Goethezeitportal.de

 

Inhalt

 

Goethe, Schiller und die Goethezeit auf Google+

Informationen über Friedrich Schiller

>> "Schiller - Erinnerungen" Auszüge aus dem gleichnamigen Roman-Manuskript von Gisela Seidel

>> Kindheit und Jugend


Neujahrgebet und Danksagung von Friedrich Schiller an seine Eltern (Quelle: Könnecke 1905) Januar 1769

Herzgeliebte Eltern

Eltern, die ich zärtlich ehre,
mein Herz ist heut voll Dankbarkeit!
Der treue Gott dies Jahr vermehre,
was Sie erquickt zu jeder Zeit.

Der Herr, die Quelle aller Freude,
verbleibe stets ihr Trost und Teil;
sein Wort sei Ihres Herzens Weide
und Jesus Ihr erwünschtes Heil.

Ich dank für alle Liebesproben,
für alle Sorgfalt und Geduld,
mein Herz soll alle Güte loben,
und trösten sich stets Ihrer Huld.

Gehorsam, Fleiß und zarte Liebe
verspreche ich auf dieses Jahr.
Der Herr schenk mir nur gute Triebe
und mache all mein Wünschen wahr.

Amen

Viele Tragödien hinterließ ich der Welt, doch mein Lebensschicksal schrieb mir das größte Drama. 

Meine Geschichte zeigt, dass ich ein ganz normaler Mensch war, mit allen Ängsten und Nöten. Von meinem Leben will ich erzählen, von einer Warte aus, die höher ist, als die weltliche. Aus dem Jenseits wird ein Rückblick klarer, und ich gebe aus der Transzendenz heraus die Dinge weiter, die ich sehe und an die ich mich erinnere.

In meinen Adern pulste das Blut für die Poesie, mein Herz war der Schaubühne verschrieben, und meine Seele ließ mich durch philosophische Betrachtungen in die Tiefen des menschlichen Seins schauen. Stets trieb mich mein Geist unermüdlich ans Werk.

Schließlich wurde ich das Sprachrohr des nach Freiheit und Gerechtigkeit dürstenden Volkes. Die große Rebellion des Geistes gegen den Absolutismus des Adels aber auch gegen Spießbürgertum und Kirche hatte begonnen. Es war ein Umbruch, durch den man moralische und ethische Werte neu zu bestimmen versuchte.

Die darstellenden Künste entwickelten sich ebenso wie die geistigen Schriften zu Spiegeln der Zeit und dienten als Instrument, um den Interessierten die Augen zu öffnen, über Dinge, die ein politisches Tabu darstellten, was nicht immer ungefährlich war.

Mit meinen Dramen vermochte ich so manches Theater zu füllen und dem spannungserstarrten Publikum Beifallsstürme zu entlocken, oder, als Mittelpunkt des Geschehens, die auf mich gerichteten Augen in meinen Bann zu ziehen - immer ein wenig „schwäbelnd“, was ich mir nie richtig abgewöhnen konnte.

Und in Schwaben beginnt auch meine Geschichte:


1

2

3

4

Es war ein einfaches Leben, in welches ich am 10. November 1759 hineingeboren wurde. So kam ich als zweites Kind nach meiner Schwester Elisabeth Christophine Friederike, als einziger Sohn der Eheleute Elisabetha Dorothea, geborene Kodweiß, und Johann Caspar Schiller in Marbach auf eine bürgerliche Welt, die von Armut und Standesdünkel geprägt war. 

Anfangs erzog uns meine Mutter nahezu allein, weil mein Vater als Offizier am Siebenjährigen Krieg gegen Preußen teilnahm und nur selten, meist in den Wintermonaten, zu Hause weilte. Sie legte besonderen Wert auf eine gute Erziehung, die sie uns trotz aller Einschränkungen finanzieller Art mit großer Sorgfalt und Wärme zuteil werden ließ.
Ihr einziger Halt, der uns Kinder ebenfalls Sicherheit bot, waren ihr fester Glaube und ihre tiefe Frömmigkeit, die stets präsent waren und liebevoll an uns weitergegeben wurden. So stand mir Gott als Vater immer näher als mein leiblicher, der mir so völlig fremd und fern schien. Obwohl er kaum zu Hause war, brachte mein Vater unsere Familie durch, so gut er konnte. Niedrigere Arbeiten kannte er aus seiner Kindheit, hatte ihn doch seine Mutter nach dem Tod ihres Mannes zur mühsamen Feldarbeit herangezogen. Später, nach seiner Schulzeit, gestattete sie ihm, bei einem Chirurgen und Barbier eine dreijährige Ausbildung in der Wundarzneikunde abzuschließen.
Er ließ sich 1757 als Fähnrich und Adjutant von dem württembergischen Regiment Prinz Louis anwerben und war eifrig bemüht, neben seinen eigentlichen Aufgaben als Feldscherer, Aushilfsgeistlicher und Werbeoffizier Dienst zu tun. Am Ende des Krieges hatte er es schließlich bis zum Hauptmann gebracht.

Aufgrund der militärischen Stellung meines Vaters waren wir gezwungen, häufig umzuziehen.
Nach dem Krieg befahl der regierende Herzog Karl von Württemberg dem Vater, als Werbeoffizier in der Reichsstadt Schwäbisch Gmünd zu dienen. Also zogen wir nach Lorch, dem nächstliegenden Grenzort, einem kleinen Dorf im Remstal, um die Kosten für Leben und Unterkunft möglichst klein zu halten.
Hier verbrachte ich drei Jahre meiner Kindheit, und wir lebten dort in sehr beengten Verhältnissen. Da mein Vater während der gesamten Zeit in Lorch keinen Sold erhielt, existierten wir von dem in den Feldzügen ersparten kleinen Vermögen.
Unsere Heimstatt war recht einsam am Fuße eines Hügels gelegen, in der Nähe eines Klosters, dessen Gebäude, umgeben von Tannenwald, neben einer Reihe weiterer Berge lag. Das kleine Flüsschen Rems schlängelte sich entlang der Weinberge, tief unten im Tal.
Die Gegend bot unserer Familie oft Anlass zu Ausflügen. Besonders die im Kloster gelegenen Gräber der Hohenstaufen waren für meine Schwester und mich ein beliebtes Ziel. Das Bild dieser Landschaft sollte mir auch später tief im Gedächtnis bleiben, und auch eine besondere Vorliebe für das Landleben und dessen Abgeschiedenheit entwickelte sich daraus.
Bei uns zu Hause herrschte die lutherisch religiöse Zucht meines Vaters, die keine Widerrede duldete. Oft wünschte ich mir insgeheim die Zeit zurück, in der er sich im Krieg befand. Als ich mit meiner Schwester und meiner Mutter allein gelebt hatte, waren wir frei gewesen von derben Erziehungsmethoden und Ängsten.

Jeden Morgen, wenn die ganze Familie beisammen war, wurde von Vater ein Gebet gesprochen, oder er las uns aus der Bibel vor. Ich verfolgte seine Worte sehr aufmerksam und schickte meine Blicke andächtig zum Himmel, weil ich mich vor dem strafenden Gott fürchtete, den Vater beschrieb. Meine Mutter sagte oft, ich sähe dabei wie ein Engel aus, mit rotblonden, gelockten, langen Haaren und scheuen blauen Augen.

Besonders liebte ich es, wenn ich gemeinsam mit Mutter und meiner Schwester an den sonntäglichen Nachmittagen lange Spaziergänge machen durfte, und Mutter uns dabei das Evangelium erklärte, wovon der Pfarrer morgens in der Kirche gepredigt hatte.
Oft vergossen wir heiße Tränen, wenn sie uns Geschichten über die Passion Christus erzählte. Sie lehrte uns, die Natur und ihre Schönheiten mit anderen Augen zu sehen und Gott in allem zu erkennen.


Das Dorf Lorch. Zeichnung aus dem Forstlagerbuch von Andreas Kieser, 1685. Quelle: Wikipedia

Vielleicht war es mein Aussehen, mit den ständig tränendroten Augen und meine oft kraftlos wirkende Erscheinung, die ihn dazu verstärkt animierte!? Immer hatte er mich im Visier. Ein hilfloses Opfer war ich für seine Züchtigungen, die noch ärger waren, als die des Vaters. Ich flüchtete oft und streunte lieber in der nahen Umgebung umher. Das war ein Stück Freiheit für mich. Nur wenn ich von Vater beim Schwänzen erwischt wurde, bekam ich erst von ihm und später in der Schule Schläge und Arrest.
Kind sein hieß: bedingungsloser Gehorsam! Mein Vater, der selber keine richtige Kindheit und Jugend durchleben durfte, weil er sich bereits von klein auf alleine durchschlagen musste, gab diese Lehre verbittert an uns Kinder weiter.
Da war keine Zeit für Streiche und Spiel! Vaters Härte verbot ihm jeglichen liebevollen Umgang mit mir. Hart werden wie er, das sollte ich! Vater lehrte uns spartanisch zu leben. Das hieß, auf ausreichende Nahrung zu verzichten, obwohl genug auf dem Tisch stand. Mäßigen sollten wir unsere Ansprüche, was dazu führte, dass wir uns oft mit knurrendem Magen in den Schlaf wälzten.
Vater bedachte mich häufig mit Zusatzaufgaben, die mich abends kraftlos in mein Bett sinken ließen. Damals empfand ich diese Belastungen als wahre Ungerechtigkeit, und ich sinnierte oft stundenlang darüber nach, warum er mir diese Schikane antat.
Auch meine Mutter konnte daran nichts ändern. Sie streichelte mir oft mit tränenerfüllten Augen voller Mitleid über mein Haar, und ich sah die Ohnmacht in ihren Augen.
Das Diktat meines Vaters forderte widerspruchslosen Gehorsam, und er pochte immer wieder mit strengem Blick auf die Ausführung seiner häuslichen Anweisungen. Zu alledem bemaß er das Wirtschaftsgeld für meine Mutter so knapp, dass sie sich oftmals mühen musste, eine warme Mahlzeit auf den Tisch zu zaubern.
Aufgrund des Mangels reagierten meine Knochen auf das schnelle Wachstums mit Nachgiebigkeit. Der Körper forderte seinen Tribut, als sich meine Beine zu einem leichten X verformten.
Die kärgliche Ernährung machte mich anfällig für fieberhafte Erkrankungen, und bereits als Kleinkind wurde ich von vielen Kinderkrankheiten und oft von Krämpfen heimgesucht.
Meine Welt war klein, grau, trübsinnig und ernst gehalten, zwar mit der Fürsorge der Mutter, jedoch ohne viel Liebe und Geborgenheit darin. Das alles entwickelte in mir einen ungeheuren Drang, aus dem Fritzle so schnell wie möglich einen Friedrich werden zu lassen.
Endlich unabhängig von den Eltern zu sein, das war mein Traum! Doch Gottes Mühlen mahlen langsam, und die Zeit kann unendlich lang sein, wenn man etwas mit allen Fasern seines Herzens herbeisehnt.
Dem ständigen Ortswechsel zufolge fiel es mir schwer, intensive Freundschaften zu knüpfen. Aber auch meine hagere Gestalt und meine dünnhäutige Blässe trugen dazu bei, dass ich keine wirklichen Freunde an meiner Seite hatte, zumal ich häufig krank im Bett lag. Obwohl ich mich mit meiner Schwester immer eng verbunden fühlte, war ich einsam, denn Christophine genoss eine ganz andere Erziehung als ich. Ich liebte sie sehr! Nur zu oft nahm sie meine Schuld auf sich, damit ich von Vaters Bestrafungen verschont wurde.


Luise Dorothea Katharina. Quelle: Könnecke 1905

1766 wurde meine zweite Schwester Luise Dorothea Katharina  geboren. Meine Mutter hatte kaum noch Zeit für mich, und auch Christophine wurde nun noch mehr in die Hausarbeiten eingebunden.
Mir fehlten Freunde, die mir nicht nur im Tagesablauf nahe standen wie meine Schwester, sondern auch meine tiefsten Wünsche und Sehnsüchte teilten. Die Einsamkeit nagte in mir, denn ich vermisste Seelengefährten, die wie ich noch zu träumen wagten. Gerne wäre ich mit ihnen aus dem Alltag geflohen, in ein Elysium hinter dem Regenbogen, um dem täglichen Druck und den Ärmlichkeiten zu entkommen.
Die Zeit schritt fort, und mit jedem neuen Lebensjahr vergrößerte sich die Leere in mir. Eine Wüstenlandschaft breitete sich aus in meinem Herzen, und meine Seele rebellierte. Es war mir, als hielten zwei unsichtbare Hände meinen Hals umschlungen, die sich langsam immer enger und enger um ihn legten. Die Luft zum Atmen wurde mir genommen. Oft wuchs der innere Druck ins schier Unermessliche.
Heimlich trauerte ich und weinte bittere Tränen, die mein Vater nicht einmal ahnen durfte. So etwas hätte er niemals akzeptiert und auch nicht verstanden, weil er mir ja sein Bestes zu geben versuchte. Als undankbar verweichlicht hätte ich dagestanden.

Wegen der Unergiebigkeit des Dorfschulunterrichtes kam ich ein Jahr später zum Ortsdiakon Moser, der mir zusammen mit seinem Sohn Christoph Ferdinand den ersten regelmäßigen Elementar- und Lateinunterricht erteilte.
Er war mein Ideal; ein gütiger Mensch, den ich stets bewunderte, und der sich mir als ein großes Vorbild darstellte, weil er in seiner Weisheit gerecht war.
Ganz anders als mein Vater, der seinen Jähzorn stets an uns und Mutter ausließ und meine eigentlich freundliche und lebhafte Art zu unterdrücken versuchte, war Pastor Moser stets freundlich und besonnen. Er war sanftmütig wie meine Mutter, aber doch geprägt von einer starken Persönlichkeit, die weder Tod noch Teufel zu fürchten schien. So wurde sein Unterricht Mittelpunkt meines Lebens und Christoph Ferdinand mein erster wirklicher Freund. Ließen doch beide, besonders der Pfarrer mit seinen Lehren, auch die Flamme der Religiosität nie verlöschen, was dazu führte, dass sich tief in mir der Wunsch entwickelte, ebenfalls Pfarrer zu werden. Ja, so wie er wollte ich sein! Zwei Jahre vergingen, und ich genoss erstmals diese für mich außergewöhnlichen Bande.


Pastor Philipp Ulrich Moser. Quelle: Friedrich Schiller. Theo Piana Volksverlag Weimar (1957)

Im Laufe der Zeit brauchten sich die Ersparnisse meiner Eltern auf, und mein Vater beschloss aus Existenznot, der soldlosen Zeit nach jahrelangem Lebenskampf ein Ende zu setzen. Aufgrund seiner persönlichen Bittstellung war es ihm letztendlich gelungen, im Dienste des Herzogs Karl Eugen in die Garnison von Ludwigsburg versetzt zu werden, der meinem Vater den zuvor geschuldeten Sold nun nach und nach auszahlte.
1768 hieß es also wieder umziehen und erneut alle zuvor geknüpften Freundschaftsbande lösen. Wieder war ich alleine und flüchtete in die Welt der biblischen Geschichten und der Bücher, die meine Mutter mir zu lesen gab. So verschlang ich jedes Buch, dessen Verständnis mir mit meinen noch geringen Kenntnissen der deutschen Sprache möglich war.
Der lieb gewonnenen ländlichen Idylle war ich entrissen und wurde nun konfrontiert mit der pulsierenden, lebhaften Stadt Ludwigsburg. Wie fremd hier alles war! Da spazierten edle Damen in mit Spitzen verzierten, weit schwingenden Kleidern und hoch getürmten, mit bunten Bändern drapierten Haaren.
Ich bestaunte die weiß geschminkten Gesichter und die gepuderten Perücken, sah Männer mit glänzenden Fräcken und Degen an der Seite. Mir riesig erscheinende Soldaten, liefen mit seitlich rasselnden Säbeln in roten Uniformen durch die Straßen. Lange Zöpfe schauten unter ihren gelben Kappen hervor, und sie schritten stolz und eilig über das alte Pflaster.
Auf dem Marktplatz trieben nicht nur Gaukler und fahrende Künstler ihr Spiel. Oft bot er den blutrünstigen Gaffern ein Schauspiel des Spießrutenlaufes, und auch ein Galgen überragte warnend und bedrohlich den Platz. Das alles machte mir Angst, und ich konnte mich nicht schnell eingewöhnen.


Soldatenstrafen. Illustration von Daniel N. Chodowiecki Quelle: Basedows "Elementarwerk

Zu meiner großen Freude durfte ich, fast 9-jährig, zum ersten Mal gemeinsam mit Eltern und Schwester die Oper besuchen. Natürlich hatte ich schon viel davon gehört und war so aufgeregt, dass meine Mutter mich schalt, ich solle Ruhe geben. Es war für mich ein großartiges Erlebnis, wenn auch die pompöse Oper und das Ballett nicht gerade meine Erwartungen befriedigten. Jedenfalls spornte es mich mit Feuereifer an, zu Hause mit Pappfiguren Theater zu spielen. Ich war berauscht, sah neue Möglichkeiten, die mir bisher nur aus Erzählungen bekannt waren.
Dieser Theaterbesuch wurde zu einem Schlüsselerlebnis, und er wiederholte sich manches Mal, wenn ich Vater besonders gute Schulleistungen nach Hause brachte. Zum Sturme in eine neue Zeit wurde ich gerufen, aber ihr fremder Klang war noch zu fern, um die leisen Töne vernehmen und ihnen letztendlich folgen zu können.


Friedrich Wilhelm von Hoven. Quelle: Könnecke 1905

Außerdem hing ich damals noch an den elterlichen Rockzipfeln und musste mich fügen. So gab ich mich Erwachsenen gegenüber stets schüchtern und ungewandt, zumal mein etwas linkisches Verhalten meine Erzieher zu Ohrfeigen und anderen Züchtigungen animierte.
Unter Gleichaltrigen meist tonangebend, imponierte ich den älteren Kameraden und löste bei jüngeren Spielgefährten einen gewissen Respekt aus, besonders, wenn ich später ungerechte Misshandlungen der Lehrer ohne jegliches Jammern über mich ergehen ließ.
Da ich nicht nutzlos zu Hause herumsitzen sollte, war mein Vater bemüht, für mich schnellstmöglich eine neue Schule zu finden. So musste ich auf die lateinische Schule gehen, die mich die Bekanntschaft mit Professor Johann Friedrich Jahn, meinem neuen Lehrer, machen ließ, der mir neben dem Lateinischen auch etwas Griechisch und Hebräisch beibringen sollte.
Als angesehener Sprachlehrer war er gewiss nicht unbedeutend, jedoch litt ich unter seiner rauen und launenhaften Art, mit der er uns Schüler immer wieder aufs Neue einschüchterte. Nie waren wir vor seinen Angriffen und Ohrfeigen sicher. Er sollte nicht der einzige Lehrer dieser Art bleiben, der aufgrund seiner Härte und Bösartigkeit von den Schülern gefürchtet wurde.
Wir bewohnten damals dasselbe Haus wie die Familie des Offiziers von Hoven, der ebenfalls im Dienste des Herzogs stand. Zwischen seinen Söhnen Friedrich Wilhelm und Christoph August und mir, die in meinem Alter ebenfalls auf der Lateinschule unterrichtet wurden, entwickelte sich bald ein kameradschaftliches Verhältnis.

Im Jahre 1770 wurde ich bei Professor Jahn in Kost und Wohnung untergebracht, da meine Eltern nach Stuttgart, in die Nähe des soeben erbauten Lustschlosses Solitude, umzogen, weil der Herzog meinem Vater die Oberaufsicht über alle Gartenanlagen und Baumschulen übertragen hatte. So verblieb ich zwei Jahre alleine in Ludwigsburg.
Da mir all der väterliche Segen zuteil werden sollte, auf den mein Vater aufgrund des frühen Ablebens meines Großvaters hatte verzichten müssen, war für mich ein Studium vorgesehen. Doch dazu wurden nur die besten Schüler zugelassen.
Trotz des eher langweiligen Unterrichtes absolvierte ich die jährlichen Landesexamen mit Auszeichnung. Ich bemühte mich besonders, weil ich später als Theologiestudent in eine Klosterschule eintreten wollte. Aber auch die Furcht vor den Züchtigungen des Vaters und des Lehrers waren Antriebsfedern für meine schulischen Fortschritte. Ich malte mir aus, wie angenehm da die Klosterschule sein musste, und meine Tagträume nahmen mir die Schwermut aus dem Herzen.
In meinen Visionen glänzten die großen Städte mit ihren Theatern und Bühnen. Wie sehr sehnte ich mich fort von all’ den Zwängen, denen ich mich hier zu unterwerfen hatte!
Getrennt von Eltern und wirklichen Freunden fiel ich durch mein gereiftes Verhalten auf. Wo sich meine Schulkameraden noch am Ballspiel begeisterten und die Freistunden verspielten, war es mir mein Liebstes, die wunderschöne Gegend um Ludwigsburg mit einem Sinnesgenossen zu erkunden.
Gerne führte ich schon damals Gespräche über ein wohl finsteres Zukunftsbild und beklagte mich über mein hartes Schicksal. Wohin sollte mich mein bürgerliches Leben tragen? Hatte ich eine Wahl? Ein ähnliches Dasein wie meine Eltern konnte ich mir für mich nicht vorstellen. Erträglich wurden mir diese Überlegungen nur durch eine Gedankenflucht, und in mir erwachte, aus der Tragik unglückseliger Stimmungen, meine spätere Berufung, wie die Geburt der Venus.
Ich war gefangen auf einer Insel der unaussprechlichen Ideen, die sich erst mit dem Festland der Alltäglichkeiten verbunden zu etwas Außergewöhnlichem entfalten würden. Aber wie sollte ich jemals dieses ferne Ufer erreichen?
1772 wurde ich konfirmiert. Zu dieser Zeit schrieb ich mir zum ersten Mal in den Versuchen der Trauerstücke Die Christen und Absalom meine Ängste von der Seele, was mein Vater jedoch mit Missfallen betrachtete. Ob er mein Werk heimlich dem Feuer übergab, weiß ich heute nicht mehr, aber es ging verloren.
Da eine sehr gute Ausbildung für eine aus bürgerlichem Hause stammende Person zwar möglich, jedoch schier unbezahlbar war, wurde mein Wunsch, als orthodox erzogener Lutheraner Pfarrer zu werden, in die Überlegungen meiner Eltern mit einbezogen, zumal die Kosten für das Theologiestudium von der Kirche übernommen wurden.
Ich empfand damals, durch meinen Religionslehrer, Superintendent Zilling, und dessen harten, dogmatischen Unterricht gequält, die religiöse Erziehung eher als widerwärtig und ungerecht. Es stand in einem abnormen Gegensatz des zuvor von Elternhaus und Pastor Moser Vermittelten. Meine Seele blieb fortan der Kirche gegenüber gespalten.
Theater statt Theologie! Hier sollte ich zumindest später den Anfangsbuchstaben treu bleiben und die Kanzel gegen die Bühne tauschen.Da der Herzog mehr als zufrieden mit der Arbeit meines Vaters war, wurde dieser zwischenzeitlich zum Major erhoben.


Freifrau Franziska Leutrum von Ertingen, Quelle: Könnecke 1905

Die Zeit machte auch vor der fürstlichen Lebenseinstellung nicht halt, denn was zuvor der Befriedigung seiner nimmersatten Leidenschaften diente, also Sinneslust, Künste, Prunk und Luxus, wich der Idee, aus dem einstigen Lustschloss eine höhere Erziehungs- und Bildungsanstalt zu machen.
Dieser Sinneswandel kam nicht von ungefähr, denn, wo der Herzog in punkto Frauen zuvor die Abwechslung liebte, wandte er sich jetzt einer einzigen Auserkorenen zu, nämlich der bereits geschiedenen Freifrau Franziska Leutrum von Ertingen, die er schnell zur Reichsgräfin von Hohenheim und später zu seiner rechtskräftigen Gemahlin erhob.

So befahl der Herzog die Söhne armer Offiziersfamilien, welche zuvor bei den Landesexamen mit besonders guten Leistungen aufgefallen waren, zwecks Rekrutierung in seine militärische Pflanzschule, um diese dort zu Gärtnern und Künstlern auszubilden.

Da das Geheiß des Fürsten als Gnade angesehen werden musste, der sich mein Vater aufgrund seiner Stellung nicht ohne Repressalien entziehen konnte, willigte ich ein, jedoch mit der Wahl eines anderen Studienfaches.

So hatte ich mich für die Jurisprudenz entschieden, wenn dies auch nicht meinen wahren Interessen entsprach.

Alle Familienmitglieder waren schockiert, und nur mein Vater schien insgeheim zu ahnen, was mich erwartete. Gerade 13-jährig wurde ich dort im Januar 1773 wie befohlen zum Studium der Jurisprudenz „abgeliefert“.

Die Kasernierung nahm ihren Lauf. Die Zöglinge des Institutes wurden streng nach ihren Ständen getrennt. Sie blieben auch privat unter sich und unterhielten keinerlei Verbindung untereinander.


Herzog Karl Eugen von Württemberg. Maler: Unbekannt. Quelle: Wikipedia

Schloss Solitude. Quelle: Wikipedia

An oberster Rangordnung standen die Söhne der Adligen, genannt „die Kavaliere“, die auch besondere Zuwendungen und Privilegien genossen. „Die Bürgerlichen“ unterteilte man in Offiziers- und Beamtensöhne; die Künstler, „Artisten“ genannt, aus Handwerker- oder Soldatenfamilien stammend, bildeten die unterste Klasse.

Ich wurde in eine Schuluniform gesteckt, die mich lächerlich aussehen ließ, weil aufgrund meiner übergroßen Gestalt Arm- und Beinlänge zu kurz waren. Drill, Schläge und Essensentzug waren an der Tagesordnung. In großen Schlafsälen wurden wir untergebracht und im Sommer um fünf Uhr, im Winter um sechs Uhr geweckt. Danach folgte ein immer gleich ablaufendes Tageszeremoniell, bei dem jeder Schritt im Kommandoton exerziert werden musste.
Betten machen, Toilette, Antreten zum Frühappell, danach in Zweiergruppen zum Frühstück, welches täglich aus Brot und Mehlsuppe bestand, Hände falten zum Gebet, das Hervorziehen der Stühle, das anschließende Hinsetzen und wieder Aufstehen, der Abmarsch. Von sieben bis elf Uhr war Unterricht, Säuberung, Umziehen zum Mittagessen; nach dem Essen bewachter Spaziergang. Erneut Unterricht von vierzehn bis achtzehn Uhr, anschließend nochmalige Säuberung, danach Selbststudium, Abendessen und sofortiges Zubettgehen.


Karoline Christiane "Nanette". Quelle: Könnecke 1905

Es war mir nicht gestattet Mutter und Geschwister zu besuchen.
Ausnahmen gab es nur nach einem gut begründeten Antrag der Eltern. Nur selten durfte mich meine Mutter des Sonntags besuchen.
Meine Schwestern Beata Friederike und Maria Charlotte habe ich gar nicht erst kennen lernen dürfen, weil sie noch vor meiner Entlassung verstorben waren, und meine jüngste Schwester Karoline Christiane, genannt „Nanette“, die im Jahre 1777 geboren wurde, sah ich erstmals nach dem Verlassen der Akademie. So abrupt aus meinem Elternhaus gerissen zu sein, fern ab von der Mutter- und Geschwisterliebe, war für mich eine schlimme traumatische Erfahrung, die ich mein Leben lang in meinen Werken zu verarbeiten suchte. 
Es gab in dieser herzoglichen Lernanstalt weder Ferien noch Freizeit und keine Sekunde ohne Aufsicht und Terror.
Sieben lange Jahre musste ich diese Hölle der verlorenen Kindheit durchleben! Mein Leben glich einem lautlosen Schrei, der so verzweifelt war, dass er aus der Tiefe meiner Hölle bis zu Gott dringen musste.

Meine angeschlagene Psyche schwächte meinen Körper. Oft verbrachte ich meine Tage auf der Krankenstation, was ich zum heimlichen Schreiben nutzte.
Die angeborene schwache körperliche Konstitution machte mich für Krankheiten empfindlicher als andere. Dies ist wohl häufig zutreffend für Personen mit rotblonder Haarfarbe und Sommersprossen, wodurch ich meiner Mutter sehr ähnlich sah. – Wie sehr ich sie damals vermisste!
Rotblond schien auch meine Seele zu sein. Höhenflüge zu fremden Sphären ließen sie wahre Tänze vollziehen, die mir allerdings in der Schule verboten waren. Mein Vater und die Militärakademie gaben hier den Takt vor. Respekt und Gehorsam standen weit vor den eigenen Empfindungen und Wünschen. Den Aufforderungen des Fürsten hatten wir unbedingt und widerstandslos Folge zu leisten. Ihm missfiel von Anfang an meine Haarfarbe, was ihn veranlasste, mir das weiße Abpudern derselben zu befehlen.

15-jährig bat ich den Fürsten um die Erlaubnis, das Amt eines Gottesgelehrten ausüben zu dürfen. Doch mein Mut wurde enttäuscht. Er lehnte natürlich ab, weil er als katholischer Herzog nicht im Geringsten daran dachte, die Gottesmänner einer anderen Fakultät zu mehren.
Ein Traum war ausgeträumt! Hier in der Schule war mir alles genommen, meine Hoffnung und Zuversicht, meine Familie, mein eigener Wille und meine Rechte.
Ich begann im Geiste einen Panzer um mich herum zu bauen, der mich wie eine Schildkröte vor den Angriffen und Launen des Fürsten schützen sollte. Wie oft stand ich vor ihm und fühlte mich so erbärmlich devot, seiner Willkür ausgeliefert, wie ein Schwein auf der Schlachtbank. Mit hängenden Schultern und eingezogenem Kopf - was mir bei meinem langen Hals gar nicht leicht fiel - empfing meine Seele die unauslöschlichsten Lektionen seiner nach außen hin deklarierten Fürsorge.
Ein Drahtseiltanz begann! Vorsichtig, Schritt für Schritt, musste ich einen Fuß vor den anderen setzen, mein fernes Ziel immer vor Augen: die Freiheit!


Friedrich Schiller als 21-Jähriger (1780). Gemälde von Tischbein nach einer Zeichnung von J. F. Weckherlin.
Das Fach- und Kulturportal der Goethezeit