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Die Weimarer Klassik

>> »IPHIGENIE AUF TAURIS« – ein Mythos wird Dichtung

Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Goethe in der Campagna

 

Tischbein platziert hinter Goethe ein antikes Relief, das eine Szene aus dem Tantalidenmythos darstellt und spielt damit auf die neue Schöpferkraft des Dichters an, die zunächst einmal in die Umarbeitung der Iphigenie fließt. Das Schauspiel "Iphigenie auf Tauris" soll in klassischer Weise vollendet werden. Was also ist das Klassische an diesem Drama?

 

Antikerezeption

Goethe nennt seine Iphigenie ein „gräcisierendes Schauspiel“, führt uns also in die griechische Antike, in eine Zeit, die in vielerlei Hinsicht zum Maßstab wurde und es sogar heute noch ist. Und so gehören Klassik und Antikerezeption unbedingt und untrennbar zusammen.

Folgen wir also zunächst einmal Iphigenie, die dem antiken Mythos entstammt und bestimmt nicht zu den Nebenfiguren gehört. Sie ist es, die einen Endpunkt unter die grausame Familiensaga der Tantaliden, der Nachkommen des Tantalos setzt. Es ist eine der bluttriefendsten Geschichten der antiken Sagenkreise und über fünf Generationen lang hört das Blut nicht auf zu fließen. Mit Tantalos beginnt das Unheil. Er stellt die Götter auf die Probe und beschert damit nicht nur sich selbst, sondern auch den nachfolgenden Generationen den Fluch der Götter. Auch noch Iphigenie, die Ur-Ur-Enkelin des Tantalos, steht in der Tradition der familiären Grausamkeiten, die der Zorn der Götter über die Familie bringt. Doch sie ist es auch, die dem Morden ein Ende macht. Und eben hier setzt Goethe an und schafft aus der Vorlage des berühmten, griechischen Tragödiendichters Euripides, der seine Iphigenie bei den Taurern im 5. Jh. v. Chr. verfasste, etwas Neues. Goethe befindet sich also in bester Gesellschaft, was ihm seine Mutter ja auch noch attestieren wird, wenn sie ihn – wir erinnern uns - auf eine Stufe mit den klassischen und damit unvergesslichen Dichtern stellt. Wie verändert Goethe die antike Vorlage, um daraus tatsächlich etwas Neues und keinen bloßen Abklatsch zu schaffen? An dieser Stelle steht neben dem Stichwort Antikerezeption ein zweites, das unbedingt zur Epoche der Klassik gehört - Humanität.

 

Das Humanitätsideal – die reine Menschlichkeit

Iphigenie, die durch ihre besondere Rolle im antiken Mythos - endet doch mit ihr das innerfamiliäre Blutvergießen - bereits groß und bedeutsam ist, wird durch Goethe noch einmal an Größe gewinnen. Sie wird zur Repräsentantin der Humanität. Während sie vom Guten im Menschen so ganz und gar überzeugt ist – und das darf nun wirklich verwundern bei dieser Familie – setzt sie alles daran, die Menschen in ihrer Umgebung für die gute Sache zu gewinnen. Und es gelingt ihr! Und zwar allein durch die Macht der Rede. Die Menschen um sie herum, was nun einmal ausschließlich Männer sind, würden nur zu gerne ihre Waffen zücken, Waffengewalt entscheiden lassen, aber Iphigenie überzeugt sie. Unglaublich! Die Welt um Iphigenie erfährt einen wunderbaren Wandel: Thoas, der König auf Tauris und in der Fassung des antiken Dichters Euripides noch der grausame Barbar, lässt sich bekehren und beweist seine Macht am Ende eben nicht durch brachiale Machtausübung, sondern durch großzügigen Verzicht. Bleiben noch die Götter, also die, die Not und Verderben über fünf Generationen gebracht haben. Auch sie sind am Ende nicht diejenigen, die ein grausames, unabänderliches Schicksal verhängen. „Der missversteht die Himmlischen, der sie blutgierig wähnt“ ist sich Iphigenie sicher. Sie hat eine gute Meinung von den Göttern, weil sie sich gute Götter vorstellen will und weil sie ihre Eigenverantwortlichkeit für das was ist und sein wird erkennt. Sie erkennt den Zusammenhang zwischen fühlen, denken und handeln und ist so eine wahrhaft autonome Seele geworden, die allein im Dienst der Menschlichkeit steht und sich dieser ganz und gar verpflichtet fühlt. Damit ist sie aber auch zu einem Ideal geworden. Unangreifbar – was will Thoas dieser Frau noch entgegensetzen als ein Stammeln; unerreichbar für jeden von uns - sind wir doch klein gegen dieses Übermaß an Menschlichkeit.

Iphigenie verkörpert ein Ideal, aber – und das ist das Besondere bei Goethe – Iphigenie lebt, sie ist nicht nur eine schattenhafte Idee. Allerdings ist sie ins Übermenschliche gesteigert und so verwundert es nicht, wenn der Dichter seine Figur als „ganz verteufelt human“ bezeichnet.

Größe ist der richtige Begriff für Iphigenie. Groß ist sie durch ihre Rolle im Mythos, der über die Jahrhunderte hinweg lebendig geblieben ist, weil ihm etwas anhaftet, das Hinz und Kunz, Frau Müller und Herr Meier niemals erreichen werden – Überzeitlichkeit und das Besondere in der Allgemeingültigkeit, weil zutiefst Menschliches unverstellt herausgearbeitet ist.

Der Mythos ist bei Goethe dadurch eben nicht bloß Staffage, kein bloßer Hintergrund. Das Besondere an Goethes Iphigenie ist, dass die Größe des Mythos und die Größe der Seele hier zusammenkommen. Iphigenie hat mit dem Alltag nichts gemein, das hehre Ideal steht der profanen Wirklichkeit gegenüber. Iphigenie könnte uns nicht im Hier und Heute begegnen, der Ort, an dem sie sich befindet, ist Utopie, Goethes Schauspiel ein Seelendrama. Da hilft nur eins: das Land der Griechen mit der Seele suchen.

 

>> ARISTOTELISCHE FORDERUNGEN AN DAS DRAMA

»Römische Elegien« Lesung mit Veronika Faber & Kurt Weinzierl, Musik: Johannes Faber

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