Goethezeitportal.de

 

Inhalt

 

Goethe, Schiller und die Goethezeit auf Google+

Informationen über Friedrich Schiller

>> "Schiller - Erinnerungen" Auszüge aus dem gleichnamigen Roman-Manuskript von Gisela Seidel

>> Studium und Militärzeit


Schattenriss: Schiller als Karlsschüler. Quelle: Könnecke 1905

Jura war kein Fach, das ich sonderlich schätzte. Es war öde und machte die Tage lang. Der Stoff war zu spröde und lähmte meine poesieerfüllte Seele, denn er ließ keinen Raum für schöngeistige Träumereien. Derartige Visionen waren der nüchternen Materie eher abträglich. Die Rechtsprechung vertrug sich weder mit der Welt meiner Ideale, noch mit meinem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. So verfolgte ich die Vorlesungen mit nur geringem Interesse. Ich war mehr damit beschäftigt über meine dichterischen Pläne nachzudenken und flüchtete in die Phantasiewelt meines Herzens, - eine ideale, nicht die, die wirklich ist. Ich empörte mich darüber, dass ich eine Bestrafung riskierte, wo mein inneres Bewusstsein für die Rechtlichkeit meiner Handlungen sprach.


1774 begann die Freundschaft mit Georg Friedrich von Scharffenstein, Friedrich Wilhelm von Hoven, Johann Rudolph Zumsteeg und später Johann Wilhelm Petersen, welche sich ebenfalls für schöngeistige Literatur und Philosophie begeisterten. Goethe wurde beinahe wie ein Gott von uns verehrt, dessen unnahbare Arroganz mir jedoch schon damals ein Gräuel war.
Die Karlsakademie war in drei Kurse aufgeteilt. Es gab einen philologischen, einen philosophischen und einen Berufskursus. Als der Philosophieunterricht 1775 mit den neuesten Theorien gefüllt und mit Shakespeares Werken bereichert wurde, lebte ich auf.
Wissbegierig verschlang ich dessen Schöpfungen im Anschluss an die von Voltaire. Philosophische Schriften von Lessing, Mendelsohn und Sulzer; den Plutarch und Rousseaus Werke las ich mit Lust. Ach, es gab so viele große Geister, die ich verehrte! Die Schriften des Moralisten Garve liebte ich besonders. Gerstenbergs  Trauerspiel „Ugolino“ hatte ich bereits 1773 nahezu verschlungen. Ich versank in die Welt des „Klopstockschen Messias“, getragen von heiligen Schauern und gottesfürchtigem Entzücken. Auf der Lateinschule hatte ich mich schon früh in der metrischen Übersetzung lateinischer Dichter geübt und versuchte diese in Nachahmungen der Klopstockschen Werke anzuwenden.
Den Sinn des Lebens wollte ich ergründen. Das war mein innigstes Bestreben! Ja, philosophische Gedanken beflügelten mich zu einem neuen Verständnis der Dinge, widersprachen sie doch vielen theologischen Glaubenssätzen.
Durch die Welt meiner Bücher wusste ich, dass es dort draußen noch etwas Anderes, Wundervolles, geben musste: Ein erfülltes Leben, das voller Liebe und Schönheit auf mich wartete, und einen Gott, der mich aus diesen lieblosen Mauern herausführen würde.
Das Drama „Julius von Tarent“ von Johann Anton Leisewitz war mir damals eines meiner Liebs-ten. Fortan war ich auf der Suche nach einem ähnlich tragischen Stoff. „Cosmo von Medici“ hatte ich mir zunächst erwählt, doch es blieb bei einem Versuch. Rock und Hemd hätte ich für einen ge-eigneten Stoff gegeben! Schließlich fand ich diesen in der Geschichte eines Selbstmordes. Daraus entstand mein erstes Drama Der Student von Nassau, aus dem ich regelmäßig meinen Kameraden vorlas.
Voller Eifer versuchten wir es damals den Großen gleich zu tun, indem wir in unserer ästhetischen Studentenvereinigung etwas Ähnliches wie den „Werther“ oder den „Götz“ zu schreiben versuchten.



Professor Abel. Quelle: Könnecke 1905

Es war nicht mein Wissensdrang, der mich letztendlich 1776 veranlasste, den juristischen Zweig zu verlassen und zum medizinischen zu wechseln. Als diese neue Fakultät eröffnet wurde, wurde der Wechsel auf Druck des Fürsten vollzogen. Er zitierte mich dorthin, weil ihm durch meine Professoren zu Ohren gekommen war, dass ich in den juridischen Studien zurückgeblieben sei. Das Versäumte wäre nicht mehr leicht nachzuholen gewesen.  
Eigentlich wollte ich ja weder das Eine noch das Andere. Wohl brachte ich dem Medizinstudium etwas mehr Interesse entgegen, da auch Literatur gelehrt wurde. Ich fasste also den guten Vor-satz, das neu gewählte Studium ernster zu betreiben, als das verlassene Fach der Jurisprudenz. Zumindest schien mir die Medizin mit der Dichtkunst viel näher verwandt zu sein, weil sie sich mit dem Leben selbst beschäftigte.
Die gelehrten Fächer teilten sich auf in Logik, Metaphysik und Geschichte der Philosophie, die in den Lesungen von Professor Schwab, einem der bekanntesten Kant Gegner, vermittelt wurden, und Psychologie, Ästhetik und Geschichte der Menschheit, sowie Moral derselben, bei Professor Abel, einem bei den meisten Schülern beliebten und umgänglichen Mann.

Das gute Beiwerk meines Studiums war ein neu gebildeter Literaturkreis, der sich als ideales Schaffensfeld entpuppte, in welches ich meine Ideale und mich selbst einbringen durfte. Die Karlsschule empfand die Arbeiten unseres Kreises als eine Art Rebellion gegen die bestehende Ordnung. Hier trafen sich Gleichgesinnte, mit denen ich mehr als nur kameradschaftliche Bande knüpfte. Solch eine edle Freundschaft, die ein ganzes Leben lang hätte währen können, verband mich mit Georg Friedrich von Scharffenstein, der mein innigster Vertrauter war. Doch er hatte die Eigenschaften, die das Wesen einer solchen Freundschaft ausmachen, in mir offenbar nicht finden können. Da, wo ich Verständnis von ihm erhofft hatte, machte er sich lustig über mich. Er hatte mich  bloßgestellt und beschämt. Wir haben bis zu seiner Entlassung aus der Akademie kein einziges Wort mehr miteinander gesprochen. Ich hatte mich vollends von ihm abgewandt.

Von uns Zöglingen wurde die gänzliche Unterwerfung des Willens unter den des Stifters der Pflanzschule verlangt. Der Herzog schätzte zwar die Ideen der Aufklärung, zog jedoch die repräsentativen Künste vor. Vor allem erwartete er die strengste Verleugnung unserer Individualität und die Erstickung unserer Talente.
Die Medizin breitete sich als ein völlig neues Gebiet vor mir aus. Doch war es ein fassbares, nicht abstraktes. Der Arzneimittelkunde galt mein besonderes Interesse.
Ich studierte Körper und sezierte sie. Mit Entsetzen und auf Befehl des Fürsten auch den eines Kameraden. Die Öffnung der Leiche des im Alter von siebzehn Jahren verstorbenen Malerschülers Johann Christian Hiller wurde ausgeführt. Er war plötzlich an Lungenschwindsucht und Herzbeutel-entzündung verstorben.
Doch blieb im Dunkel verborgen, wonach ich wirklich suchte. Wo steckte er, des Lebens Kern, die Energiezelle, die verbunden mit dem Kosmos alles vermochte?
Wo war der treibende Geist, die Seelenkraft, die uns lehrte, Gutes und Böses zu erkennen und den rechten Weg zu wählen? Die Tätigkeit der menschlichen Seele war – aus einer Notwendigkeit, die ich noch nicht erkannte und auf eine Art, die ich noch nicht begreifen konnte – an die Tätigkeit der Materie gebunden.
Ich, später als Arzt selbst zu manchen Behandlungen berufen, die mitunter von den Kranken nahezu gefürchtet waren, musste dereinst meinen fortschreitenden eigenen Verfall hinnehmen. Fehlte es doch an Arzneien, die damals noch gänzlich unbekannt waren, und an Mitteln der Dia-gnostik. Ich habe meinen Tribut an die Zeit gezahlt. Und so hoch der Preis auch war, heute segne ich mein leidvolles Dasein.
Mein Gottvertrauen gab mir Zuversicht. Meine Gebete waren Ventil und Kraftquelle zugleich. Sie spornten mich an, demütig ungeliebte Dinge zu tun, mein Studium zu absolvieren und auf weitere Sicht meine eigentlichen Ziele nicht aus den Augen zu verlieren.


Schiller liest "Die Räuber" im Bopserwald. Nach einer Skizze von Viktor von Heideloff. Quelle: Könnecke 1905

Es galt, meinen späteren Broterwerb zu sichern, auch wenn die Stellung als Regimentsarzt nicht sonderlich gut dotiert war. Doch der militärische Dienst war so gar nicht mein Fach. Ich sah mich zum Schreiben berufen und wollte die Poesie und den Freiheitsgedanken in die Welt tragen! Damit wollte ich ihr von Nutzen sein.
Diese innere Mission gab mir die Kraft und den Mut, zu neuen Ufern aufzubrechen. Die ganze Nation sollte hören, was ich ihr zu sagen hatte! Da war so viel in meinem Kopf. Müßig war es, nur ein paar Gedichte veröffentlicht zu sehen, wenn ich mit meinen Gedanken ganze Bücher hätte füllen können.
Damals durfte ich meine Gedanken nur heimlich aufs Papier bringen. Meistens tat ich dies, wenn ich selbst auf der Krankenstation lag oder mich dort um kranke Kameraden kümmern musste. Dann arbeitete ich bis zum Morgengrauen an den Fragmenten meines Werkes.
Das Stück Die Räuber geisterte durch meinen Kopf. Die Geschichte der zwei feindlichen Brüder beschäftigte mich seit langem. Gerade, als ich mein verstärktes Augenmerk auf meine Dissertation hätte richten müssen, schrieb ich Tag und Nacht, in jeder freien Minute, an meinem Trauerspiel.
Es sollte meine Eintrittskarte in die fremde Welt sein, die mir bisher verschlossen war. Von meinem Vater und vom Fürsten gleichermaßen unerwünscht, musste ich meine Aufzeichnungen im Geheimen betreiben. Nur meine engsten Freunde wussten davon. Es galt den Schein zu wahren! Mein Schreiben glich einem Euphorikum, das mich zu ungewöhnli-chen Maßnahmen antrieb.
Entsetzt musste ich jedoch feststellen, dass meine Dissertation Philosophia Physiologiae: „Über den Unterschied zwischen entzündlichem und fauligem Fieber“ abgelehnt worden war. Um den Ausgang meines Studiums nicht erneut zu gefährden, schrieb ich im November 1780 eine zweite, mit dem Titel: Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, die alsdann anerkannt wurde.
Das nahm mir eine große Last von der Seele. Es fehlte mir an Ehrgeiz, den medizinischen Dingen auf den Grund zu gehen, doch ich verstand es gut, mein Desinteresse daran zu verbergen.


Titelblatt des Erstdruckes "Die Räuber". Quelle: Wikipedia

Mein eigentliches Ziel stets vor Augen, wurden von mir neue philosophische Gedanken geboren, soweit diese für einen bürgerlichen Intellektuellen schicklich waren. Dies tat ich sehr zum Gefallen meines Vaters, der meinen Werdegang mit großem Interesse verfolgte und sich stets über meine Fortschritte informieren ließ. Schließlich war ich der folgsame Sohn, der genau den zuvor projizierten Vorstellungen des Vaters entsprach. Zumindest nach außen hin machte ich diesen Anschein. Niemals ließ ich Vater ahnen, wie es in meinem Inneren aussah.
Je mehr sich meine Seele erhob, umso mehr flossen auch die Worte aus meiner Feder. Oft schrieb ich bei spärlichem Mondlicht bis zum Morgengrauen. Es war eine Auflehnung in mir, die nur in Worte gefasst bekämpft oder zugelassen werden konnte.
Meines Vaters bürgerliche Armut und die daraus erwachsenen beschränkten Lebensmöglichkeiten, mit denen ich ebenfalls tagtäglich in meiner Umgebung konfrontiert wurde, ließen mich innerlich aufschreien.
Immer mehr wurde mir unsere Abhängigkeit gegenüber dem Fürsten bewusst. Auf Gedeih und Verderb waren wir den Herrschenden ausgeliefert und ihnen stets derart unterlegen, dass wir für unser täglich Brot vor ihnen dankbar auf die Knie fallen mussten. Diese Welt ekelte mich an! Und meine Familie entsprach lange nicht der untersten Volksschicht.

In meinen Räubern war es mir vergönnt, meinen Seelennöten Luft zu machen. War es doch meine Art von Protest, den ich hier äußern konnte. Ich machte die schicksalhafte Ergebenheit deut-lich, die Einfluss auf alle dargestellten Personen hatte.
Stellten hier doch die ausgebeuteten, einst ehrlichen Kaufleute und Schreiber, die, nach Verlust aller Habe zu fast heldenhaft anmutenden Verbrechern avancierten, eine Alltagsflucht und den täglichen Existenzkampf dar, dem die Menschen zu meiner Zeit ausgesetzt waren. Autonom galt es dem Spießbürgertum und dem Absolutismus entgegen zu treten, obgleich dies damals nur auf dem Papier möglich war.
„Einer für alle und alle für einen!“ - Meine Phantasiegeschöpfe waren gefangen im Netzwerk ih-rer eigenen Laster und gesellschaftlichen Strukturen. Deshalb gab es daraus letztendlich kein Ent-rinnen. Alle blieben auf der Strecke! Diese Darstellung war meine eigene Ohnmacht, ein Kampf gegen Windmühlen.
Wer siegte und was blieb am Schluss? Das Fazit war, nach dem gänzlichen Verlust der geliebten Menschen selbst dem Henker zuzueilen, um der Gerechtigkeit willen, und weil jeglicher Lebenssinn verloren war.
So wollte ich, den freien Gedanken folgend, die dubiosen Gesellschaftswerte anprangern, denen ich irgendwann zu entfliehen hoffte. Doch blieb ich im Teufelskreis des täglichen Existenzkampfes gefangen, den Schuldturm stets drohend vor Augen.

Ich fieberte dem letzten Tag meines Studiums entgegen und hoffte der Aufsicht des Herzogs und diesem entwürdigenden Gefängnisdasein bald entkommen zu können. Dennoch war ich mir sicher, dass weder die Freude noch die Zufriedenheit jemals wieder in mein Leben zurückkehren würden.
Obwohl ich mein Abschlussexamen bestanden hatte, wurden meine Erwartungen aufs Schlimmste enttäuscht, denn der ganze Jahrgang musste auf Befehl des Herzogs noch weitere zwölf Monate auf der Akademie bleiben. Seinerseits war versäumt worden, die förmliche Gleichstellung mit den Absolventen anderer Universitäten zu sichern, die eine praktische Weiterbildung an den Hospitälern durchlaufen mussten, um letztendlich als Mediziner anerkannt zu werden.
Um praktische Erfahrungen auf den Gebieten der Erkennung von Krankheitsursachen und deren Behandlungen zu sammeln, wurde ich regelmäßig in den Nachtstunden als Wärter auf der Krankenstation eingesetzt. Die stillen Stunden nutzte ich zur Niederschrift meiner RäuberSchlussfassung.

Während meines letzten Studienjahres betreute ich einen gleichaltrigen Kommilitonen Joseph Friedrich Grammont, der sich seit dem Tod seines Vaters im November 1779 in einer schweren seelischen Krise befand. Grammont gehörte zu den besten Schülern des Jahrganges. Als sich die schwere Melancholie schließlich durch körperliche Symptome äußerte, war Grammont nicht mehr in der Lage, dem schulischen Ablauf zu folgen. Er gestand mir in einem vertraulichen Gespräch seine Selbstmordgedanken und bat um ein Schlafmittel. Um einen drohenden Selbstmordversuch zu verhindern, wurden auch andere Medizinstudenten mit dessen Überwachung beauftragt, die dem Intendanten von Seeger darüber genauestens Bericht erstatten mussten. Über einen Zeitraum von fünf Wochen schrieb ich sieben Berichte an ihn. Der Herzog Karl Eugen besuchte den Kranken täglich und erkundigte sich besorgt nach dessen Befinden.
Selbst eine Kur und andere ablenkende Maßnahmen konnten den Zustand von Grammont nicht bessern. Immer wieder kam es zu neuen Krisen und schweren melancholischen Phasen, die nicht zuletzt auf das strikte militärische Gefüge der Karlsschule zurückzuführen waren.     
Am 13. Juni 1780 starb mein Freund Christoph August von Hoven im Alter von neunzehn Jahren. Tagelang hatte ich an seinem Krankenbett gewacht, und auch in der Nacht seines Todes war ich zusammen mit seiner Mutter an seiner Seite gewesen.

Nun hatte die Welt und das Leben noch mehr an Reiz für mich verloren! Tausendmal beneidete ich ihn damals um seinen Tod, und je älter ich wurde, desto mehr wünschte ich mir, als Kind gestorben zu sein. Noch wochenlang blieb meine Seele durch dieses Ereignis erschüttert.
Gegen Jahresende erkrankte auch mein zeitweiliger Zimmergenosse Johann Christian Weckherlin schwer an Lungenschwindsucht und verstarb Mitte Januar 1781.


Kasernenhof. Quelle: Könnecke 1905

Es war ebenfalls im Jahre 1780, als wir Zöglinge das Geburtstagsfest des Herzogs mit der Aufführung eines Schauspiels begehen wollten. Da man mich mit der Auswahl des Stückes und der Besetzung der Rollen beauftragt hatte, fiel die Wahl auf Goethes „Clavigo“ und natürlich besetzte ich mich selbst für die Hauptrolle. Es war mir lange Zeit nicht bewusst, dass ich als Schauspieler nichts weiter war, als eine belächelte Witzfigur. Aufgrund der erzwungenen deutlichen Aussprache und meiner nicht gerade schönen Stimme klang mein Vortrag nicht nur pathetisch, sondern so, dass meine Kameraden an gewissen Stellen in lautes Gelächter ausbrachen.


Schiller als Regimentsarzt. Gemälde von Philipp Friedrich Hetsch. Quelle: Wikipedia

Endlich wurde ich im Dezember 1780 von der Akademie entlassen, und die Freiheit schien ein wenig näher gerückt.
Doch als Regimentsmedikus im 240 Mann  starken Stuttgarter Grenadierregiment „General Augé“, das fast ausschließlich aus Invaliden und Krüppeln bestand, war es mir auch weiterhin nicht erlaubt, die Stadt zu verlassen oder meine Eltern zu besuchen, obwohl diese ganz in die Nähe des Schlosses Solitude gezogen waren.   
Wieder wurde ich in eine Uniform gesteckt, jedoch ohne Portepee, einer seitlich am Degen befestigten Quaste, wie es für eine Offiziersuniform schicklich gewesen wäre.
Obwohl mein Vater den Herzog darum bat, an Stelle des mich lächerlich machenden Kleidungsstückes neutrale Anzüge tragen zu dürfen, die er zuvor hatte schneidern lassen, unterlag ich dem herzoglichen Befehl, die Uniform des einfachen Feldscherers weiterhin tragen zu müssen.
Das empfand ich als puren Akt der Willkür und sah dies darin bestätigt, dass es dem Herzog offensichtlich Vergnügen bereitete, mich als Witzfigur dargestellt, von meinen Kameraden verhöhnt zu sehen.
So passten meine hängenden Schultern und mein nachlässiger Gang, dazu noch die überlangen Arme und meine nach außen stehenden großen Füße gar nicht in eine alte Uniform preußischen Schnittes, wie auch mein großer Kopf nicht unter den zu kleinen Hut mit dem falschen Zopf passte, was durch die gepuderten roten Haare, die eingegipsten Seitenlocken und mein bleiches Gesicht noch auffälliger wurde.
Da es mir von jeher an der nötigen Disziplin fehlte, meine innere Gleichgültigkeit militärischen Dingen gegenüber nicht nach außen sichtbar zu machen, so bestärkte mich dies in meinen Gedanken, das ungeliebte Schwabenland so schnell wie möglich auf Nimmerwiedersehen verlassen zu wollen. Alles in allem war es die beschämende Nichtachtung meiner Person, die mein Innerstes in Aufruhr brachte.
Viele Dinge hatte man mir auf der Akademie beigebracht, so auch die Reinlichkeit des Leibes. Aber ich wusste nichts von einem gepflegten, ansprechenden Äußeren, von stilvoller Bekleidung und dem Umgang mit der Weiblichkeit.
Kurzum, mir war es zu dieser Zeit völlig gleichgültig, ob mein Haar gekämmt war oder nicht, und ob meine Kleidung akkurat aussah, interessierte mich wenig. Das änderte sich erst in späteren Jahren. Anfangs, nach meiner Entlassung von der Akademie, war für mich nur der ein Mann, der auch danach roch. Allzu häufiger Tabak- und Weingenuss taten hier ihre Wirkung. Schnupftabak war das notwendige Übel, das ich täglich zu mir nahm. Beim Fehlen desselben begnügte ich mich mit einer von der Wand gekratzten Prise Staub, um meine Geruchsnerven zu kitzeln.


Schattenriss: Franz Joseph Kapf.Quelle: Könnecke 1905

Erst ein paar Wochen im Regiment, fand ich im Februar 1781 ein möbliertes Zimmer zur Untermiete in der Wohnung der Hauptmannswitwe Vischer. Sie lebte dort zusammen mit ihren zwei Kindern, denen ich herzlich zugetan war. Die Räumlichkeiten waren von ihr im Hause des Professors Haug gemietet, welches in Kasernennähe am langen Graben lag.

Dort hauste ich mehr schlecht als recht aus Gründen der Kostenteilung gemeinsam mit einem Kameraden, Leutnant Franz Joseph Kapf, einem Großmaul, der unverschämt und bösartig sein konnte. Besonders nach üppigem Weingenuss ließ er seine offensichtliche Unzufriedenheit an mir aus.
Ich fühlte mich bereits ein wenig in der Selbstständigkeit stehend, war jedoch immer noch dem Militär und dem Herzog verpflichtet.
Obwohl das Zimmer eher einem kleinen Loch glich, gefüllt von Tabakrauch und anderen widerwärtigen Gerüchen, war ich froh, dem Kasernenleben und der ständigen Aufsicht ein Stück weit entflohen zu sein.
Erstmals durfte ich nun über einen Aufwärter verfügen, den ich mir unter zweihundertundvierzig Grenadieren aussuchte, den Fourierschütz Kronenbitter, zwar etwas grotesk aussehend von Gestalt, jedoch folgsam und umgänglich. So ging es mir nun besser als zuvor, denn noch nie hatte ich über solche Annehmlichkeiten verfügen können.
Der Raum war spärlich möbliert, nur mit einem großen Tisch, zwei Bänken und einer Garderobe darin. In einer Nische befanden sich zwei Feldbetten. In der einen Ecke lagen haufenweise Kartoffeln, zusammen mit leeren Tellern und Flaschen, in der anderen mein fast fertig gestelltes Manuskript des Räuber-Dramas. Unsere Ernährung war nicht sehr abwechslungsreich. Sie bestand fast ausschließlich aus Kartoffeln und Knackwurst. Ein täglicher Weingenuss war wegen des dafür zu geringen Gehaltes von 18 Gulden nicht möglich, wurde jedoch gelegentlich ausgiebig genossen.

Meine knapp 30-jährige Zimmerwirtin wirkte durch eine besondere Ausstrahlung auf mich. Luise Dorothea Vischer verschönerte meine Wohnsituation durch ihre Anwesenheit. Ich verlor mich in Schwärmereien, träumte von ihrer Nähe und verging vor Sehnsucht nach der noch nie zuvor ausgelebten Sinnlichkeit.
Eine neue Welt tat sich mit einem Male auf, die ich in meinen Oden an Laura niederschrieb. Wie schön schien mir das Leben zu sein, wenn es gefüllt war mit Liebe! Doch sollte mir bald die erste schmerzliche Erfahrung zeigen, wie nah Liebe mit Leid verbunden war. So wuchs mein Verlangen täglich, schien mich zu übermannen und ließ mich ohnmächtig vor dieser Frau auf die Knie sinken. Wie hing ich an ihren Lippen, folgte ihren Schritten und empfand schon ein Lächeln von ihr wie eine Liebeserklärung.
Ewig würde es währen! – So erlag ich dem Irrglauben an dieses große, neue Gefühl. Obwohl meine Wirtin keinesfalls den üblichen Schönheitsidealen entsprach, sondern eher dem Gegenteil und noch dazu ein wenig kleingeistig, auch nicht gerade meinen Vorstellungen, war ich, zum Spotte aller Eingeweihten, mit rosaroter Blindheit geschlagen.
„Meine Laura“ wurde schöner dank des Weingeistes im Blute, machte sie doch einen erstklassigen Punsch. Angetrieben von Äußerungen meines Zimmergenossens genoss ich voller Hingabe ihre Nähe. Ich war gefangen von ihren blauen Augen und ihrem Klavierspiel. Mein Werben war für sie ein willkommener Zeitvertreib. Da sie mich jedoch als Liebhaber ablehnte, blieb mir nichts anderes übrig, als meine Männlichkeit bei Frauen auszuprobieren, die den Soldaten für gewöhnlich in Bordellen zugetan waren.
Dennoch vertraute ich „meiner Laura“ damals allzu naiv. Als ich Monate später mein Vertrauen durch sie missbraucht sah, weil sie geheime Briefe, die ich während meiner Flucht schrieb, indiskret herumgereicht hatte, brachte mich dies unsanft auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich schwor insgeheim, bei geschwätzigen Frauenzimmern zukünftig Vorsicht walten zu lassen und benutzte später die Indiskretion der „Vischerin“ dazu, andere Leute in Bezug auf meinen Aufenthaltsort in die Irre zu leiten.
Jahre später erfuhr ich von meinem Vater, dass meine damalige Angebetete mit einem jungen österreichischen „Kavalier“ entflohen sei, der ebenfalls ein früherer Zögling der fürstlichen Akademie gewesen war.
Eine Frau, die wie meine Mutter Bescheidenheit und Tugendhaftigkeit ausstrahlte, war nach der Entlassung aus der Karlsschule nicht gerade das, wonach ich mich sehnte. Schließlich hatte ich sehr viel nachzuholen und tat dies nun ganz ausgiebig. Doch obwohl ich in dieser Zeit die sittliche Reinheit eingebüßt hatte, sollte die Tugendhaftigkeit schon bald wieder siegend zurückkehren.

Das Fach- und Kulturportal der Goethezeit