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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Wahrnehmung als Konstrukt in  Joseph von Eichendorffs "Mondnacht"

Allein der Titel "Mondnacht" von Eichendorffs Gedicht ist bereits programmatisch. Nach Peter Paul Schwarz verbindet der Dichter mit diesem Motiv "die Vorstellung einer Verwandlung oder Verzauberung der Wirklichkeit" (Schwarz 1970, S. 85). Tatsächlich wird das lyrische Ich in einen traumartigen Zustand, in dem auf den Sehsinn kein wirklicher Verlaß mehr ist, versetzt. Unter Einwirkung des Mondscheins kommt es zu einer Verschmelzung der Sinne, die eine universale Wahrnehmung ermöglicht. Das lyrische Ich assoziiert mit der nächtlichen Natur  Dinge, die nach den Vorstellungen unserer Erfahrungswirklichkeit eigentlich nicht möglich sind. Besonders in der ersten und dritten Strophe handelt es sich um illusionäre Phänomene, welche nur in einer irrealen Welt denkbar sind. Sprachlich verdeutlicht wurde dies von Eichendorff durch den Konjunktiv. Die Anfangs- und Schlußformeln -  "Es war, als hätt'" (Z. 1) und "Als flöge sie" (Z. 12) - deuten sogar darauf hin, daß sich das lyrische Ich sehr wohl über den phantastischen Charakter seiner Eindrücke bewußt ist. Diese  können wiederum als Wunschträume des lyrischen Ich verstanden werden, die dessen Sehnsucht nach Vereinigung mit dem Überirdischen ausdrücken. Eichendorff konstruiert hier Wahrnehmung, in dem er sie in ein festes Konzept von Ursache und Wirkung preßt. Während sich die Eindrücke der ersten und dritten Strophe im transzendentalen Bereich abspielen, bleibt die zweite Strophe im Irdischen verhaftet. Den eigentlich alltäglichen Naturerscheinungen werden vom lyrischen Ich außergewöhnliche Bedeutung beigemessen, da es darin die Wunschvorstellung der ersten Strophe im faßbaren Bereich verwirklicht glaubt. Sein intensives Erleben der nächtlichen Natur löst schließlich die Entgrenzungsvisionen der dritten Strophe aus.

 

Mondnacht

1 Es war, als hätt' der Himmel
   Die Erde still geküßt,
   Daß sie im Blütenschimmer
   Von ihm nun träumen müßt'. 

5 Die Luft ging durch die Felder
   Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
   so sternklar war die Nacht. 

9 Und meine Seele spannte
   Weit ihr Flügel aus,
   Flog durch die stillen Lande,
   Als flöge sie nach Haus.

 

 

Inhalt

1. Strophe

Eichendorff schafft hier das irreale Bild vom mythischen Brautkuss zwischen Himmel und Erde. Die Erde ist derart ergriffen von diesem Kuss, dass sie fortan "im Blütenschimmer" vom Himmel träumt.


2. Strophe

In dieser Strophe schildert Eichendorff gewöhnliche Vorgänge in der Natur. Er beschreibt, wie unter Einwirkung des Luftzuges die gesamte Landschaft - "die Felder", "die Ähren", "die Wälder" - in Bewegung gesetzt wird. Die Wahrnehmung der Natur erfolgt beim lyrischen Ich vorrangig über den taktilen und auditiven Bereich.


3. Strophe

Nun meldet sich zum ersten Mal das lyrische-Ich. Die durch die beiden vorangehenden Strophen ausgelösten Empfindungen versetzen dieses in einen irrealen Bewusstseinszustand, in dem die Seele  - gleich einem Vogel - "nach Haus" zu fliegen scheint.

 

Subjektive Wahrnehmung

Die Strophen 1 und 3 in Eichendorffs „Mondnacht" unterscheiden sich grammatikalisch von der zweiten, da sie im Konjunktiv stehen und jeweils einen Irrealis - „Es war, als hätt‘" (Z. 1) / „Als flöge sie" (Z. 12) – enthalten. Die grammatikalische Form korrespondiert insofern mit dem Inhalt der beiden Strophen, als dass sie dem lyrischen Ich eine Wahrnehmung gestattet, welche in der Realität nicht vorstellbar wäre. Für Peter Paul Schwarz wird in der ersten Strophe eine „schwebende Traumstimmung" (Schwarz 1970, S. 86) erzeugt. Klaus-Dieter Krabiel will sich nicht ganz so genau festlegen und bezeichnet das Bild vom Brautkuss zwischen Himmel und Erde ganz allgemein als „subjektive[s] Gefühl", als „Erlebnis" (Krabiel 1973, S. 45) des lyrischen Ich. Innerhalb dieses irrealen Bildes erfahren die tragenden Elemente eine Belebung. Himmel und Erde werden in der ersten Strophe als ein sich küssendes Liebespaar dargestellt ( Vgl. Z. 1 f), die Seele soll wohl einen Vogel verkörpern, der seine Flügel ausbreitet und Richtung Himmel fortfliegt ( Vgl. Z. 10 f). Beide Bilder drücken eine Begegnung der himmlischen mit der irdischen Sphäre aus. Häufig findet sich in der Forschungsliteratur die These, dass es sich bei dieser Begegnung um eine Wunschvorstellung des lyrischen Ich handelt. Wolfgang Frühwald bezeichnet es als „die wunderbare Verbindung alles einander Fernen und voneinander Getrennten" (Frühwald 1984, S. 403). Robert Mühlher behauptet, Eichendorff würde an eine „Wiedervereinigung getrennter Gegensätze" (Mühlher 1960, S. 193) denken und auch für Schwarz ist die Nacht hier „Begegnungsort des in Raum und Zeit Getrennten (Schwarz 1970,  S. 86). Es ist sehr naheliegend, dass die Bilder der ersten und dritten Strophe sinnlichen Erlebnissen in der Natur entspringen. Krabiel weist schon darauf hin, man könne bestenfalls Mutmaßungen darüber anstellen, wie diese Erlebnisse zustande kommen:

„Es liegt hier die schon mehrfach beobachtete Erscheinung vor, daß betont sinnliche Vorstellungen sich doch dem sinnlich-bildhaften und rationalen Vollzugwidersetzen, aber dessen ungeachtet im Sinngefüge des Gedichts verständlich und zeichenhaft eindeutig wirksam werden." (Krabiel 1973,  S. 47)

In der ersten Strophe geschieht es wohl unter dem visuellen Einfluss des Mondlichts, dass das lyrische Ich glaubt, Himmel und Erde würden sich annähern. Einleuchtend erscheint auch der Gedanke Frühwalds, der in der zweiten Strophe das lyrische Ich mit einem impliziten Betrachter gleichsetzt, dessen Blick die Bewegung des Nachtwindes in den Feldern und den Baumwipfeln bis hinauf zum Himmel verfolgt. (Vgl. Frühwald 1984, S. 397). Daran anknüpfend wäre denkbar, dass die Berührung des Windes beim lyrischen Ich in der dritten Strophe das Gefühl auslöst, dessen Seele würde vom Luftzug mitgetragen.

 

 

Liebesbeziehung zwischen Himmel und Erde

Laut Wolfgang Frühwald verarbeitet Eichendorff hier den antiken Mythos von Uranos und Gaia. Die aus dem Chaos entstandene Gaia, Göttin der Erde, gebar ihren Sohn und Gemahl Uranos. Doch Uranos, der Himmel, der zum Sitz der Götter werden sollte, wandte sich gegen seine eigenen Kinder. Aus Rache stiftete Gaia ihren Sohn Kronos dazu an, Uranus zu entmannen, und so kam es zur Teilung von Himmel und Erde.  

In seinem Gedicht „Mondnacht" strebt Eichendorff die Wiedervereinigung des Getrennten an. Himmel und Erde scheinen sich in einem Vermählungskuss zu begegnen, und die Erde, die ihren Geliebten einst verstieß, muss nun fortan vom Himmel träumen. In diesem Träumen findet sich gleichsam das lyrische Ich wieder. Seine eigene Sehnsucht nach der Loslösung vom irdischen Dasein und der Vereinigung mit dem Himmel wird durch die Allegorie von Himmel und Erde ausgedrückt. "Es waltet hier keine Getrenntheit mehr zwischen Natur und Mensch." (Kayser, S.68). Die Tatsache, dass die Erde vom Himmel „träumen müsst" (Z.4) ist eine Unterstellung des lyrischen Ich.

Der Beobachter dieser unwirklichen Szenerie erliegt ganz bereitwillig der Schönheit der nächtlichen Natur, die sich vor ihm ausbreitet. Es wirkt eher wie eine  Wunschvorstellung, wenn der Himmel sich zur Erde herabneigt, um sie zu küssen – hervorgerufen durch die Lichtreflexe des Mondscheins.

"Dabei handelt es sich [...] um die Verwandlung des Realen in einen imaginativen Nachtraum, den sich die Phantasie aus Sehnsucht nach entgegengesetzter Wirklichkeit - Traum oder Märchen - erschafft." (Schwarz 1970, S. 85)

In seinem traumartigen Zustand verfällt das lyrische Ich dem Zauber dieses von ihm herbeigesehnten Phantasiebildes. Dass mit den nächtlichen Naturphänomenen etwas assoziiert wird, das nicht real ist, ist letztendlich also nur Ausdruck eines unterdrückten Wunsches nach Entgrenzung und Befreiung, gebündelt in der übersteigerten Vision einer unmöglichen Begegnung. Bezeichnend ist dabei auch, dass Himmel und Erde als konkrete Wahrnehmung nur innerhalb des irrealen Bildes in der ersten Strophe auftauchen.

 

Wahrnehmung des Lichts

Der Titel "Mondnacht" läßt an einen großen, runden Vollmond am dunklen Himmel denken und vermittelt bereits das Bild einer sehr hellen, freundlichen Nacht. Zudem ist Vollmond eine Zeit der irrealen Phantasien und Träume. So ist es kein Wunder, dass sich das lyrische Ich von den Lichtreflexen, die das Mondlicht auf die Erde zaubert mitreißen lässt und ein natürliches Phänomen hochstilisiert zur mythologischen Wiedervereinigung von Himmel und Erde.

"Im verhaltenen Ton eines Es war als hätt´ wird von Anbeginn des Gedichts eine schwebende Traumstimmung beschworen, aus der heraus sich das visionäre Bild eines sich der Erde im Brautkuß zuneigenden Himmels entfaltet. Dies geschieht jedoch nicht präsentisch, sondern gleichsam aus der Erinnerung der Erde an diesen Liebesbezug, auf den ihre gegenwärtige Verklärung in Traum und Blütenschimmer hindeutet." (Schwarz 1970, S. 86/87)

Der Neologismus "Blütenschimmer" (Z. 3) ruft selbst im Leser die Vision eines Blumenmeers hervor, das im milchigen Licht des Mondes in jungfräulichem Weiß erblüht. Beim lyrischen Ich setzen die ungewöhnlichen Lichtverhältnisse eine Kette von Assoziationen in Gang, die vor allem in der ersten und dritten Strophe, das unwirkliche Gefühl zu träumen erzeugen.
 

"Die Traumatmosphäre umfängt das ganze Gedicht, und der Brautschmuck der Erde schimmert im Mondeslicht. Es ist, als sei dieses Licht der Vermählungskuß des Himmels an die Erde." (Frühwald, S. 403)
 

Für das lyrische Ich wird das Licht dieser "Mondnacht" also gewissermaßen gegenständlich. Es steht beinahe symbolisch für die Wiedervereinigung von Uranos und Gaia. In der zweiten Strophe ermöglicht das helle Mondlicht schließlich auch die Verschmelzung der Sinne. Das lyrische Ich hört das Rauschen der Wälder, fühlt den Luftzug, der durch die Felder geht und sieht die Sternklarheit der Nacht, die diese universelle Wahrnehmung erst möglich macht. 
 

Ganz anders als in der "Mondnacht" scheint in Eichendorffs "Nachtwanderer" das Licht beinahe gänzlich zu fehlen. Der Reiter reitet durch eine "finstre Nacht" (Z. 4), was die bedrohliche Atmosphäre des Gedichts hervorhebt. Das lyrische Ich hat nicht die berauschenden, hellen Himmelsvisionen von "Silberreif" (Z. 23), "Sonne" (Z. 27) und "Mond" (Z. 27) wie in Brentanos "Schwanenlied", sondern scheint viel mehr umgeben von der beängstigenden Dunkelheit der Hölle, die sich auch vollkommen von der harmonischen Reinheit des milchigen Lichts des Vollmondes der "Mondnacht" unterscheidet.

 

 

Bedeutung des Nachtwindes

Peter Paul Schwarz betrachtet die parataktisch angeordneten Bilderfolgen der zweiten Strophe als eindeutige Fortsetzung des in der ersten Strophe aufgestellten Liebesbezug zwischen Himmel und Erde (Vgl. Schwarz 1970,  S. 87):

„Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,

Es rauschten leis die Wälder," ( Zeile 5-7)

Seine These erscheint plausibel da er „der durch die Felder gehenden Luft das Wogen der Ähren [zuordnet], das Rauschen der Wälder [als] Antwort auf die Sternklarheit der Nacht [versteht]" (Schwarz 1970, S. 87). Ergänzend lässt sich hinzufügen, dass sowohl der Wind als auch der sternenklare Anblick des Firmaments als nicht greifbare Naturphänomene dem „Himmel" der ersten Strophe angehören, während die Felder, Ähren und Wälder exemplarisch die „Erde" vertreten.

Das irreale Bild vom Brautkuss zwischen Himmel und Erde der ersten Strophe wird hier in ein gewöhnlichen und insofern nachvollziehbaren Naturvorgang übersetzt. Stellt man sich das lyrische Ich wie Frühwald als Betrachter in der Natur vor, dessen Blick die Bewegung des Nachtwindes in den Feldern und den Baumwipfeln bis hinauf zum Himmel verfolgt (Vgl. Frühwald 1984,  S. 397), so erscheint das Bild von der davonfliegenden Seele in der dritten Strophe als konsequente Empfindung auf den taktilen Reiz des Windes: Dem lyrischen Ich ist, als würde es vom Wind empor getragen.

„Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus."
(Zeile 9-12)

Wenn auch nicht ausdrücklich erwähnt, so will Eichendorff mit der Heimkehr der Seele mit Sicherheit den Tod des Menschen ansprechen. Frühwalds positive Interpretation dieser Strophe, als „Befreiung von irdischer Schwere und Bitterkeit" (Frühwald, S. 405) erscheint einleuchtend, da bereits durch das „nach Haus" (Z. 12) eine Atmosphäre der Harmonie erzeugt wird.

Während in der ersten Strophe die Verschmelzung zwischen Himmel und Erde noch eine abstrakte Wunschvorstellung des lyrischen Ich darstellt, so erfolgt in der dritten Strophe durch das Bild von der fliegenden Seele die Umsetzung dieses Wunsches im Tod. Die zweite Strophe stellt insofern die Brücke zwischen der ersten und der dritten dar, da das Aufsteigen der Seele durch den Luftzug überhaupt erst ermöglicht wird.

 

 

Übergeordnetheit des Hörens und Fühlens

Eichendorff wählt für seine Erlösungsvisionen nicht umsonst den Zeitpunkt der Nacht, in der die einzige Lichtquelle der Mond am Himmel ist. Auf die Augen ist im kühlen, dämmrigen Schein des Mondes kein Verlass mehr. Mit einem geschärften Sinn für die Geräusche der Natur nimmt das lyrische Ich die mythische Musik der Nacht wahr, hört, wie „die Wälder rauschten" (Z. 7) und die „Luft ging" (Z. 5). Wolfgang Frühwald spricht sogar von der „orphische(n) Melodie der Nacht" (Frühwald, S. 403).

"[...] alle die Differenzierungen einer der Nacht immanenten Musik, erscheinen als Chiffren für das anders nicht sagbare Weltgeheimnis, als Rückverweise auf einen letztlich mythischen Vergangenheitsgrund." (Schwarz 1970, S. 89)

Und tatsächlich wird das in der Vergangenheit getrennte - Himmel und Erde - wiedervereinigt, vor dem Hintergrund des Mondlichts und der nächtlichen Musik der Natur. Die dadurch ausgelösten Gefühle und Empfindungen brechen sich Bahn in der Wunschvorstellung  vom Flug der Seele in der dritten Strophe.

Ein ganz ähnliches Phänomen findet sich auch in Eichendorffs „Nachtwanderer" – obgleich der Sirenengesang des bleichen Mädchens (Z. 6) und der Ruf des Wassermanns (Z. 10) eher bedrohlich denn einladend wirken. Bei Clemens Brentanos „Schwanenlied" verrät bereits allein der Titel die vorrangige Bedeutung des Gehörs, aber auch die melancholische Stimmung die durch das Lied des sterbenden Schwans hervorgerufen wird.

Ganz bewusst scheint Eichendorff die zweite Strophe seiner „Mondnacht" in zwei Metaphernpaare (Z. 4/5; Z. 6/7) zu gliedern.

"[...] der durch die Felder gehenden Luft entspricht das Wogen der Ähren, das Rauschen der Wälder ist Antwort auf die Sternenklarheit der Nacht." (Schwarz 1970, S. 87)

Auffällig ist dabei die Vermischung der Wahrnehmungsebenen. Sehen und Hören reagieren wie ein einziger Sinn. „Es rauschten leis´ die Wälder/ So sternklar war die Nacht" (Z. 6/7)

Durch die Wahl von Verben und Adjektiven entwickelt die Natur eine gewisse Eigendynamik. Alles gerät in Bewegung, und das lyrische Ich stilisiert seine akustischen Wahrnehmungen hoch, bis es den Luftzug förmlich auf der Haut zu spüren scheint. Besonders die Adjektive sprechen auch in der ersten und dritten Strophe vorrangig das Gehör an. Das lyrische Ich scheint konzentriert in die Stille hineinzulauschen, einerseits, um die Magie der Nacht nicht zu zerstören, und andererseits, um den Klang ihrer Stimme nicht zu überhören.

 

 

Erlösung der menschlichen Seele

Die Empfindungen des lyrischen Ich beschreibt Eichendorff in der dritten Strophe durch das Bild von der dahinfliegenden Seele.

 

„Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus." (Zeile 9-12)

 

Unter Luftzug wurde bereits erläutert, dass dem lyrischen Ich dieses Aufsteigen der Seele durch die taktilen Wahrnehmungen in der vorhergehenden Strophe ermöglicht wird und die Wunschvorstellung der ersten Strophe erfüllt. Dass sich diese Verschmelzung von Himmel und Erde in der ersten Strophe für das lyrische Ich noch nicht erfüllt hat, wird durch den Brautkuss ausgedrückt. Diesen nimmt das lyrische Ich lediglich als außenstehender Betrachter wahr, hat aber noch nicht persönlich Anteil daran. In der dritten Strophe ist das lyrische Ich schließlich selbst in diese Verschmelzung integriert, da dessen eigene Seele aufsteigt („Und meine Seele spannte" / Z.  9).
 

Für Frühwald stellt dieses Bild einen Moment dar, „in dem der Mensch den Abglanz des Paradieses erf[ahre]" (Frühwald 1984, S. 402). Seine sprachliche Entsprechung fände dieser paradiesische Zustand durch die Synkopierung des jambischen Metrums zu Beginn der vierten Verszeile der dritten Strophe und das Enjambement „spannte weit" (Frühwald 1984, S. 402). Durch das Enjambement und das Adjektiv „weit" (Z. 10) wird für den Leser jene Weite und Freiheit wirklich spürbar, welche durch das Bild des Vogels repräsentiert wird. Durch das Adjektiv „still[...]" (Z. 11) und die Bezeichnung des Zieles als Zuhause (Vgl. Z. 12), mit dem das Gedicht endet, entsteht eine Atmosphäre der Ruhe und Harmonie. Die Deutung der letzten Strophe als Erlösung für das lyrische Ich, wie Frühwald sie vornimmt – „die Befreiung von irdischer Schwere und Bitterkeit" (Frühwald 1984, S.405) lässt sich dadurch untermauern.

Auch Brentanos "Schwanenlied" greift dieses Gefühl auf. Das lyrische Ich hört bereits "der Engel Lieder" (Z. 6) und erfährt damit einen Abglanz des bevorstehenden, herbeigesehnten Himmelreichs. Im Gegensatz dazu scheint die einzige Erlösung in Eichendorffs "Nachtwanderer" das Heranbrechen des neuen Tages zu sein. Denn "die finstre Nacht ist des Menschen Feind" (Z. 4), und das lyrische Ich wartet bange darauf, dass das Ross dem schwarzen Reiter "schnaubend sein eigenes Grab" (Z. 16) schaufelt. 

 

 

Der romantische Motivkomplex von Nacht und Tod

Der Zeitpunkt der Nacht steht in der Romantik oft im Zusammenhang mit dem Tod. Auch Eichendorff bedient sich dieses Motivkomplexes. Doch allein der Titel „Mondnacht" lässt bereits vermuten, dass das lyrische Ich hier keine Furcht vor dem Tod empfindet. Tatsächlich scheint ihm das Leben nur eine Last zu sein, die bewältigt werden muss, eine Übergangsphase, nach der es ihm endlich erlaubt ist, „nach Haus" (Z. 12) zurückzukehren.

In krassem Gegensatz dazu steht Eichendorffs Darstellung von Nacht und Tod im „Nachtwanderer". Die Einsamkeit und Stille der Landschaft, die in der „Mondnacht" willkommene Begleiterscheinungen sind – Geräusche würden das in seine Träume versunkene lyrische Ich nur stören – sind hier ein Gefahrenherd; und „Die finstre Nacht ist des Menschen Feind!" (Z.4). Näher an der sehnsuchtsvollen Erwartungshaltung der „Mondnacht" ist Clemens Brentanos „Schwanenlied", auch wenn der Ausruf am Ende des Gedichts – „Süßer Tod, süßer Tod,/ Zwischen dem Morgen- und Abendrot!" (Z. 32/33) – eher eine melancholische Atmosphäre schafft.

Das lyrische Ich in Eichendorffs „Mondnacht" reagiert auf eine sehr extreme Art und Weise, als es mit der nächtlichen Natur konfrontiert wird. Je weiter das Gedicht fortschreitet, um so mehr scheint die reale Welt in den Hintergrund zu treten. Laut Wolfgang Kayser antwortet der Mensch "aktiv dem Ruf des Himmels" (Kayser, S. 68). Die Sehnsucht nach Entgrenzung geht so weit, dass das lyrische Ich zu spüren vermeint, wie seine Seele sich in die Luft erhebt und gleich einem Vogel gen Himmel, also „nach Haus" (Z. 12) fliegt. Doch die intensiven Empfindungen des lyrischen Ich, sind nur eine Wunschvorstellung seiner eigenen übersteigerten Phantasie und seinen überreizten Sinnen entsprungen. Eine Heimkehr, wie sie hier herbeigesehnt wird, ist in Raum und Zeit nicht möglich, weshalb diese Erscheinung bedeutungsvoll im Irrealis steht.

Auch Wolfgang Frühwald ist der Meinung,

"daß Eichendorffs >>nach Haus<< nur vordergründig die durch Mißwirtschaft verlorene schlesische Heimat Lubowitz meint, dann - auf einer ersten Transformationsstufe - die stets von neuem anzutretende Heimkehr zu jugendlich-poetischer Lebensfreude, und schließlich die ewige Heimat des Menschen [...]". (Frühwald 1984, S. 401)

 

Zentrale Position der zweiten Strophe

Unter 'Bedeutung des Nachtwindes' wurde die Position von Peter Paul Schwarz dargelegt und weiter gesponnen. Schwarz stellt die in der zweiten Strophe geschilderten Naturphänomene als Fortsetzung des in der ersten Strophe aufgestellten Liebesbezugs zwischen Himmel und Erde heraus. (Vgl. Schwarz 1970, S. 87) Wie haben daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass die zweite Strophe dem lyrischen Ich als Brücke zur Erreichung seines Zieles dient. Als Ziel ist die in der ersten Strophe ausgesprochene Vereinigung zwischen Himmel und Erde zu verstehen. Diese Vereinigung erfüllt sich für das lyrische Ich jedoch erst in der dritten Strophe: Die Seele des lyrischen Ich darf "nach Haus" (Z. 12) fliegen. Untermauern lässt sich diese Interpretation durch die These Wolfgang Kaysers, es existiere hier "keine Getrenntheit mehr zwischen Natur und Mensch" (Kayser 1948, S. 68) und der Mensch würde auf den "Ruf des Himmels" (Kayser 1948, S. 68) antworten. Diese mittlere Strophe mit ihrer Schilderung der nächtlichen Naturvorgänge kann daher nur die Position der zweiten Strophe einnehmen. Nach Kayser fungiert sie als Ursache für das "religiöse[...] Erlebnis" (Kayser 1948, S. 69), welches dem lyrischen Ich in der dritten Strophe widerfährt. Kayser behauptet, das religiöse Erlebnis würde einzig und allein dadurch zustande kommen, daß "die Nacht [vom lyrischen Ich] in ihrer Besonderheit erlebt [werde]" (Kayser 1948, S. 69). Die in der zweiten Strophe geschilderten Naturphänomene sind demnach als die besonderen Naturwahrnehmungen des lyrischen Ich zu werten, welche das religiöse Erlebnis der dritten Strophe möglich machen. Die Naturwahrnehmungen scheinen demzufolge nicht nur aus Sicht des Dichters, sondern gar aus Sicht des lyrischen Ich 'konstruiert': Um die ersehnte Verschmelzung mit der himmlischen Sphäre zu erfahren, nimmt das lyrische Ich die Naturphänomene wahr beziehungsweise läßt diese auf sich wirken.


Diese 'Vorgehensweise des lyrischen Ich' ließe sich aus der medizinischen Bedeutung der Synästhesie erklären. Die Medizin versteht unter Synästhesie Halluzinationen oder Einbildungen, welche das Individuum bei vollem Bewußtsein erlebt. Nach neuesten Erkenntnissen nimmt der Mensch dabei die Welt als einheitliches Ganzes wahr. (vgl. www.medicine-worldwide.de) Um jenes ganzheitliche Erlebnis zu erreichen, konstruiert sich das lyrische Ich die Naturwahrnehmungen nach seinen eigenen Gesetzen. Das Ergebnis ist das religiöse Erlebnis, welches als ganzheitliches Erlebnis zu verstehen ist. 

 


Jasmin Jobst und Christine Kerler: Synästhesie und Intermedialität in der Lyrik der Romantik. 02.12.2002.

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