit leichter Mühe immer glühender und glühender die Farben auf und das lebendige Gewühl mannigfacher Gestalten riß die Freunde fort und sie sahen, wie Du, sich selbst mitten im Bilde, das aus Deinem Gemüt hervorgegangen.“ [1]

Der Erzähler schildert hier die Unmöglichkeit, bestimmte Ereignisse in reiner Nacherzählung wiederzugeben. Vielmehr muss man sie in „glühenden Farben“ malen, muss ein fassbares, erlebbares Bild schaffen und dieses dem Betrachter so nahe bringen, dass er glaubt, er hätte es selbst entworfen. Der Erzähler im Sandmann gibt also, mit etwas anderen Worten, Hoffmanns Position in der Vorrede zu den Fantasiestücken wieder:

„Könnte ein Dichter oder Schriftsteller, dem die Gestalten des gewöhnlichen Lebens in seinem innern romantischen Geisterreiche erscheinen, und der sie nun in dem Schimmer, von dem sie dort umflossen, wie in einem fremden, wunderlichen Putze dargestellt, sich nicht wenigstens mit diesem Meister entschuldigen und sagen: Er habe in Callots Manier arbeiten wollen?" [2]

Denn Callots Manier ist ja gerade diese, dass er aus vielen heterogenen Einzelheiten ein lebendiges Ganzes schafft.

„Kein Meister hat so wie Callot gewusst, in einem kleinen Raum eine Fülle von Gegenständen zusammenzudrängen, die ohne den Blick zu verwirren, neben einander, ja ineinander hinaustreten, so dass das Einzelne als Einzelnes für sich bestehend, doch dem Ganzen sich anreiht. [...] [I]ndessen geht seine Kunst auch eigentlich über die Regeln der Malerei hinaus, oder vielmehr seine Zeichnungen sind nur Reflexe aller der fantastischen wunderlichen Erscheinungen, die der Zauber seiner überregen Fantasie hervorrief." [3]

 

Callot: Die große Jagd (1629)
 

 

Callot: Blick auf die Seine von Pont Neuf (o. J.)


 
Auf der Grundlage dieser Vorbildfunktion Callots lässt sich das Ziel des Erzählers im Sandmann sehen, dem Leser die Figuren so nahe zu bringen, dass er sie schließlich selbst zu kennen glaubt:

„Vielleicht gelingt es mir, manche Gestalt, wie ein guter Portraitmaler, so aufzufassen, dass Du es ähnlich findest, ohne das Original zu kennen, ja dass es Dir ist, als hättest Du die Person recht oft schon mit leibhaftigen Augen gesehen.“ [4]

Der Dichter muss also ein Maler sein, er muss die zweidimensionale Ebene des Textes verlassen und seine Figuren so „zeichnen“, dass sie zu lebendigen, dreidimensionalen Personen werden.

Die erzählerische Technik dazu ist die Übermittlung von Wahrnehmungserlebissen, d. h. nicht die neutrale Wiedergabe von Ereignissen, sondern die subjektiv „gefärbte“ Schilderung aus der Perspektive des Wahrnehmenden. Man sieht die Handlung sozusagen durch die Augen eines anderen.

In der Wahrnehmungspsychologie spricht man hierbei auch von „berichteten Perzepten“. Das bedeutet, dass man eine andere Person an der eigenen Wahrnehmung teilhaben lässt, indem man ihr die (interpretierten) Ergebnisse des Wahrnehmungsprozesses schildert, und zwar anhand einer detailreichen, (subjektiv) wirklichkeitsnahen Wiedergabe dessen, was man wahrgenommen hat. Hierbei vermischen sich logischerweise Sinneseindrücke aus verschiedenen Wahrnehmungsbereichen, also haptische, visuelle, auditive und olfaktorische. Da Wahrnehmung allerdings ein Prozess ist, der auf der Basis von Selektion und Konstruktion abläuft, sind die Perzepte nie eine reine Wiedergabe objektiver Realität. Somit sind auch berichtete Perzepte immer „relativ“ und treffen neben ihrer Aussage über den Gegenstand der Wahrnehmung auch und vielleicht vor allem eine Aussage über den Berichtenden. 

 

Weiter zu den Punkten: 

  1. Die Fantasiestücke in Callots Manier
  2. Callots Vorbildfunktion – der Dichter als Maler
  3. Das Erzählmodell der „narrativen Inszenierung“
  4. Die innere und die äußere Welt – die Grenzen zwischen Imagination und Wirklichkeit
  5. Duplizität und chronischer Dualismus im „goldnen Topf"
  6. Illusion und Wirklichkeit – Verwandlungsprozesse und Perspektivenwechsel
  7. Ausblick
  8. Bibliographie

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[1] Hoffmann 2002, S. 17f.
[2] Hoffmann 1993. S. 18.
[3] Ebd., S 17.
[4] Hoffmann 2002, S. 18. 

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Natalia Igl: Grenzgänge zwischen Imagination und Wahrnehmung: Die Fantasiestücke in Callots Manier.  26.02.2003. 

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