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Der Göttinger Hain
Gründung und Mitglieder

Patrick Peters
Ludwig Christoph Heinrich Hölty

 

Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Gründungsmitglied des Göttinger Hainbundes, gehört zu den jung dahingegangenen Talenten der deutschen Literaturgeschichte: Wie Wilhelm Hauff (1802 bis 1827), wie Georg Büchner (183 bis 1837), wie Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773 bis 1798) starb auch Hölty in seinen „Twens“; der 1748 geborene Lyriker und Übersetzer wurde nur 28 Jahre alt. Johann Martin Miller, sein Freund und Bundesbruder, beginnt mit eben diesem Ereignis des vorzeitigen Todes seine Lebensbeschreibung Höltys:

Den 1. September 1776 starb zu Hannover Christoph Ludwig Heinrich Hölty [sic!], in seinem 28. Jahr, an der Auszehrung [i. e. Schwindsucht; P. P.]. Ich will die alte Klage, die man schon so oft mit Recht anstimmte, nicht von neuem anstimmen: daß so viele unsrer besten Köpfe in der Blüte ihres Lebens unserm Vaterland entrissen werden, so gerecht auch hier die Klage wäre.

(zit. nach: Der Göttinger Dichterbund. Hrsg. von August Sauer. Berlin und Stuttgart 1885—95 (= Kürschners Deutsche National-Litteratur Bände 49, 50 I/II); hier Bd. II, S. XV)

 

Aus diesen Äußerungen Johann Martin Millers kann man Hölty dreifache Bedeutung herauslesen: Erstens war er für den Hainbund wichtig, zweitens für die Epoche an sich (vgl. die „besten Köpfe“), und drittens darf ihm durchaus literarhistorische Wichtigkeit als Lyriker und Übersetzer zugemessen werden. Ich möchte mich, nach einer sehr kurzen biografischen Skizze des Dichters (schließlich hat bereits 1986 der Autor Ernst Müller eine 2001 neu aufgelegte Biografie unseres Dichters herausgegeben, die sich für eine Lektüre zum Leben Hölty eignet, wissenschaftlichen Ansprüchen hingegen nicht genügt: E. M.: Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Leben und Werk. New York, London und Frankfurt am Main 2001), vor allem auf den dritten Punkt konzentrieren. Denn Höltys lyrisches Schaffen gehört gleichermaßen zum Glanzvollen wie auch Unbekannten in der Literatur der frühen Goethezeit.

Hölty stammte aus einer protestantischen Pfarrersfamilie. Geboren wurde der Dichter am 21. Dezember 1751 in Mariensee, einem Dorf im Neustädter Land zwischen Bremen und Hannover, geboren. Sein Vater Philipp Ernst Hölty begann früh, den Sohn in zahlreichen Fächern zu unterrichten: Neben Fremdsprachen, ohne deren Kenntnisse und spätere akademische Vertiefung Hölty niemals hätte hunderte von Übersetzungen bekannter und weniger bekannter Texte hätte leisten können, standen unter anderem Geometrie, Geographie, Mathematik und Rhetorik auf dem Lehrplan. Der Geist des Dichters wurde also früh geschult, Hölty auf seinen Lebensweg als umfassend gebildeter Geistlicher vorbereitet. Ab 1769 studierte Hölty in Göttingen Theologie, wobei auch (vgl. oben) das Sprachenstudium eine wesentliche Rolle in seinem akademischen Leben spielte. An der Göttinger Universität kam er schnell mit anderen jungen Männern, unter anderem Johann Martin Miller, Johann Heinrich Voß und Heinrich Christian Boie, in Kontakt. Dass darin die erhaben-pathetische Gründung des Hainbunds gründete, haben wir im einleitenden Kapitel zu diesem Projekt bereits gesehen. Seit 2008 verleiht die Stadt Hannover alle zwei Jahre den Hölty-Preis für Lyrik der Landeshauptstadt und der Sparkasse Hannover, das beachtliche Preisgeld von 20000 Euro stiftet die Hannoveraner Sparkasse. Erster Preisträger war im Jahr 2008 Thomas Rosenlöcher.

Hölty hat, trotz seines kurzen Lebens, ein beachtliches literarisches Werk hinterlassen. Walter Hettche, der Herausgeber der Hölty-Standardedition, sagt dazu:

Die Gründung des Hainbunds am 12. September 1772 und die Freundschaft mit dessen Mitgliedern war nach den vielfältigen Anregungen durch eigene Lektüre der entscheidende Anstoß zu seinem lyrischen Schaffen, das alle damals aktuellen Formen und Inhalte in sich vereinigt: Balladen, anakreontische Gedichte und vor allem formvollendete Oden, denen die Dichtung Hölderlins manche Anregung verdankt. Ausgehend vom Pathos der Oden Klopstocks entwickelt Hölty diese Gattung weiter zur Natur- und Stimmungslyrik der Empfindsamkeit,  in der sich die vom großen Vorbild übernommenen Odenformen mit den neuen, „modernen“ [sic] Inhalten verbinden. Auch in den Formen der Minnelyrik, die erst von den Romantikern nachhaltig wiederentdeckt wurde, hat Hölty sich versucht, und er, nicht Gottfried August Bürger, ist der eigentliche Begründer der deutschen Kunstballade: Sein „Töffel und Käthe“ (1772) ist das erste deutsche Gedicht, das diese Gattungsbezeichnung verdient.

(Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Gesammelte Werke und Briefe. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Walter Hettche. Göttingen2 2008, S. 465f.)

 

Freilich können wir in diesem Rahmen nicht die gesamte Vielfalt der Höltyschen Lyrik untersuchen und darstellen; das ist Aufgabe einer Monographie über den Dichter, deren Niederschrift sehr zu begrüßen wäre. Sehr wohl aber werden wir die (thematischen und gattungsgeschichtlichen) Eck- und Schwerpunkte, die das Werk des Dichters ausmachen (und seine Stellung in der Literaturgeschichte bedingen), in den Blick nehmen.

Zu Meisterschaft bringt es Hölty bei seinen elegischen Gedichten. Die Ursprünge dieser lyrischen Form sind in der griechischen Antike zu verorten: Als Elegie gilt

in der Antike jedes Gedicht in elegischen Distichen mit Ausnahme des Epigramms […]; die Festlegung auf eine wehmutsvolle, klagend-entsagende subjektive Gefühlslyrik geschah erst später, so daß rein formale Elegien ohne sehnsüchtige Trauer ebenso möglich sind wie stimmungsmäßig echte Elegien ohne Distichen-Form. […] Mit dem Durchbruch von Gefühlsbewegung und Naturschwärmerei in der Empfindsamkeit erreicht die Elegie ihre Blütezeit: Themen sind Abschied, Trennung, Sehnsucht, Erinnerung und Totenklage; zuerst in England […], in Frankreich […], in Deutschland besonders Uz, Klopstock (in antiker Form), der Göttinger Hain (Hölty, Miller; bei Voss und Friedrich L. v. Stolberg Nähe zum Idyll), Matthisson, Claudius und von Salis-Seewis.

(Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verbesserte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2001, S. 205—206)   

 

Eine von Höltys Elegien wollen wir genauer anschauen.

Wesentlichen Einfluss übte der englische Dichter Thomas Gray (Gray lebte zwischen 1716 und 1771, größtenteils als Gelehrter in Cambridge. Seine dichterische Produktivität steht in keinem Verhältnis zu seiner Bedeutung: Obwohl er nicht einmal 1000 Zeilen hinterließ, gilt er als die herausragende Gestalt des literarischen Englands um 1750.) auf Hölty aus. Grays „Elegy Written in an Country Church-yard“ (Elegie auf einen Dorfkirchhof) (zit. nach www.thomasgray.org; Alexander Huber ist der Herausgeber dieses online-basierten Thomas Gray Archivs der Universität Oxford) gilt als das repräsentativste Gedicht der (englischen) Empfindsamkeit (einer literarischen Strömung innerhalb der europäischen Aufklärung, in der das überschwängliche Gefühl nicht als Makel gilt; bedeutende Vertreter der Empfindsamkeit waren neben Gray in England auch Laurence Sterne und Samuel Richardson, in Deutschland Friedrich Gottlieb Klopstock und Christian Fürchtegott Gellert, und in Frankreich kann man Jean-Jacques Rousseaus Briefroman Julie ou la nouvelle Héloise dieser Strömung zurechnen), ist sein bekanntestes und wurde häufig rezipiert (in Russland beispielsweise leitete die Übersetzung der Elegie durch Wassili Schukowski den Beginn der Romantik ein). Hölty konnte sich der gewaltigen poetischen Macht von „Elegy Written in an Country Church-yard“ nicht entziehen und dichtete in der Tradition Thomas Grays seine „Elegie auf einen Dorfkirchhof“. Hölty sagt selbst, dass es keine Nachahmung sei, sondern eine „Ausführung derselben Idee“. Doch was mein Hölty damit? Vergleichsinterpretationen können darüber Aufschluss geben.

Thomas Grays Gedicht ist, wie der Titel eindeutig ausdrückt, auf einem Dorfkirchhof, i. e. der dazugehörige Friedhof, lokalisiert. Interpreten sehen in diesem Friedhof den von St. Giles Church in der kleinen Stadt Stoke Poges in Südengland; Gray selbst ist ebenfalls dort begraben. Ein lyrisches Ich kommt am „Church-yard“ des Titels vorbei und stoppt einen Moment, um über die Toten, die dort begraben sind, nachzudenken. Das Ich ist von Tod und dem Gedanken an denselben umgeben, und den ersten sieben Strophen finden sich zahlreiche Bilder, die dem Gegensatz von Leben und Tod herstellen (zum Beispiel: „The cock's shrill clarion, or the echoing horn / No more shall rouse them from their lowly bed“ (19—20)). Der Friedhof an sich erscheint in Grays als klassischer Topos des memento mori (dt. so viel wie: Gedenke zu sterben), also der Erinnerung daran, dass jeder Mensch sterblich ist und das Leben vergänglich. Daran erinnert sich auch das Ich: Der Friedhof ist für ihn das Zeichen, sich seines unvermeidlichen Sterbens bewusst zu werden und nicht Wert auf sein irdisches Leben zu legen. Eine weitere wesentliche Bedeutungsebene ist die Gegenüberstellung von arm und reich bzw. von armen und reichen Begrabenen: Die einfachen, die simplen Tugenden der ärmlichen und ungebildeten Landbewohner sind für das Ich mehr wert als zum Beispiel „Honor“ (43) und „Flattery“ (44). Am Ende des Gedichtes ist das Ich so weit, sich von der wohlhabenden und gebildeten Welt („Knowledge“ (49) ist für das Ich besonders wichtig. Es sieht die Armut der Landleute als Blockade auf dem Weg zu hoher Bildung und Wissen an und entscheidet sich dafür, sich ob seiner Bildung nicht für etwas Besseres zu halten) loszusagen und mit den ärmlichen Begrabenen zu identifizieren. Deshalb wird das Ich auch auf diesem Friedhof begrabenen. Thomas Gray möchte klarmachen, dass nicht nur die Reichen nach dem Tod Beachtung und Ehrerbietung verdienen, sondern auch der Armen gedacht werden muss – obwohl sie und ihre moralischen Tugenden und Stärken von der Gesellschaft oft vergessen werden.

Höltys „Elegie auf einen Dorfkirchhof“, 1772 entstanden, greift die Themen – oder, wie Hölty sagt, „Idee“ – der Gray'schen Vorlage auf und setzt sie im typisch schwermütigen Elegienton des Dichters um. Der Text ist ungereimt und in freien Versen verfasst. Das lyrische Ich wird in einer Abendszenerie, an einer Linde sitzend und „die Epheuranken / Dort am Kirchthurm“ (11—12) malend, präsentiert, die vor allem durch die hereinbrechende Dunkelheit bestimmt wird und dadurch sowie durch die Wortwahl und Gestaltung der Bilder eine düstere und traurige Stimmung entstehen lässt; und auch die Aussage des wehmütigen (19) Ichs, dass die „Abendglocke [...] den jungen Maytag / Weinend jetzt zu Grabe läutet“ (1—3), trägt zu dieser Stimmung bei. Zudem wird das Thema des Gedichtes mit dieser Dämmerungsmetapher vorweg genommen: Hölty befasst sich, das weiß jetzt auch der aufmerksame Leser, der mit dem Hinweis auf Thomas Gray nichts anfangen konnte, mit dem Tod. Es dauert war noch bis zur vierten Strophe, bis der Tod dann in greifbarer, „personifizierter“ Form auftritt; aber die Landschaftsbeschreibung und die Stimmung des Ichs, den „Wehmuth“ (14) bereiten eindeutig den Weg dorthin. „Süße Ruhe schlinget hier die Arme / Um des Landmanns Urne“ (15—16) heißt da, und wir können zwei wesentliche Dinge aus diesen Versen entnehmen. Zum einen macht Hölty klar, dass der Tod nichts Finsteres, Furchtbares ist. Vielmehr verschafft er seinen Empfängern „süße Ruhe“ durch das immerwährende Entschlafen aus der Welt. Der Tod wird damit als etwas Erlösendes empfunden und es scheint, als beneidete das lyrische Ich den Landmann um eben diese „süße Ruhe“, also seinen Tod. Mit der Figur des „Landmanns“ (16), dessen Asche in der „Urne“ (16) ruht, definiert Hölty die soziale Ebene, die gesellschaftliche Schicht, aus der sein Personal des Friedhofsgedichtes stammt (und ist damit ganz nah bei Gray!). Der Landmann wird stellvertretend eingeführt für die einfachen Menschen (dazu werden ganz unkonkret „Mädchen“, ein „Bergmann“ und ein „Jüngling“ genannt), die ihre letzte Ruhestätte auf dem Dorfkirchhof gefunden haben. Hohe Personen – Adlige, reiche Bürgerliche etc. – haben keinen Platz auf diesem Friedhof. Dies wird implizit durch die Auswahl der Figuren deutlich und explizit durch die elfte Strophe: „Keine Inschrift, die von Ordensbändern, / Langen Ehrentiteln, / Die von Ahnen und von Würden strotzet, / Rufet hier den Wandrer“ (41—44). Bestimmte gesellschaftliche Gruppen, die ich exemplarisch genannt habe, werde hier zwar nicht aufgerufen, aber die Bedeutung der Verse ist dennoch offensichtlich. Denn sowohl die Ordensbänder als auch die Ehrentitel, die auf Genealogien etc. verweisen, sind traditionell Menschen von Stand (im Sinne von: reich und/oder adlig) zugewiesen; für Bauern, Handwerker und Co. sind diese Statussymbole nicht erreichbar. An diese Strophe schließt sich eine an, die die 'einfachen' Tugenden der Landbevölkerung evoziert. Nur „wenig Zeilen“ (45) auf den Grabsteinen erzählen, wer dort liegt – also ganz im Gegensatz zu den mit „Ordensbändern“ und „langen Ehrentitel“ „ueberfüll[ten]“ (46) Steinen der Noblesse, von denen das Ich in der elften Strophe berichtet. Denn viele Worte, so wird deutlich, sind nicht nötig, um die Wichtigkeit und Bedeutung der Verstorbenen klar zu machen: Auf dem Friedhof ruhen „treue Väter, / Tugendhafte Mütter“ (47—48). Diese Eigenschaften, die dem Ich (und der einfachen Bevölkerung, so kann man ableiten) viel bedeuten, brauchen keine Worte, sie sind selbsterklärend aus dem Stand der Verstorbenen heraus. Diese euphorisch-positive Darstellung eines einfachen Charakters bzw. Lebens setzt sich im letzten Drittel des Gedichtes fort, Beispiele siehe in den Strophen 15ff. Und wenn das Ich die Tugend als „Blumengeber“ (84) bezeichnet, zeigt sich nochmals, dass ein anständig geführtes Leben, das nicht auf Mammon ausgerichtet ist, für nachhaltigen Ruhm sorgt bzw. sorgen kann. Ob diesen Äußerungen eine generelle Kritik höherer Stände innewohnt, mag ich nicht abschließend beurteilen; denn genuine Kritik an zum Beispiel Adligen gehört nicht zu den Themen Höltyscher Lyrik. Wohl aber eine grundsätzliche Distanz zu allem Monetären, Hochtrabenden, auch Städtisch-Kultivierten, was man in Anlehnung an die Abscheu des französischen Schriftstellers und Philosoph Jean-Jacques Rousseau vor der etablierten Kultur und Gesellschaft als Primitivismus bezeichnen kann und durchaus in der Lyrik der Hainbündler im Allgemeinen und in den Texten Höltys im Besonderen von Bedeutung ist. Ich halte es für legitim, das Gedicht in diese Richtung hin zu verstehen: Es geht dem Dichter darum, darauf hinzuweisen, dass eine einfache Lebensweise zum persönlichen Glück führen kann, dass man keinen Reichtum und eine hohe soziale Ebene dafür benötigt. Besonders, da im Tod alle gleich sind, wie das Ich in der 13. Strophe formuliert: „O was nützt der Marmor? Schläft man etwa / Einen süßern Schlummer / Unter Ehrensäulen, als der Landmann / Unter seinem Rasen?“ (49—53). Unter der Erde, um ein wenig flapsig zu formulieren, gleichen sich die Menschen einander an, und der „Schlummer“ ist derselbe – ob in einem einfachen Grab, in dem der Landmann, der wiederholt aufgeführt wird, seine letzte Ruhe gefunden hat oder in unter „Ehrensäulen“, die wiederum als Metapher für die Grabstätten der Reichen (vgl. elfte Strophe) gelten müssen. Zudem ist diese Strophe ein Beispiel für den Topos der Vergänglichkeit, für die Vanitas, die uns schon in der Barock-Literatur zuhauf begegnet: Alles ist eitel, im Sinne von nichtig, und der Mensch erlangt im Ende nichts als den Tod, da alles andere vergeht. Ob der Tote, wie Hölty dichtet, „unter seinem Rasen“ oder „Ehrensäulen“ liegt, spielt somit keine Rolle. Höltys lyrischer Umgang mit Sterben, Tod und Erinnerung verdient Bewunderung. Die Bildwelt ist ebenso schön wie wirkungsmächtig, sein Ton ist sowohl schwermütig als auch einfühlsam, seine Gedanken sind tiefgründig und zeugen von einem besonders wachen und einfühlsamen Geist. Ob man Hölty Todessehnsucht unterstellen, mag ich nicht beurteilen. Klar ist aber, dass der Dichter größtes Interesse für das Thema aufbringt und sich persönlich dazu hingezogen fühlt. Das hängt sicherlich mit Höltys (Kranken)Biographie zusammen: Sein vorzeitiger Tod war schließlich nur Resultat einer langen gesundheitlichen Leidensgeschichte, und sicherlich beschäftige Hölty sein Lebensende zusehends – so dass die „Elegie auf einen Dorfkirchhof“ für den damals 24-Jährigen eine vorzeitige Verarbeitung seines eigenen Endes gewesen sein könnte.

Auf den Primitivismus bei Hölty und der Gruppe wurde im Rahmen der Interpretation der Elegie bereits hingewiesen; nun ein besonders aussagekräftiges Beispiel für die Umsetzung des (philosophischen) Konzeptes. Das Gedicht „Üb' immer Treu und Redlichkeit“, das eigentlich „Der alte Landmann an seinen Sohn“ heißt – „Üb' immer Treu und Redlichkeit“ ist der erste Vers des Textes, erst später übernahm man diesen Vers als Überschrift – entstand 1775, und seine spätere Umsetzung als Volkslied gehört zu den bekanntesten deutschsprachigen Texten dieser Gattung. Unter anderem hat Wolfgang Amadeus Mozart „Üb' immer Treu und Redlichkeit“ auf die Melodie des vom Vogelfänger Papageno in der Oper Die Zauberflöte gesungenen „Ein Mädchen oder Weibchen“ mit geringfügigen Abwandlungen in Szene gesetzt. Ich zitiere den vollständigen Text, wie er in der Edition von Walter Hettche (S. 227f.) zu finden ist.

Üb‘ immer Treu und Redlichkeit, / Bis an dein kühles Grab / Und weiche keinen Fingerbreit / Von Gottes Wegen ab. / Dann wirst du, wie auf grüner Aun, / Durchs Pilgerleben gehn; / Dann kannst du, sonder Furcht und Graun, / Dem Tod ins Auge sehn.


Dann wird die Sichel und der Pflug / In deiner Hand so leicht; / dann singest du, beym Waßerkrug, / Als wär dir Wein gereicht. / Dem Bösewicht wird alles schwer, / Er thue was er thu; / Der Teufel treibt ihn hin und her, / Und läßt ihm keine Ruh.


Der schöne Frühling lacht ihm nicht, / ihm lacht kein Ährenfeld; / Er ist auf Lug und Trug erpicht, / Und wünscht sich nichts als Geld. / Der Wind im Hayn, das Laub im Baum / Saust ihm Entsezen zu; / Er findet, nach des Lebens Traum / Im Grabe keine Ruh.


Dann muß er in der Geisterstund‘, / Aus seinem Grabe gehen; / Und oft, als schwarzer Kettenhund, / Vor seiner Hausthür stehn. / Die Spinnerinnen, die das Rad / Im Arm, nach Hause gehn, / Erzittern wie ein Espenblatt, / Wenn sie ihn liegen sehn.


Und jede Spinnestube spricht / Von diesem Abentheur, / Und wünscht den toten Bösewicht / Ins tiefste Höllenfeur. / Der alte Kunz war, bis ans Grab, / Ein rechter Höllenbrand; / Er pflügte seinem Nachbar ab, / Und stahl ihm vieles Land.

Nun pflügt er, als ein Feuermann, / Auf seines Nachbars Flur; / Und mißt das Feld, hinab hinan, / Mit einer glühnden Schnur. / Er brennet, wie ein Schober Stroh, / Dem glühnden Pfluge nach; / Und pflügt, und brennet lichterloh, / Bis an den hellen Tag.


Der Amtmann, der im Weine floß, / Die Bauren schlug halbkrum, / Trabt nun, auf einem glühnden Roß, / in jenem Wald herum. / Der Pfarrer, der aufs Tanzen schalt, / Und Filz und Wuchrer war, / Steht nun, als schwarze Spukgestalt / Am nächtlichen Altar.


Üb‘ immer Treu und Redlichkeit, / Bis an dein kühles Grab / Und weiche keinen Fingerbreit / Von Gottes Wegen ab. / Dann suchen Enkel deine Gruft, / Und weinen Thränen drauf, / Und Sommerblumen, voll von Duft, / Blühn aus den Thränen auf.

 

Man erkennt auf einen Blick, dass der Landmann aus seiner gewachsenen Position als Vater heraus seinen Sohn moralisch unterweist und ihm wesentliche, grundsätzliche Verhaltensregeln für sein Leben mit auf den Weg gibt. Diese Regeln sind auf der Basis eines primitivistischen Konzeptes aufgestellt und werden mit negativen Gegenbeispielen untermauert. Wer Schlechtes sät, wird Böses für sich Ernten, ist die unverkennbare Botschaft des Textes. Treue und Redlichkeit sind die Schlagwörter der „Lebensweisheit“ (Helmut de Boor/Richard Newald: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Sechster Band/erster Teil, S. 213), die eine Lebensführung aufrufen, die, kurz gesprochen, auf einfacher, gelebter Frömmigkeit beruht: Wer nicht von „Gottes Wegen“ (4) abweicht, der hat, so sind die Worte des alten Landmanns zu verstehen, das Himmelreich nach dem Tod vor sich. Die Werte, die dieses Handeln voraussetzen, sind einfache: Es geht um Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und ein grundsätzlich anständiges Verhalten gegenüber anderen Menschen. Der besondere Kniff, den Hölty findet, ist aber ein anderer. Es sind explizite schlichte, simple Verhaltensmuster, die den Menschen zu einem guten Wesen machen, dass er „sonder [i. e. ohne; P. P.] Furcht und Graun, / Dem Tod‘ ins Auge sehn“ (7—8) kann! Die Lebensweisheit des Textes ist völlig von kulturell etablierten (städtisch-großbürgerlichen) bzw. höfischen Gesellschaften abgekoppelt und postuliert den Vorteil des einfachen Landlebens, das, sofern richtig gelebt, von Verlockungen wie Geld oder Ehre (vgl. die Auffassung in „Elegie auf einen Dorfkirchhof“, dort findet sich eine weitgehend deckungsgleiche Konzeption, wie ich beschrieben habe!) nicht beeinträchtigt wird. Wir haben es hier mit einer „Idealisierung des Bauerntums durch das Bürgertum“ (Roy Pascal: Der Sturm und Drang. Autorisierte deutsche Ausgabe von Dieter Zeitz und Kurt Mayer. Stuttgart² 1977, S. 95) zu tun: Der Bauer wird „in der Familie und auf dem Feld gesehen, als Idealbild bürgerlicher Moralauffassung, als Vater und Sohn, als Christ, gehorsam und zufrieden“ (Pascal, Der Sturm und Drang, S. 95—96) dargestellt, und über Hölty sagt Roy Pascal in seiner grundlegenden Studie zum Sturm und Drang, er habe „zahlreiche Lobgedichte“ geschrieben, in denen die „Freuden der bäuerlichen Arbeit […] und die seelische Zufriedenheit, die sie mit sich bringen“ gepriesen werden (S. 96). Wer sich im Leben menschlich benimmt und anderen keinen Schaden tut, wird nach dem Tod belohnt werden: zum einen durch Gott im Himmelreich, zum anderen durch die Erinnerung der Nachkommen. Die Enkel werden auf dem Grab des braven Mannes „Thränen“ (62 und 64) vergießen und sich so an die aufrichtige Frömmigkeit und das vorbildliche Leben des Verstorbenen erinnern. Was man im Leben Gutes tut, tut man für sich und seine ewige Seelenruhe. Negative Beispiele sind unter anderem Amtmann und Pfarrer. Beide haben sich Verfehlungen zu Schulden kommen lassen, durch die ihnen kein ruhiger, ewiger Schlaf vergönnt ist. Ruhe ist denn auch das implizite Stichwort: ein ruhiges Leben führen, sich nicht von Gier etc. antreiben und somit verderben lassen, wird Ruhe und Frieden im Jenseits mit sich führen. Ein weiteres, lyrisch sehr schönes Beispiel für die Idealisierung des einfachen Lebens, die in „Der alte Landmann an seinen Sohn“ kurz vor Höltys Tod noch einmal so nachhaltig und eindrücklich zum Ausdruck kommt, ist der elegische Text „Der Winter“, der die Edition Walter Hettches eröffnet: „Sey mir, du Flur, du weißgeschleyrte Erde / Gegrüßet! Deine Majestät / Bezaubert mich, wiewohl jetzt keine Herde / Auf deinen öden Triften geht, / Und keine Harmonie die Schattengänge / Des Waldes füllt. Ich liebe dich / Mehr als den Flitterprunk, und das Gedränge / Der Stadt, von der die Ruhe wich“ (21—28). Klarer und eindeutiger könnte eine Absage an das urbane-bürgerliche Leben nicht formuliert sein! Das lyrische Ich, recht einfach mit einem Bauern bzw. Hirten zu identifizieren, zieht den kargen Winter und die unwirtlichen, schneebedeckten Landschaften, dem städtischen Gedränge vor und setzt „Flitterprunk“ als negatives Exempel für Verhaltensweisen, ja Leben das Ganzes, in der Stadt. Städtische Existenz glitzert und ist prunkvoll, aber sie ist wertlos und verdorben gegenüber dem einfachen, beschaulichen Leben des Landvolks – auch wenn es Schattenseiten hat. Der Winter ist so eine Schattenseite.

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