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Goethes Italienische Reise, Rom

Jutta Assel | Georg Jäger

Ferdinand Gregorovius: Idyllen vom Lateinischen Ufer

Historische Landschaften aus der Umgebung Roms:
Antium (Anzio), Nettuno, Torre Astura

Stand: Juli 2010
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Ferdinand Gregorovius: Torre Astura, 29. Juni 1854

Quelle:
Ferdinand Gregorovius: Römische Tagebücher 1852-1889. Hg. von Hanno-Walter Kruft u. Markus Völkel. München: C.H. Beck 1991, Abb. 30.

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Gliederung

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Die "Idyllen vom Lateinischen Ufer" bringen Bilder von Antium (Anzio), Nettuno und Astura an der Künste Latiums in der Nähe von Rom im Jahre 1854. "Sie atmen eine erquickende Meeresluft. Die blühenden Farben des Südens und das betörende Licht Italiens sind über die Ufer Latiums ausgegossen." Anzio und Nettuno sind kleine, einst blühende Städte, deren Volksleben anschaulich geschildert wird. Überreste und allgegenwärtige Spuren rufen Erinnerungen an die Antike und an die Schicksale berühmter Männer (Cicero, Oktavian, Tiberius, Caligula ...) auf. "Die Torre Astura aber am einsamsten Meeresufer wird verklärt durch das Schicksal Konradins, des letzten Hohenstaufen, der dort gefangen genommen wurde." Die Landschaftsschilderung erreicht Höhepunkte in der Beschreibungen des Urwaldes und der Büffelherden in den Pontinischen Sümpfen.

Bei den Vergleichen mit der heimatlichen baltischen Küste bezieht sich Gregorovius auf seine vor dem Aufbruch nach Italien geschriebenen "Sommeridyllen vom Samländischen Ufer", die 1852 (Deutsches Museum, Bd. I) erstmals erschienen und unter dem Titel "Idyllen vom Baltischen Ufer" von Carl von Lorck in Königsberg 1939 neu herausgegeben wurden. Die Neuedition im Gräfe und Unzer Verlag stellt die beiden Idyllen als Gegenstücke vor.

Literaturhinweise:
* Die "Wanderjahre in Italien" sind online verfügbar im Projekt Gutenberg.DE.
* Ferdinand Gregorovius: Römische Tagebücher 1852-1889. Hg. von Hanno-Walter Kruft u. Markus Völkel. München: C.H. Beck 1991. 

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Dem Text liegt folgende Ausgabe zugrunde

  • Ferdinand Gregorovius: Idyllen vom Lateinischen Ufer. Hg. von Carl von Lorck. Königsberg (Pr): Gräfe und Unzer Verlag 1941. Die Graphische Kunstanstalt zu Königsberg (Pr) hat den Text aus der Buch-Bodoni gesetzt und gedruckt.

Diese Ausgabe legt die Idyllen in ihrer endgültigen Gestalt vor. "Gregorovius hat nach dem ersten Abdruck in der Augsburger >Allgemeinen Zeitung< und nach der Buchausgabe von 1856 [in den "Figuren. Geschichte, Leben und Scenerie aus Italien", Leipzig: F.A. Brockhaus 1856, übernommen in den ersten Band der "Wanderjahre in Italien", 1856] den Text von Grund aus umgefeilt, ja umgegossen." (Nachwort.)

Bebilderung: Vier Bilder sind aus der oben genannten Ausgabe übernommen. "Die Bilder >Strandlandschaft bei Rom<, >Im Wald von Nettuno< und >Im Wald von Porto d'Anzio< stammen aus dem Besitz von Dr. Carl von Lorck. Das Bild >Monte Circello< von Ludwig Richter wurde aus der Kupferstich-Sammlung des Kunsthistorischen Seminars zu Königsberg (Pr) zur Verfügung gestellt." — Die übrigen Bilder werden an Ort und Stelle nachgewiesen.

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Idyllen vom Lateinischen Ufer

Das lateinische Meeresufer liegt nur fünf Stunden von Rom entfernt; dreimal in der Woche führt ein Omnibus Gäste dahin, welche sich einige Tage in Porto d'Anzio oder in Nettuno vergnügen wollen, oder solche, die dort Bäder nehmen, oder sich nach Neapel einschiffen. Wie zu den Zeiten der Kaiser sind noch heute jene Ufer Vergnügungsorte der Römer, und es gehört zum römischen Leben, einmal nach Antium zu fahren, wie nach Frascati, Tivoli und Albano, um für eine Zeit Rom zu vergessen. Denn selbst die herrlichste Stadt der Erde kann ermüden.

Ich fühlte das recht gegen Ende des Frühjahrs 1854, nachdem der Schirokko, der Plagegeist Roms, fast acht Wochen lang auf der Stadt gelegen hatte, und als ich nun am 24. Juni früh um 5 Uhr aus Rom mich aufmachte, hatte ich das heiterste Gefühl wirklicher Befreiung. Es war ein sonniger Morgen, das Volk schon auf den Straßen; Blumen in den Händen, zogen sie nach dem Lateran, wo der schöne Platz einem Blumenmarkte glich. Denn heute war das Fest Sankt Johann, eins der lebhaftesten Roms.

Draußen aber auf der Campagna wehte die weichste Luft über die schimmernde Grasebene und die jüngst gesichelten Weizenfelder, welche dieses Jahr zwanzigfähig getragen haben.

Die Fahrt geht fünf Stunden lang meerwärts unterhalb des Albanergebirges hin. In Fontana di Papa wird gehalten. Dies ist eine einsame Schenke zwischen Weinbergen und heißt so von einem von Innozenz XII. angelegten Brunnen. Auch pflegt der Papst dort zu rasten, wenn er im Monat Mai an den lateinischen Strand zieht, in seiner Villa zu Porto d'Anzio die Meereskühle zu genießen.

Da herrscht nun das bunteste Leben. Man sitzt an den Tischen umher und verspeist Makkaroni oder vortreffliche Eierkuchen und trinkt den schlechtesten Wein dazu. Alle Augenblicke kommt eine Karosse oder ein Reiter, ein Trupp Sbirren, welcher den Wald durchstreift hat, und von denen der eine sich laut rühmt, gestern einen Räuber erschossen zu haben. Eben langt von Anzio ein Zug Galeerensklaven an; sie sitzen paarweise gefesselt auf einem Karren, mitunter schöne junge Leute, sauber gekleidet, mit einem Strohhut, weißem Hemdkragen und flatterndem seidenen Halstuch, denn diese Galeoten werden in Rom losgesprochen. Man bringt ihnen Wein und Zigarren, die Sbirren stehen mit geschultertem Gewehr neben ihnen und lassen sich gleichfalls einschenken. Dies sind Szenen aus Fontana di Papa.

Nun geht es zwei Stunden lang durch den Buschwald fort, welcher die Pontinischen Sümpfe bis gegen Terracina begleitet, meerentlang die Küste bedeckt, und bevölkert wird vom Eber, vom Stachelschwein, vom Büffel, vom Stier und vom Fieber.

Endlich blitzt das blaue Meer auf, und wir grüßen alle freudig die azurnen Wellen von Antium, jener alten Volskerstadt, wo der verbannte Coriolan seinen Tod gefunden hatte, und auf dessen Küste einst das weltberühmte Kunstwerk, der Gipfel aller auf uns gekommenen Skulptur, in seiner Tempelnische stand, der Apollo vom Belvedere.

Nun sind es neun Jahre, daß mich jeden Sommer das Meer erquickt hat. Die schönsten Stunden meines Lebens und die heitersten Wanderungen sind an Meeresstrand und Welle geknüpft gewesen. Unzählige Bilder und Erinnerungen tauchten mir jetzt bei jenem ersehnten Anblick des Lateinermeers wieder auf. Aber indem hell und heller vor meine Phantasie traten die elysischen Küsten von Korsika und von Kampanien, die schönen Golfe von Palermo und Gefalù, von Syrakus und vom Ätnastrand, stimmte mich der Anblick der lateinischen Küste ganz herab. An jenen Meeren stehen herrliche Felsenufer und Vorgebirge in den edelsten Formen, dort erheben sich Burgen und Städte kühn auf den Ufern, und Ölbäume, Orangengärten und blühende Granaten hängen ihre Zweige fast in die Wellen nieder. Wer kann im Anblick des Meeres die Zauberwelt von Sorrento vergessen, die Gärten von Palermo oder den rebenumschlungenen, sagenvollen Strand von Aci reale am Ionischen Meer? Daß ich es also gestehe, der Eindruck dieser Ufer und des darauf stehenden kleinen Anzio enttäuschte mich. So weit nur der Blick gegen Ostia reicht, sah ich nichts als öde Heide, ein niedriges Ufer aus Ton und Sand, eine kleine Schanze darauf und Herden, welche weideten. Das Städtchen ist ein Gemisch von Villen im römischen PalaststiI, von steinernen Häusern und von strohbedeckten Campagnahütten, welche sich um einen kleinen Golf hinziehen, auf dessen Strand eine Reihe von Barken und in dessen Hafen einige Segelboote sich bemerklich machen.

In seinem Zimmer der kleinen Lokanda saß ein talentvoller Landschaftler an der Staffel, und frisch gemalte Seestücke an den Wänden bewiesen mir, wie reich seine Ausbeute gewesen war. Ich verschwieg ihm meine Enttäuschung nicht. Er aber zeigte zum Fenster hinaus auf das spiegelnde Meer und die blauen Volskergebirge im Hintergrunde. Und kaum war der Tag vergangen, als jene Erinnerungen schönerer Küsten zur Ruhe kamen und der ganz neue Zauber dieser einsamen und heimlichen Ufer von Antium mich gefangen hatte. Sie sind anmutig wie der baltische Strand meiner Heimat, und wenn auch unendlich schöner und von feinerem Wesen, so doch ihm manchmal ähnlich, und mehr als einmal habe ich an diesen gelben felsenlosen Küsten verwandter Form und Bildung ausgerufen: Das ist ja leibhaftig Neukuhren, Wangen und Sassau! Die baltische Küste und die lateinische verhalten sich so zueinander wie ein schönes, naturfrisches Volkslied zu einer klassischen Idylle des Theokrit.

Weder Poussin, noch Claude, noch Salvator Rosa würden hierher kommen, eine Meerlandschaft zu malen. Es gibt hier nichts Episches oder Heroisches von grandiosem Stil, nichts Gewagtes oder Bizarr-Phantastisches. Hier ist alles weite, atmende, sagenvolle Ferne, Stille und Anmut, im eigentlichen Sinn Meeridylle. Weit und breit sind diese Ufer von einer durchaus lyrischen Stimmung. Nun begreife ich recht, was dieses Meer von Antium für das weltgeschichtlich bewegte Rom sein mußte. Jene Römer zur Zeit des Augustus, des Caligula und Nero (und dieser wurde in Antium geboren) liebten es, sich aus ihrer großen Welt zu flüchten, einen müßigen Sommermonat in Antium zu verleben, wie es ja noch heute der Papst tut.

Ja, diese Meereseinsamkeit überschleicht unversehens das Gemüt! Jene feinen, sanften Uferlinien, welche in Meilenweite sich im Duft verlieren, jener weiche und schimmernde Sand, dieses wohlig rauschende Meer in seinem Farbenspiel, das märchenhafte Kap der Circe drüben, welches als Insel wie ein großer Saphir herüberfunkelt, die fernen kleinen Ponza-Eilande, die ihre blauen Gipfel wie Blumenglocken kaum aus den Wellen erheben, hundert weiße Segel, welche kommen, gehen und dahinschwinden, der melancholische Gesang der Fischer, Flöten- und Harfenklänge - wahrlich! die ganze Welt draußen dürfte mit glühenden Bomben und Raketen beschossen werden, hier spürte man es nimmer. In Rom konnte ich noch vor wenig Tagen die Stunde kaum erwarten, wo die Zeitungen ins Café gebracht wurden, und über den "Monitore di Toscana", die "Gazetta di Genova" oder die Augsburger "Allgemeine" fiel ich daher, sobald sie sich nur zeigten. Hierher gelangt keine Zeitung: nicht einmal das "Giornale di Roma", ein Tagesblatt, das so harmlos ist wie eine Ekloge des Virgil, wird hier gehalten, und wenn man die Leute fragt: was macht Omèr Pasciá, wie steht es mit dem großen Admiral Napieri, und hält sich noch Silistria? so zucken sie die Achseln und verstehn es nicht.

Wenn ich im Fenster meines Zimmers liege, vor welchem die neapolitanischen Fischer auf dem weißen Sande sitzen und die Netze ausbessern, tut sich der ganze herrliche Golf vor mir auf, und ich sehe das lieblichste Ufer vor bis zum Circeischen Kap. Auf der Küste erhebt sich nahe bei Anzio die edelgeformte Villa des Fürsten Borghese in einem wilden Park von Steineichen und Olivenbäumen, weiterhin Kastell und Stadt Nettuno, braun und pittoresk, ins Meer gebaut, und in aller Welt berühmt durch die Schönheit der Frauen und ihre herrliche Tracht. Die Linie der Ufer wird nun immer sanfter, feiner und länger ausgezogen; an ihrem Ende steht in traumhafter Ferne ein kleines weißschimmerndes Schloß. Dies Kastell breitet um Küste und Meer eine melancholische Stimmung aus, wie das Kap der Circe homerische Poesie verbreitet. Die Blicke jedes Deutschen zieht es magisch an und rührt sein Herz zur Wehmut und Trauer; denn es bezeichnet einen der größten Abschnitte in der Geschichte unseres Vaterlandes. Ist es doch jener einsame Turm Astura, wo der letzte Hohenstaufe, Konradin, nach der verlorenen Schlacht von Tagliacozzo hinüberfloh, und wo der Verräter Frangipani ihn festnahm und in die Hände des blutgierigen Karl von Anjou auslieferte. An jenem Turm sank die Sonne der Hohenstaufen in das Meer. Nun blickt das Schloß Astura zu mir herüber in mein Fenster, gemahnt mich wie ein sehnsuchtsvoller Klang des fernen Vaterlandes und mehrt mir die heimatliche Stimmung, in die mich die Küste schon an sich versetzt. Es hat mir nicht Ruhe gelassen, bis ich eines Tages hinüberwanderte und sein altes Gemäuer durchsuchte, und nun kann ich die blinkenden Zinnen wieder beruhigt ansehen. Und auch dahin wollen wir gehen; denn überall streifen wir hier umher, weil uns doch die Götter diese Muße geschenkt haben.

Als noch die römischen Herren nach dem alten Antium gingen, um dort ihre Villeggiatur zu halten, war die Stadt groß und ein blühender Hafen. Nero hatte ihn prächtig ausgebaut, und noch heute sieht man die Reste des steinernen Molo in den Wellen; sie sehen fast so aus wie die sogenannte Brücke des Caligula im Golf von Pozzuoli. Schon im frühen Mittelalter verfiel und versandete der Hafen; die Stadt selbst, den Sarazenen zur Beute überlassen, verschwand vom Erdboden, und auch heute ist Anzio nur ein Dorf zu nennen. Im Jahre 1700 hatte Innozenz XII. den Hafen erneuert, die Wege verbessert, einige Häuser und einen Brunnen gebaut. Seitdem sind die Päpste ab und zu hierher gekommen, um in dieser Stille zu wohnen, ehe die Fieberluft aus den Pontinischen Sümpfen aufsteigt. Pius IX. hat gegenwärtig die ansehnliche Villa gekauft, welche der berühmte Kardinal Alexander Albani im Jahre 1710 erbauen ließ, und wo Winckelmann manchen Tag in seiner und der Prinzessin Albani Gesellschaft zubrachte. Mit den Ausgrabungen, die der Kardinal hier veranstalten ließ, trieb er nicht allein überhaupt ein ansehnliches Geschäft, sondern er versorgte auch seine eigene Villa in Rom mit Statuen auf das reichste.

Die Villa in Antium ist ein Palast im Luxusgeschmack jener Zeit, in einem großen, doch verwilderten Garten, welcher an Blumen und Zierbäumen arm ist, aber an Orangen Überfluß hat. Hier kann der Papst in einer ländlicheren Einsamkeit leben als in Kastell Gandolfo; er muß selbst den Anblick der elenden Strohhütten ertragen, in welchen arme Fischerfamilien wohnen, und einen noch schlimmern. Denn hart am Molo liegt der Bagno, ein großes, vom Kastell auf der einen und von einer Kirche auf der andern Seite umschlossenes Haus, worin die Galeerensklaven bewacht werden. Sie arbeiten alle Tage auf dem Bagger, der den Hafen reinigt; aber verschämt tragen sie ihre Ketten unter den Kleidern, welche meist auch keine Abzeichen haben. Man sieht viele junge Räuber unter ihnen. Diese Galeoten lassen die Industrie in Porto d'Anzio nicht aufkommen, weil sie jedes Handwerk betreiben, dem unbescholtenen Handwerker also das Brot nehmen. Sie sammeln sich ein Ersparnis, leben gut, wissen die Wächter zu bestechen und manche Freude zu genießen; wenn sie entlassen werden, bleiben sie meist im Ort und heiraten ihre Liebschaft.

Ein Bagno und ein idyllischer Sommeraufenthalt des heiligen Vaters scheint wenig zusammenzustimmen; doch das ist echt römisch, denn irgend ein Widerspruch und Mißton muß sich in dem römischen Leben und mitten in der paradiesischen Natur offenbar machen. Der Papst will übrigens Antium wieder emporheben; er läßt viele Häuser bauen; er hat gesagt, er wolle den Anblick der schimpflichen Strohhütten nicht länger dulden.

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Ferdinand Gregorovius: Porto d'Anzio, 27. Juni 1854

Quelle: Ferdinand Gregorovius: Römische Tagebücher 1852-1889.
Hg. von Hanno-Walter Kruft u. Markus Völkel. München: C.H. Beck 1991, Abb. 29.

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Auch der Hafen wird mit jedem Jahr lebhafter. Seine Lage ist so ausgezeichnet, daß er einen großen Verkehrspunkt abgeben würde, weil er näher an Neapel liegt als Ostia und Civita vecchia. Eine römische Gesellschaft hat bereits ein Dampfschiff gebaut, welches nun zwischen hier und Neapel zweimal in der Woche fährt und mit der Post in Verbindung steht, die an diesen Tagen Reisende von Rom bringt. Man kann in dreizehn Stunden das schone Neapel erreichen und zahlt den Spottpreis von funf Scudi für die Fahrt. Dieser Verkehr zieht einiges Leben und die Anfänge der Industrie nach Anzio; und auf diese allein sind die Bewohner angewiesen, weil sie das Land fast gar nicht bauen. Es gibt hier weder Weinberge noch Olivenpflanzungen, nur Herden weiden auf der Küste; die Lebensmittel kommen landwärts herein; Nettuno schickt Wein und täglich sogar das frische Brot, Genzano Öl und Früchte, und selbst vom Volskergebirge kommen aus Cori her Kirschen und Feigen.

Die Gasthäuser sind klein und mangelhaft. Man zahlt hier fur ein Zimmer täglich 25 Bajocchi und kann auf römische Art nach der Karte essen; oder man gibt fur die ganze Verköstigung täglich sieben Paul, einen Taler preußisch Geld. Dafür hat man vier Schüsseln zu Mittag und drei Schüsseln zu Abend. Es sind meist die deutschen Maler, welche das Gasthausleben in den kleinen Küsten- und Gebirgsörtern auf solchen Fuß bringen, und vielfach kann man sie als Missionare der Gasthauskultur betrachten.

Es gibt hier eins vollauf, das sind Fische, die feinsten Seefische und Hummern, welche der Golf täglich spendet. Aber nicht die Bewohner von Anzio fischen hier, denn wie sollten sie sich bis zum Besitz einer Barke emporschwingen, sondern es kommen die beweglichen Neapolitaner auf ihren zierlichen Barken von Pozzuoli, von Baja, von Portici und Torre del Greco, rings von allen Küsten ihres herrlichen Golfs, und viele Monate des Jahres bleiben sie hier und schlafen auf ihren Barken. Andere bewohnen die Strohhütten, und es sind dies meist solche Neapolitaner, welche vor der Konskription geflüchtet sind und ihr Vaterland aufgegeben haben. Weithin an den Küsten des Mittelmeeres kann man diese Marinari Neapels, die Fischer aller Fischer, finden, selbst an den spanischen Inseln, selbst an den Ufern Afrikas, wo sie den Korallenfang betreiben; und so durchschneiden ihre bunten, graziös geformten Barken nach allen Richtungen dieses ausgedehnte Meer.

Es war mir eine große Freude, die alten Bekannten hier wieder zu finden. Wie erinnerten sie mich durch ihre lebhafte Gestikulation, ihre Mimik, ihren Dialekt, ihr Kostüm an jene Fischerszenen, die man an den Küsten Neapels sieht. Sie sind bis zum Überdruß gemalt worden, in der Natur aber, am Meer selbst bleiben sie ewig neu. Drei Schritte weit vor meinem Fenster stehen ihre Barken, gegen zwanzig an der Zahl; eine jede ist zum mindesten mit fünf Mann besetzt und hat einen Führer.

In der Regel gehen die Fischer gegen Ave Maria in See und fischen die Nacht durch. Der Fang wird des Morgens in die strohbedachten Verschließe getragen, abends aber verpackt, um nachts auf Karren nach Rom gebracht zu werden. Da gibt es nun eine sehr belebte Szene. Die Schreiber sitzen am Tisch bei einer Laterne und registrieren; rings umher sind die Fischer beschäftigt, ihren Fang in Körben herbeizubringen, während andere Eisstücke zerschaben und die Fische auf diesen Eisgrus legen. Die Mannigfaltigkeit und wunderliche Form dieser Meertiere ist erstaunlich. Da gibt es den langen Grongo, den großen und prächtigen Palombo, die schön gefleckte Murena, den flunderähnlichen stachlichten Rochen, die große Menge von glitzernden Triglien und von Sardinen, und den Merluzzo. Bisweilen kommt auch ein Delphin mit herauf, und an einem Abend sah ich im Fischlager zwei Haifische (pesce cane), welche man eben gefangen hatte. Sie waren acht bis zehn Fuß lang; ihre schwärzlich-stahlblaue Farbe hat etwas Widerliches. Man fängt sie mit dem Köder, und wenn der Hai angebissen hat, zieht man ihn herauf und erschlägt ihn mit einer Keule. Sein Fleisch, weißlich wie das des Störs, wird gegessen, doch ist es ziemlich hart.

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Johann Georg Schütz (1755-1813): Strandlandschaft bei Rom.

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So treiben es die armen Fischer Tag für Tag und führen ein rauhgewöhntes Leben der Entbehrung, welches nur demjenigen reizend erscheint, der, wie wir, müßig am schönsten Meer dahinschlendert und den tanzenden Barken und schwebenden Lichtern auf dem Wasser zuschaut. Wir kennen es ja auch von unserm baltischen Ufer her. Aber hier zeigt sich der Unterschied des nebelfeuchten Nordens und des sonnigen Südens. Der neapolitanische Fischer, so armselig er ist, halbnackt, im aufgeschürzten Beinkleid von Linnen und im bloßen Hemd, die rote Beutelkappe auf dem Kopf, lebendig, beweglich, übersprudelnd von Laune, von Witz und gutmütigem Geschwätz, immer sangesfroh und zu Schwänken aufgelegt, macht neben unserm stummen und einfältigen baltischen Fischer eine theatralische, ja selbst ideale Figur. Ich möchte sie gern einmal in einen Kahn nebeneinander setzen, den baltischen und den neapolitanischen Fischer, und möchte sie zwingen, miteinander einen Tag lang zu verkehren; ich glaube, einer würde vor dem andern ins Wasser laufen. Man wird es nicht möglich finden, daß baltische Fischer je eine geschichtliche Rolle spielen konnten wie die neapolitanischen, welche auf Masaniello stolz sein dürfen.

Masaniello war keine große, nur eine seltsame Erscheinung, eine mit dem Sturm vertraute Fischerseele, waghalsig, ehrgeizig, ein Mensch des Augenblicks wie sein Glück, gedankenlos, kopflos, ohne bestimmte Richtung, nur eine sich überschlagende Welle. Unter ähnlichen Figuren der Geschichte möchte ihm durch Stand und phantastische Laune des Glücks am nächsten stehen Johann von Leyden, der gekrönte König von Münster. Er war ein Schneider, und die Schneidergesellen sind bei uns der beweglichste aller Stände, wahre Neapolitaner, Pulcinellen und geborene Abenteurer. Johann von Leyden steht weit höher als Masaniello, weil er in einer Idee schwärmte; das können nur Schneider, Fischer vermögen es nicht. Beide bizarre Figuren passen gut fur die Oper. Aber es ist immer ein ernsthaftes Spiel der Dinge, daß im neapolitanischen Lande, wo der uralte Stand der Fischer zahlreicher vertreten ist als irgendwo anders, dieser auch einmal einen König haben mußte.

Doch uns hat diese Erinnerung von den Fischern am Strande Antiums entführt. Ihre Barken wollen noch einen aufmerksamen Blick. Sie sind höchst malerisch. Der Rand des Bordes ist jedesmal zierlich mit Arabesken auf weißem Grund bemalt, und da sieht man Delphine, Sirenen und Sterne, und mitten unter diesen fabelhaften Gestalten wieder die Madonna oder den heiligen Antonius, den Schutzpatron der Fischer überhaupt. Gegen die Sonnenglut sich zu schützen, spannt man ein leinenes Dach über die Barke, und die harmonischen Farben von Schwarz, Braun und Weiß, wie das bunte Gewirr von Rudern und Stangen, von Segeln und herabringelnden Netzen, bringen eine sehr malerische Wirkung hervor.

Der Hafen Anzios wimmelt jetzt von diesen Schifferbarken; aber auch andere neapolitanische Fahrzeuge liegen am Molo, kleine Schiffe, welche hier Holz und Kohlen laden. Denn jährlich führt diese waldbedeckte Küste für eine Million Skudi Brenn- und Baumaterial nach Neapel. Man sieht weithin auf dem Ufer von Anzio und Nettuno große Kohlenhaufen, die in den Wäldern gebrannt sind, und von dort her ziehen schwarze Büffel die riesigen Eichenstämme an den Strand. Man spannt wohl sechzehn Büffel vor einen Zug und stachelt sie dann mit der Lanze weiter. Die Neapolitaner haben große Urwälder in Kalabrien, aber es scheint, daß sie lieber das Holz aus den Pontinischen Sümpfen holen, weil sich dort die Wälder bis ans Meer erstrecken und die Küste flach ist, also die Kosten des Transports bedeutend verringert werden.

In diesem bunten Ur- und Naturleben der den Strand umlärmenden Fischer und Schiffsleute verlieren sich nun einzelne städtische Gestalten. Hier und da sitzt ein Maler unter seinem großen weißen Schirm und malt seine Strand- oder Fischerskizze. Solche Erscheinungen gehören schon als Charaktere zu einer italienischen Landschaft. Wo man auch sein mag zu schöner Frühlings- oder Sommerzeit, man wird einen solchen Malerschirm wie einen Pilz irgendwo auftauchen sehen. Selbst in den verlassenen Gegenden Siziliens traf ich diese Gestalten, und ich erinnere mich, daß ich, zu einsamster Stunde den Felsen Taorminas hinaufsteigend, plötzlich lachen mußte, denn schon von weitem blickte mir ein Schirm entgegen; ein Landschafter aus Weimar saß darunter. Ich habe an den Küsten des Samlands auffallend selten Maler zeichnen gesehen, und doch gibt es dort reiche Schönheiten, ja jene bizarren Ufer von Groß und Klein Kuhren überwiegen an großartiger Form weit alles, was dieser lateinische Strand besitzt. Nur fehlt ihnen der Zauber der warmen Farbentöne. Die Farbe der Flut ist bei uns heftig strahlend, hart oder stumpf; sie hat nicht den feinen Duft und Lichtnebel, noch die magische Spiegelung, noch das Ineinanderschwimmen zarter, schimmernder Lichter, noch diese smaragdne Ätherhelle. Aber was kann der Maler nicht malen? Was dem Unkundigen bildlos erscheint, faßt der innerlich bildende Sinn bedeutend auf und dichtet es als ein anmutiges Bild hervor. Es ist wie mit der lyrischen Poesie; Gedanke und beseelende Stimmung sind unerschöpflich. Die Natur will nur recht gesehen und empfunden sein; es ruhen in ihr zahllose Gedanken und Formen, an denen der unmusische Mensch ahnungslos vorübergeht. So gibt es auch an dieser stillen Küste wahrhaft geniale Erscheinungen, aber sie sind nicht leicht zu fassen, weil die Natur hier eine gar feine Seele hat, die mit plumpen Griffen nicht zu entschleiern ist.

Nun aber das Skizzenbuch fortgelegt und ins Meer gesprungen! Dieser narkotische Wasserduft, unendlich durchdringender als bei uns, zieht ja mit Gewalt ins Meer, und die klarste Welle lockt unwiderstehlich. Unten ist der Meeressand schneeweiß und weich wie Sammet, und weithin der Grund flach und sicher. Man sieht Badende überall, und hier und da Badehütten aus Laubgeflecht. Die Gäste kommen aus Rom, aus Velletri, aus den Gebirgen, aber selten vor dem Juli, weil der Italiener den Juni zum Baden noch zu kalt findet. Mehr als zwanzig Bäder hält man für ungesund. Das scheint in den klimatischen Verhältnissen allerdings begründet zu sein, ich habe es auf Capri selbst erfahren. Das Wasser ist hier wirksamer und aufregender als bei uns, und der zu häufige Gebrauch der Bäder bringt um Schlaf und Appetit. Von einem Badeleben und jener reizenden Heimlichkeit gesellschaftIichen Verkehrs, welche den Sommer an unserer Küste zu einem schönen Fest macht, ist hier nicht die Rede. Jeder Gast, jede Familie lebt für sich, und der Fremde ist auf das einzige Café am Hafen als Versammlungsort angewiesen, wo unter dem Zeltdach an einem und demselben Tisch in jener herrlichen Unterschiedslosigkeit der Stände, welche Italien eigen ist, der Badegast neben dem halbnackten Fischer sitzt, der das ZeIt zu benutzen kommt, ohne Kaffee zu trinken, und den Rauch aus seiner Kalkpfeife vor sich hinbläst.

Einige Offiziere vom Genie, ein alter päpstlicher Hauptmann, der mich durch seinen venetianischen Dialekt für sich eingenommen hat, sind die Herren, mit denen ich dort plaudere.

Über den Juli hinaus bleiben selten die Badegäste in Anzio, denn dann wird die Luft fieberhaft. Auch jetzt, wo die Hitze oft unerträglich ist und schon urn 7 Uhr des Morgens beginnt, fällt es nach Sonnenuntergang feucht, und die laue wollüstige Wärme, welche nun das Meer ausatmet, ist verräterisch. Man darf dann nicht ausgehen. Die schönen Mondnächte am Ufer, auf dem Wasser und im Wald, die das Leben an unserm Strande so angenehm machen, darf man hier nur aus dem Fenster genießen, denn eine einzige solcher Mondnächte im Freien brächte das Fieber und nach wenigen Tagen vielleicht auch den Tod. Es ist hier gefährlich, die Sirenen zu belauschen. Wir müssen uns also begnügen, im purpurnen Abendsonnenschein am Strand zu lustwandeln und die bunten Muscheln aufzulesen oder die kleinen flinken Taschenkrebse zu haschen. Diese Tierchen sind höchstens so groß wie ein Viertel der Hand und geformt wie die Spinnen. Sie laufen mit ihren Füßen wunderbar schnell, und wenn man sie greifen will, so versenken sie sich geschwind in den Ufersand, gerade so wie Geister auf dem Theater. Die Menschen, die hier alles essen, Frosch und Igel wie die Nachtigall, nehmen diese Krebse vom Boden auf, beißen die Schale entzwei und essen das Lebendige, wie es ist.

An diesem Strand dachte ich oft des blitzenden Bernsteins, den man daheim auflesen kann. Hier wirft das Meer solche Geschenke nicht aus, aber dafür Stücke köstlichen Marmors aller Arten. Ja, man könnte ganze Karren mit dem glänzenden, von den Wellen geschliffenen Marmor beladen, der auf das Ufer, so weit man immer gehen mag, ausgespült wird. Da lesen wir Verde antico, Giallo antico auf, den herrlichen orientalischen Alabaster, Porphyr, Paonazetto, Serpentin, blauen Smalto. Wo all das seltene Gestein herkommt, sagt uns ein Blick in die Wellen. Denn aus ihnen ragen noch die Fundamente alter römischer Wasserpaläste, und eine Viertelstunde weit ist das Ufer von Anzio nichts als eine Ruine oder ein fortlaufendes Gemäuer. Anscheinend sind es Felsenmassen und umhergestürzte Klippentrümmer, aber sieht man sie genau an, so sind sie antikes Mauerwerk aus Peperinsteinen und dem unzerstörlichen Puzzuolankitt, von der sauberen römischen Netzarbeit. Nun gähnt die alte Küste geisterhaft aus Grotten und Hallen alter Bäder und Villen, und oben auf dem Ufersaum ziehen sich die Fundamente von Tempeln und Palästen hin. Dort standen einst die schönen Marmorvillen der Kaiser. Hier schwelgte Caligula, welcher Antium besonders liebte und sogar den Plan gefaßt hatte, seine Residenz hierher zu verlegen; hier feierte er sein Hochzeitsfest mit der schönen Lollia Paulina. Hier hielt Nero, der in Antium geboren war und eine Kolonie dahin ausführte, seine Bacchanalien; mit weißen Rossen zog er hier triumphierend ein, als er von seinen theatraIischen Vorstellungen in Griechenland heimkehrte.

Auch früher schon war Antium der beliebte Lustort der Römer; Attikus, Lukullus, Cicero, Mäzenas und August hatten hier ihre Villen, und wo, in welchem kühlen Gebirge, an welchem lieblichen Strande Italiens hätten die Glücklichen nicht ihre Villen gehabt! Wie muß einst dieses Ufer von all dem Gestein geglänzt haben, das die Welle nun als Scherben der Geschichte fort und fort und schon Jahrhunderte lang an den Strand wirft! Diese Trümmer bringen einen seltsam elegisch-geschichtlichen Zug in die Idylle Antiums, und die erinnerungsvolle Stimme, welche den Wanderer hier überall begleitet, erhöht nicht wenig den Reiz des Ufers. Bei uns ist es die gänzliche Geschichtslosigkeit, das völlige Abhandenkommen von der Menschenwelt und ihren großen Schicksalen, was unserem Strand seinen Charakter gibt, aber in ItaIien kann man sich in keine noch so stille Einsiedelei der Natur flüchten, ohne daß nicht der ernste Geist klassischer Vergangenheit vor die Seele träte und sie zum Nachdenken über das große Menschenleben aufforderte. So sitzt man denn hier auf einem zertrümmerten Römerpalast, den die Wellen umrauschen, und spricht dem Horaz nach:

O diva, gratum quae regis Antium,
Praesens vel imo tollere de gradu
   Mortale corpus, vel superbos
      Vertere funeribus triumphos!
(Gottin, welche das heitere Antium beherrscht,
Du erhebst machtvoll den Sterblichen aus tiefem Staub
oder verwandelst den stolzen Triumph in Begräbnisklage.)

Und wiederum entführt ein Blick auf das schöne Kap der Circe in die Dichtung Homers, und jenes immer sichtbare ferne Astura in andere Geschicke und andere Dichtungen, so daß mich hier dreifache Weltkulturen und Weltpoesien umgeben, Homer, Horaz und der hohenstaufische Wolfram von Eschenbach.

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Ludwig Richter (1803-1884): Monte Circello (1831).

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Die Göttin Fortuna hatte in Antium einen weitherühmten Tempel; auch Apollo, die aphrodisische Venus, Äskulap und Neptun hatten daselbst ihre Tempel. Denkt man ihrer, so belebt sich diese nun von Rinderherden umweidete nackte Küste mit den herrlichsten Gestalten, und das Bewußtsein, daß hier der Apollo vom Belvedere seine göttlichen Glieder leuchten ließ, gibt dem Ufer eine ideale Weihe. Es war zur Zeit des Papstes Julius II., als man diesen Gott hier aus den Trümmern zog; und wie viel fand man seitdem, was nun dem Vatikan, dem Kapitol und der Villa Albani zur Zierde gereicht. Hier grub man auch den berühmten sterbenden Fechter aus, viele Kaiserstatuen und Büsten des Hadrian, des Septimius Severus und der Faustina, Satyrfiguren, Athleten, Statuen des Zeus und des Äskulap, schöne Dreifüße und jene merkwürdigen Altäre vom Kapitol, welche den Winden geweiht sind. Auf der Uferhöhe, wo jetzt über den Fundamenten eines Tempels eine kleine Strandschanze steht, auf welcher neben einer alten rostigen, riesengroßen Feldschlange aus mittelalterlicher Zeit ein Soldat ins Meer hinauslugt, sieht man noch heute Säulenbasen auf ihrer alten Stelle, und neben ihnen die Schafte von Cipollino und zweiundzwanzig korinthische Kapitäle von höchst graziöser Form. Ihre Voluten und die Ornamente unter dem Abakus haben eine besonders phantastische Bildung, wie ich sie sonst nirgends sah; denn sie stellen Muscheln, Delphine und Seekrebse vor. Der Architekt hatte also auf das Lokal Bezug genommen, und vielleicht war dieser Tempel dem Neptun selbst geweiht.

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Zum Vergrößern klicken Sie bitte auf das Bild.

[Photogravure nach:]
C[arl] Becker (1820-1900): Papst Julius II. besichtigt die ausgegrabene Statue des Apoll von Belvedere.
Photographische Gesellschaft. Kunstverlag und Kunsthandlung, Berlin.



 

 

Apollo von Belvedere.

Zum Vergrößern klicken Sie bitte auf das Bild.

Links: Apollon de Belvédère. Rome. Atelier Gebr. Micheli, Berlin 1906. Signet: AE 2313. Verso: Postkarte. Nicht gelaufen.
Rechts: Apollo Belvedere - Rom. Signet: AE. 2196. Nicht gelaufen.

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Ich fand auch in dem kleinen Anzio, wie ich es vermutet hatte, einen Mann, der sich mit den Altertümern beschäftigt. Denn es gibt keinen nur einigermaßen namhaften Ort in ItaIien, der nicht seinen patriotischen Geschichtschreiber oder Altertumsforscher hätte. In Antium ist es der Kanonikus und Hafenpräsident Lombardi. Er wohnt im Bagno der Galeerensklaven auf der obersten Terrasse. Ich fand diesen Herrn eben nachdenklich vor einer zerschlagenen Marmorinschrift, welche die Galeerensklaven ausgegraben hatten. Lombardi hat ein Buch über Antium geschrieben und beschäftigt sich mit einem größeren Werk über Geschichte und Ruinen seiner Vaterstadt. Ich las seine sorgsame Schrift mit Dankbarkeit.

Nun bin ich an diesem Strand über Astura drei Stunden fortgewandert und habe überall Reste alter Villen und Bäder, Marmor­ und Mosaiktrümmer gefunden, ja vor dem einsamen Turm Astura selbst fand ich einen noch ziemlich erhaltenen Mosaikboden an der Brücke im Sande. Es ist kaum glaublich, wie viel die Römer und welche Prachtbauten sie hier aufgeführt haben. Das ganze Meeresufer Toskanas bis nach Terracina entlang, von Terracina bis nach Neapel und rings um den Golf, und weiter über Salerno hinaus zog sich eine Reihe von Marmorpalästen, von Bädern, Gymnasien und Tempeln hin, ein fortlaufender Kranz römischer Herrlichkeit. Wie prächtig alle diese Villen waren, welche zum Teil in den Fluten standen, sieht man noch aus ihren Trümmern. Wer damals an diesem Strande entlang fuhr und die Menge der Lustanlagen sah, die mit den Städten wetteiferten, der mußte eines schönen Anblicks menschlicher Kultur froh werden. Heute stehen an diesen elysischen Ufern einsame verwitterte Türme des Mittelalters, welche zum Schutze gegen anlandende Sarazenen gebaut wurden. Sie umkränzen ganz Italien und alle InseIn des Mittelmeeres und geben diesen Küsten einen sagenhaften und ritterlichen Charakter.

Auch aus jüngerer Zeit gibt es hier Erinnerungen, welche die Phantasie in fremde Länder und Zonen entführen. In jenem stattlichen Palast Mencacci, der sich über einem grünen Tal am Ufer erhebt, wohnte viele Jahre lang in jüngster Zeit ein verbannter Konig. Am schönen Strom des Tajo hatte er urn die Krone gekämpft, im tropischen Amerika hatte er gelebt. Dom Miguel war dieser verwünschte Prinz von Portugal. Er kam hierher flüchtig und ohne Krone, mit weniger Begleitung. Er lebte lange in dieser Einsamkeit neben den Galeerensklaven und in wahrhaft trostloser Verbannung; denn für einen flüchtigen König muß dies einsame Ufer an den Pontinischhen Sümpfen, welches uns, die wir nichts abzubüßen haben, idyllisch erscheint, grauenvoIl gewesen sein. Er tobte seine Pein aus in dem wilden Walde Asturas als ein waghalsiger Jäger. Eines Tages verschwand er wieder. Man erzähIte mir in Anzio, daß er gern mit den Fischern verkehrte und sich auch nicht scheute, von seinem unglücklichen Kampf um die Krone Portugals zu reden. Und so entfaltet sich hier im Anblick jenes Landhauses das Gemälde der fernen Zonen Brasiliens und Portugals in ihrer heißen und wilden Geschichte.

An sie schließt sich ein anderes Bild. Im Jahre 1848 landeten in diesem Hafen jene Spanier, welche der flüchtige Pius zu Hilfe gerufen hatte, den Kirchenstaat zu retten. Er saß damals, ein Verbannter, auf dem Felsen Gaeta, in dem Koblenz der italienischen Emigration von 1848 und 1849, während die Franzosen gegen Rom marschierten, die Österreicher Bologna besetzten, die Neapolitaner von Terracina heraufzogen, die Spanier, seit so langen Zeiten nimt mehr in Italien gesehen, in Anzio landeten. Sie besetzten alles Land aufwärts zu den Albaner- und Sabinerbergen. Sie waren schöne und fröhliche Leute, aber schlecht gekleidet und armselig ausgerüstet, so sagte man mir. Die Franzosen lösten sie ab, und mit großem Herzeleid verließen die jungen Offiziere von Valencia und Barcelona das Albanergebirge, wo die Blüte der Frauen sie entzückt hatte. Noch heute mag dort manche Schöne an die armen Hidalgos aus Spanien seufzend zurückdenken.

Porto d'Anzio besitzt kaum eine Frauenschönheit und kein nationales Kostüm, weil es überhaupt erst eine werdende und zusammengewürfelte Bevölkerung hat. Aber beides, schöne Frauen und eigentümlicher Volkscharakter, zieren jene kleine Stadt Nettuno, welche malerisch auf dem östlichen Ufer steht, die schwarzen Mauern seines Kastells in die Wellen hineinsenkend. In drei Viertelstunden ist man drüben; es ist von Porto d'Anzio aus ein rechter, wohlgemessener Spaziergang und der schönste an dieser Küste. Das bebuschte Ufer trägt in der Mitte zwischen beiden Orten die schöne Villa des Fürsten Borghese, welcher alles Land ringsum zu eigen besitzt. Weiter hin steigen die Volskerberge auf, und das Kap der Circe schwebt vor den Augen in seiner leuchtenden Gestalt, so zauberisch in Licht und Schatten gemalt, daß es durch Form und Erscheinung an die schönsten Felsen Europas erinnert, an Capri und den Berg San Pellegrino bei Palermo.

Man geht nach Nettuno auf der Fahrstraße der Villa vorbei, zwischen Kork- und Steineichen, und an manchem römischen Gemäuer vorüber. Ja selbst auf die Landstraße ziehen sich alte Mosaikböden hinunter, die wie natürliche Schichtungen des Bodens aus dem Erdreich hervorragen. Aber noch angenehmer ist es, unten auf dem weißen Strande den Wellen entlang zu gehen. Das Ufer besteht durchweg aus Sand von hochgelber oder glühendroter Farbe, oder aus vulkanischem Tuff. Die bläuliche Stranddistel vom baltischen Meer wächst hier allenthalben, wie die Skabiose und die Kamille, aber statt der Weiden, der Erlen und Buchengebüsche muß man sich die Gewächse des Südens denken, weißblühende Myrten in herrlichster Fülle, den Mastixstrauch, den Erdbeerstrauch, den goldblütigen Ginster, der aIle Küsten des Mittelmeers so reizend umbuscht, und den wilden Ölstrauch. Malerisch hängen die Malven mit ihren großen weißen Kelchen und die zartfarbigen Brombeerblüten in überreichen Kränzen von den Büschen und ringeln sich schaukelnd über den Rand der Tuffwände hinunter; prächtig blüht jetzt unter duftigen Kräutern der klassische Akanthus, breitet stolz seine schönen korinthischen Blätter aus und streckt die hohe Blumenpyramide hervor, welche weiß und rosa gefärbte Blumenlappen bilden. Hin und wieder stehen an den Ufern Kaktus und Aloe, doch erscheinen sie hier nur als fremde Gäste. Noch immer weilt die Nachtigall auf diesem lyrischen Ufer. Es ist nun lange Sankt Johann vorüber, wo die Vögel schweigen und der Grille Anakreons den Gesang überlassen, aber sie kann sich nicht von diesem Grün und diesen Wellen trennen; die ganze Seeküste entlang bis nach Astura und am Pontinischen Sumpf erschallt ihr melodisches Lied.

Eine tiefe Stille herrscht um und in Nettuno, der Stadt des Neptun. Alte Türme aus schwarzem Tuff und krenelierte Mauern, welche der Sarazene oft genug bestürmt hat, umringen den Ort von allen Seiten. Kein Fischer noch Matrose macht das spiegelglatte Wasser lebendig, denn Nettuno hat keinen Hafen; es nährt sich von Wein- und Gartenbau und der Viehzucht.

Eine einzelne alte Säule steht auf dem Platz, als Wappen und Wahrzeichen der Colonna, denen einst Nettuno gehört hat. Die Straßen durchduften Nelken mit ihrem Arom, denn überall stehen sie vor den Fenstern, schlingen sich wie Winden herab und wiegen die unglaubliche Fülle ihrer roten Blüten in der Luft. So schöne Blumen verraten schönere Frauen; ja die Nelken sind hier die Nationalfahnen, welche die Frauen Nettunos aus den Fenstern hängen; ihre eigene Tracht ist so flammend rot wie die Nelkenblüte.

Es ist höchst merkwürdig, daß auch die kleinsten Orte in Italien sich nach uralter Weise als Republiken für sich behaupten in Sitte, Volksphysiognomie und Tracht. Da hat ein jeder Felsen- oder Strandort ein eigengeartetes Volk. Man muß diese Nettunesen bei ihren Kirchenfesten sehen, um ihre malerische Tracht vollständig vor sich zu haben als Nationalkostüm. An gewöhnlichen Tagen sind es nur Einzelheiten, die als bestimmte Merkmale auffallen, wie die schöne Weise, das Haar in der Mitte zu scheiteln und ohne Hinterzopf glatt um den Kopf zu winden, wie ferner die grünen Bandschleifen im Haar, welche dem Mädchen, die roten, welche der Frau, die schwarzen, die der Witwe unerläßlich sind, so daß man immer weiß, wer noch zitella ist, oder schon maritata.

Ich habe dort zwei Feste erlebt, Sankt Johann und San Luigi. Am ersten Tage ging eine Prozession mit Musik durch die Straßen; das Kreuz war ganz und gar mit Nelken umwunden, und Blumen trugen alle Leute. Der Prozession folgten Mädchen und Frauen; es war erstaunlich, so viel herrliche Gestalten in strahlenden Gewändern durch den schwarzen Ort schreiten zu sehen. Die Tracht ist diese: ein gold- und silberstreifiges Tuch liegt auf dem Kopf, in Form eines steifen, nach innen gebogenen Deckels, welcher über das Profil des Kopfes weit vorragt. Ein langes dunkelrotes Kleid von Seide oder Sammet, mit breiten Silber- oder Goldborten gestickt, fließt feierlich herab; darüber sitzt ein Jäckchen von demselben Rot, um Schöße und Ärmel mit Brokat gebrämt. Blitzender Schmuck von goldenen Ringen, Ohrgehängen, Korallen und Armbändern volendet den schönsten Anzug. Die Farbe der Gewänder ist aber auch meergrün oder veilchenblau oder ganz schwarz oder dunkelblau. Es scheint, als zwinge diese fürstliche Tracht schon an sich auch zu einer stolzen und edeln Haltung, und wahrlich, ich sah diese armen Nettunesen durch ihr verwittertes Städtchen einherschreiten mlt der Grandezza der Römerinnen und nicht minder schön als sie, viele mit dem edelsten griechischen Profil, rabenschwarzen Haaren und funkelnden Augen, ein wonniger Anblick, auch das härteste Herz zu bezwingen. Als man die unvermeidlichen Böller losbrannte und die Kanonenschläge knattern ließ, welche über eine alte Mauer wie eine Girlande gezogen waren, und nun jene edeln Frauengestalten in Gruppen hoch auf diesem schwarzen Gemäuer standen und aus den Pulverwolken die goldgestickten roten Gewänder hervorschimmerten, war es anzusehen wie ein ganzer Olymp von Götterbildern.

Und auch ohne diese Tracht sind die Nettunesen schön. Man sieht sie alle Tage an dem gemeinschaftlichen Brunnen in patriarchalischer Weise waschen, ihrer stets eine Schar beisammen. Dem Fremden stehen sie nicht Rede, sie sind scheu wie Rehe und antworten kaum auf den Gruß, es sei denn mit niedergeschlagenen Augen.

Der Tag des heiligen Luigi hatte einen anderen Charakter. Er ist ein Volksfest, und lebhaft erinnerte er mich ans Vaterland. Auf dem Marktplatz der Vorstadt hatte man ein galgenförmiges Gerüst errichtet und mit Zweigen geschmückt; vom Querbalken hing eine bewegliche Wassermulde herab; darunter mußten junge Leute auf Eseln wegreiten und geschickt ein Loch im Zapfen der Mulde mit der Lanze treffen. Ob dies nun getroffen wurde oder nicht, immer drehte sich die Mulde um und übergoß den Reiter. Schallendes Gelächter erntete jeder ein. Wer getroffen hatte, erhielt zwei Paul als Siegerlohn, welche ihm ein kampfrichtender Priester einhändigte. Als dies Spiel und ein Topfschlagen vorüber war, ging es an die Tombola oder Lotterie, ohne welche kein Fest in italienischen Landen bestehen kann. Man verspielte ein Stück Kattunzeug, welches als Fahne auf einem Balkon wehte. Ein Knabe griff die Lose und las jede Nummer und jeden Sinnspruch desjenigen ab, der das Los gezeichnet hatte. Die Sinnsprüche erregten oftmals schallendes Gelächter. AIle diese Festlichkeiten voIlzog man mit dem gebildeten Schicklichkeitsgefühl, welches dieses fein geartete und glückIich begabte Volk Italiens auszeichnet.

So lebt und vergnügt sich die kleine nettunische Nation von kaum 500 Seelen in ihrer großen Abgeschiedenheit, denn Meer und pontinischer Sumpfwald umschließen sie von beiden Seiten, und die Verkehrsstraßen, hier nach Anzio, dort durch die Wildnis nach Velletri, sind wenig belebt. Doch hat Nettuno Gärten und Ackerbau und versorgt selbst Anzio mit Wein; täglich sendet es einen Wagen voll weißen Brotes nach dem Hafen, weil hier nur das gröbere Brot gebacken wird. lch habe auch trefflichen Wein in Nettuno getrunken, und das will in diesen Zeiten etwas sagen, wo der Gott Bacchus von der Pest ergriffen ist. Eines Tages führte uns ein Bürger in seinen Tinello, seinen Weinkeller; höchst geheimnisvoll stieg er in ein Verließ hinunter und kam herauf mit dem prächtigsten roten Wein, wie ich ihn seit Syrakus nicht mehr gekostet hatte.

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Pierre Girard (1806-1872): Im Wald von Nettuno.

"Die ungemein seltenen und unveröffentlichten Radierungen von Girard zeigen die Strandwälder, durch deren Urwalddickicht Gregorovius gewandert ist. Der Maler hat sie 1845 bei Anzio und Nettuno aufgesucht und die Staffage von Köhlern und Hirten mit den wilden Büffelherden an Ort und Stelle gezeichnet." (Lorck, Nachwort)

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Nun aber hört mit Nettuno die menschliche Kultur an dieser Küste auf, denn gleich hinter der Stadt beginnt die pontinische Wildnis. Der Buschwald zieht sich bis gegen Terracina hin. Kein Ort steht mehr am Strande, nur einzelne Türme steigen aus der romantischen Einsamkeit empor, jeder etwa zwei Millien von dem andern entfernt. Die schwermutsvolle Verlassenheit dieser Ufer und der Reiz ihrer Urwildnis ist wunderbar. Man möchte glauben, nicht mehr auf dem klassischen Strande Italiens, sondern an den wilden Küsten der Indianer Amerikas zu wandern. Das stete Rauschen der Meereswellen, die flimmernde Sommerluft auf dem immer flachen und weißsandigen Ufer, der endlose tiefgrüne Wald, der bis auf einige hundert Schritte nahe das Meer begleitet, das Klagegeschrei der Habichte und Falken, die still und hoch schwebenden Adler, das Stampfen und Brüllen wilder Rinderherden, Luft, Farbe, Ton, Gestalt von Wesen und Elementen verbreiten hier eine Stimmung vollkommen mythologischer Natur.

Am 28. Juni machten wir uns auf, der Maler und ich, längs dieser Küste drei Wegstunden nach Astura zu gehen. Es war ein Morgen von kristallreiner Frische; die rosenfingerige Eos blühte eben über dem Meer auf und verklärte jenes homerische Kap der Circe vor uns, dessen Anblick über diese Ufer einen klassischen Hauch ergießt. In Nettuno kauften wir uns Brot und Wein, und so wanderten wir von dannen. Auf einem alten Baumstumpf neben einem großen Kohlenhaufen hielten wir unser Frühbrot; es schmeckte uns so gut, wie es nur den wandernden Odysseus erquicken konnte, als ihm Circe das wohlbereitete Mahl in ihrem Palast aufgetragen hatte. Wie ist es doch herrlich, in solcher seligen Frühe, im Anblick dieser homerischen Ufer, sich hinzulagern an dem endlos blauenden Meer, welches sich weiter und weiter in Licht und Rosenduft aufzulösen scheint.

Und bis so weit war alles Herrlichkeit in und um uns. Nun aber hob ein Sorgen an, denn wir waren in die Region gekommen, wo der Buschwald nahe ans Meer tritt. Wir fürchteten die Büffel- und Rinderherden, welche hier in wildem Zustande, nicht einmal von Hirten gehütet, umherschweifen.

Alles Küstenland bis Terracina ist mit zahllosen Herden bedeckt, mit hoch und prächtig gehörnten Ochsen, Kühen und Stieren von derselben klassischen Gestalt, wie man sie lebend auf der Campagna von Rom sieht und in den Opferszenen am Fries des Parthenon dargestellt findet. Ihre Hörner sind fast drei Fuß lang, weit auseinander stehend, in den kühnsten Linien geschweift, dick, klar und schön gefärbt. Man sieht solche Hörner fast in jedem Hause im Süden als Amulette gegen den Malocchio, den bösen Blick, und ihre Abbilder im Kleinen trägt der Prinzipe an der Uhrkette, das Fischerkind an der Halskette. Die Ochsen sind scheu und wild und höchst gefährlich, nur der Hirt auf seinem Pferde weiß sie mit der Lanze zu schrecken. Aber noch weit gefährlicher sind die Büffel. Sie leben hier in Gehegen oder laufen wild umher; gern wälzen sie sich in Morasten wie das Schwein. Sie schwimmen mit großer Leichtigkeit. Wenn man die Pontinischen Sümpfe oder die Niederung von Pästum durchreist, so kann man diese schwarzen Ungeheuer rudelweise im Moor liegen sehen, woraus sie oft nur die plumpen Köpfe schnaufend hervorstrecken. Der Büffel hält den Kopf stets zur Erde und blickt tückisch von unten auf. Er gebraucht sein Horn nicht, weil dies wie beim Widder rückwärts gekrümmt ist. Aber mit der ehernen Stirn stößt er den Menschen um, welchen er verfolgt und erreicht, dann senkt er seine plumpen Knie auf seinen Leib und zerstampft ihm die Brust, so lange er noch einen Odemzug darin verspürt. Das fürchterliche Tier bändigt der Hirt mit dem Speer. Er zieht ihm den Ring durch die Nase, und so wird es vor den Karren gespannt, die schwersten Lasten, Steinblöcke und Stämme fortzuschleppen. Die Büffelkuh gibt aus ihrer Milch die Provatura, den Büffelkäse, welcher schwer verdaulich ist. Büffelherden bevölkern die Pontinischen Sümpfe, jene trostlosen und fieberfeuchten Reviere von Cisterna, Conca und Campo morto, wo selbst der Mörder nicht gefahndet wird, wenn er sich dort hinüber rettet; die Menschen aber, welche jene Büffelherden beaufsichtigen, fieberhaft und elend, leben selbst im Zustande der Verwilderung, fast den Indianern der Prärien zu vergleichen.

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Léopold Robert (1794-1835): Die Schnitter, 1830

Verso: Paris. Robert: L'arrivée des moissonneurs dans les marais Pontins.
Stengel & Co., G.m.b.H., Dresden 29906. Postkarte. Nicht gelaufen.

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Vor solchen Begegnissen hatten wir nicht geringe Angst, und kaum waren wir in jene Region des Buschwaldes gekornmen, als wir das ganze Ufer von Herden wimmeln sahen. Sich allein überlassen, haben sie hier ihre althergebrachten Pfade, wie die Regel ihrer Stunden. Mit dem Morgen kommen sie aus dem Buschwald ans Meer, um das Salzwasser zu saufen, dann strecken sie sich am Strand hin oder weiden an der Küste. Sie bleiben dort die heiße Tageszeit über, und wenn die Nachmittagskühle zu wehen beginnt, erheben sie sich vom Sande und wandeln langsam grasend die Küste hinauf und ziehen sich weiter ins Gebüsch, bis sie im tiefen Wald zur Nachtzeit sich niederlegen, um dann morgens wieder zur Küste hinabzusteigen.

So standen wir zweifelnd bei diesem Anblick der wimmelnden Küste still. Wie sollten wir hindurchkommen, da zahllose Rinder sie bedeckten, uns den Weg abschnitten, und da viele schon in den Wellen standen, um die Flut zu schlürfen. Wenn wir nun auf dem Strande fortgingen, so durchschnitten wir offenbar ihre Richtung, weil sie doch den Zug meerwärts nahmen, und irgend ein wütender Stier schleuderte uns vielleicht nach dern Kap der Circe hinüber. Wir überlegten daher, ob es nicht besser sei, uns dem Buschwalde nahe zu halten, und "dieser Rat schien den Zweifelnden endlich der beste".

Immer stiegen neue Scharen herab und andere ließen sich im Walde vernehmen, wo sie aus dem Myrtendickicht hervorbrachen. Ein paar herrliche Stiere sahen uns, hoben die schimmernden Stirnen auf, stutzten; wir wandten uns stillschweigend seitwärts nach dern Busch und im Augenblick waren wir darin.

Schwerlich kann sich die Phantasie einen Buschwald denken, der sich zum Räuberwesen besser eignete als dieser Wald von Astura. Hier sind es noch nicht hochstämmige Eichen, die ihn bilden, sondern dichtestes Gestrüpp von Korkholz, Oleaster, Mastix, Arbutus, Schwarzdornen und Myrten. Die Gebüsche sind von Schlingpflanzen dicht verfilzt oder vom Efeu so ganz übersponnen, daß sie hohe Kuppeln neheneinander bilden, gleich grünen Waldmoscheen, undurchdringlich für die Sonne oder den Regen. Wir fanden Myrtengebüsche in Baumeshöhe, und rings flog und wehte ein Geruch der Wildnis, welcher aIle Sinne durchdrang. Der Boden ist wellenförmig gehügelt, von Quellen durchrieselt, oder von Sümpfen durchzogen. Das Stachelschwein, die Schildkröte und die Schlange wohnen hier. Oft sahen wir die zerrauften Flügel und Federn eines wilden Huhns am Boden hingestreut, Reste eines Adlermahls, deren Anblick die düstere Poesie dieses Ufers noch erhöhte.

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Pierre Girard (1806-1872): Im Wald von Porto d'Anzio.

"Die ungemein seltenen und unveröffentlichten Radierungen von Girard zeigen die Strandwälder, durch deren Urwalddickicht Gregorovius gewandert ist. Der Maler hat sie 1845 bei Anzio und Nettuno aufgesucht und die Staffage von Köhlern und Hirten mit den wilden Büffelherden an Ort und Stelle gezeichnet." (Lorck, Nachwort)

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Wir vermieden glücklich die Herden, und so oft ein Nachzügler herabkam, hielten wir uns still im Busch, his er vorüher war. Nachdem wir kreuz und quer über Quellen und Gräben und Hecken gestiegen waren, gelangten wir endlich wieder ans Ufer, sahen den Strand frei und ruhten behaglich an einem Gemäuer am Meer, von dem eine Verzäunung quer über den Strand gezogen war, die Abteilung einer Herde zu bezeichnen. Auch dies Gemäuer gehörte zu einem alten römischen Palast, wie uns ein Stück Mosaik überzeugte.

Wir hatten nun Astura eine Stunde weit vor uns, und indem wir auf dem öden Strande den melancholisch rauschenden Wellen entlang gingen, überschlich mich selbst eine Traurigkeit, wie solche die Seele an Gräbern großer Vergangenheit zu rühren pflegt. Es ist nicht die Erinnerung an das Ende des jungen Konradin und des Hohenstaufengeschlechts allein, was diesen Ufern ihre wehmütige Stimmung gibt und das deutsche Gemüt mehr als ein anderes ergreifen muß; es ist auch der Charakter der Natur selbst. Ich wünschte ihn so ganz ausdrücken zu können, wie es mein Gefährte in seiner Zeichnung vermochte, auch will ich hoffen, daß er die Blätter, die er hier entworfen hat, bald veröffentlichen wird. Überhaupt sollte irgend ein artistisches Institut Deutschlands ein Hohenstaufen-Album herausgeben.

Landwärts schließt hier die Gegend der Sumpfwald, über welchem die Volskergebirge aufsteigen und in ernsten Formen sich zum Meere niedersenken; seewärts erhebt sich inselartig das Kap der Circe; im Mittelgrunde zieht der schneeweiße Strand hin und endet in einer aufs Meer laufenden Düne. Auf ihr steht einsam eine kleine gemauerte Kapelle, und wenige Schritte weiter erhebt sich mitten in der Flut das Schloß Astura, ein kleines Viereck voll krenelierten Mauern, aus dessen Mitte ein Turm ragt. Kapelle und Schloß sind die einzigen Gebäude, die man in dieser grenzenlosen Einsamkeit erblickt. Weit und breit sahen wir keine andere lebende Seele als ein paar dunkle Gestalten auf den Zinnen der Burg, und zwei graue Fischer saßen am Gemäuer schweigend und wie verzaubert in der flimmernden Sonnenwärme und flochten still vor sich hin ein Trugnetz von Binsen, den Fisch zu umgarnen, während ihre Barke auf den smaragdenen Wellen schaukelte.

Es war in den letzten Tagen des August 1268, nach der verlorenen Schlacht bei Tagliacozzo, als über diesen Strand gesprengt kamen fliehend und angstvoll der junge Konradin, Friedrich, Prinz von Österreich, der Graf Galvan Lancia mit seinen Söhnen und die beiden Grafen della Gherardesca, Verwandte des unglücklichen Ugolino von Pisa, welchen Dante unsterblich gemacht hat. Sie waren von Rom gekommen, denn so erzählt der Chronist Saba Malaspina, daß sie nach der Schlacht in jene Stadt geflüchtet waren, wo Guido von Montefeltre als Vikar des Senators Heinrich von Kastilien zurückgeblieben war. Konradin war dort eingezogen "mit abgelegtem Pomp der Macht, nicht wie ein Oberhaupt, sondern wie einer, der seine Beute im Stich gelassen und entflohen war, heimlich, verstörten Sinnes" (latenter ingreditur mente captus). Aber zugleich waren seine Feinde Johann und Pandolf Savelli, Berthold und viele Guelfen vom Schlachtfeld her nach Rom gekommen und wiegelten die Stadt auf: da rieten dem Jüngling seine Freunde, schnell zu entfliehen. Sie flohen gegen das Meer, um von dort Pisa zu erreichen und dann nach Sizilien zu gelangen. Sie suchten ein Schiff, das sie fortbrachte; die Leute im Schloß Astura gaben es ihnen, und also stachen sie in See. Aber Johannes Frangipani, der Herr von Astura, erhielt davon Kunde, und indem er aus den Kleinodien, welche Konradin hergegeben hatte, erkannte, daß die Flüchtlinge vornehme Herren seien, bemannte er sogleich ein anderes Schiff, setzte ihnen nach, und führte sie in das Schloß zurück. Vergebens beschwor ihn Konradin, ihn und die Seinigen durch die Flucht zu retten, sie nicht in die Hände des blutgierigen Karl zu liefern; er mahnte ihn an die Dankbarkeit, die er dem Schwabenhause schulde, denn die Frangipani hatten vom Kaiser Friedricht große Lehen und Johann selbst den Ritterschlag erhalten. Konradin versprach ihm den reichsten Lohn; es heißt, er verpflichtete sich sogar, Frangipanis Tochter seine Hand zu geben. Der Herr von Astura schwankte, vielleicht gerührt von der Jugend, von der Anmut und dem Unglück Konradins, hauptsächlich aber, wie auch die Chronisten sagen, ungewiß, wo er größern Gewinn zu ziehen habe, von Konradin oder von Karl von Anjou.

Während sie so im Schloß hin und her unterhandelten, erschien Robert von Lavena, Kapitän der Galeeren Karls, vor dem Kastell und forderte Frangipani auf, ihm die Flüchtlinge auszuliefern. Saba Malaspina erzählt, daß Frangipani diese Unglücklichen in ein anderes Kastell in der Nähe gebracht habe, um nicht wider seinen Willen und ohne Ausbedingung des Lohns von Robert zur Überlieferung Konradins gezwungen zu werden. Aber dies Kastell wird nicht benannt.

Bald darauf erschien auch von der Landseite der Kardinal Jordan von Terracina, Rektor der campanischen Grafschaft für den Heiligen Stuhl, mit Volk zu Fuß und zu Roß vor Astura und forderte die Auslieferung. Da gab der feige Verräter die edeln Herren, welche das Gastrecht bei ihm angesprochen hatten, um Judaslohn in die Hände der grausamen Feinde. Man führte sie durch den Wald in die Burg oberhalb Palestrina und von dort weiter durch die schönen Gefilde, welche Konradin kurz vorher siegreich durchzogen hatte, nach Neapel. Schon am 29. Oktober fielen die Edeln auf dem Schafott, Konradin zuerst, dann Friedrich, die tapferen Grafen della Gherardesca, der hochherzige Galvan Lancia, der Bruder jener schönen Blanca, welche dem großen Kaiser Friedrich Manfred geboren hatte, und seine beiden jungen Söhne Galeotto und Gherardo, die man in des Vaters Armen zuvor erwürgte.

Am Turm Astura auf dem einsamen Ufer kamen mir wieder alle jene fernen Stätten, welche die Geschichte der Hohenstaufen geheiligt hat und die ich, Italien durchwandernd, besuchte, in die Erinnerung. Da trat auch vor mich die schöne, blondgelockte Gestalt Manfreds vom Feld von Benevent, wie sie Dante erschien mit doppelter Wunde auf Stirn und Brust, und klagte: "I' son Manfredi, Nipote di Constanza imperadrice!" Ich ließ meine Blicke fern über das Meer schweifen, dorthin, wo das schöne Sizilien liegt, und unter immer blühenden Gärten jenes alte, berühmte Schloß von Palermo steht, in dem einst Friedrich als Jüngling gelebt hatte, und von wo er dann nach Deutschland gezogen war. In der Erinnerung stand ich wieder im Dome Palermos, in jener KapeIle, wo in blutroten Porphyrsarkophagen Heinrich VI., Friedrich und die beiden Konstanzen ruhen, die Kronen auf dern Haupt und angetan mit der seidenen Dalmatika, deren Saum sarazenische Inschriften verzieren.

Wir gingen ins Schloß. Eine gemauerte Brücke verbindet es mit dern Lande, und eine Zugbrücke führt in das Innere. Aus dem kleinen Hof erhebt sich der achteckige Turm, und oben läuft um ihn her eine Terrasse, auf welcher eine einzige verrostete Kanone stand. Die Besatzung, acht Mann Artillerie, exerzierte eben im Hofraum, und Don Pasquale, Leutnant von Astura, sah von der Terrasse nieder wie einer, der gern irgendwo anders, nur nicht hier sein möchte. Er führte uns in sein kleines Turmgemach; er selbst malt gut und tröstet sich in seiner schauervollen Einsamkeit mit Zeichnen von pompejanischen Arabesken. Der Leutnant sagte uns, daß jeder dieser Küstentürme acht Mann Besatzung habe mit einem Marschall oder Offizier, und daß die Küstenwacht, aus Furcht vor mazzinistischen Handstreichen, nun strenger gehandhabt werde.

Wir besahen die kleinen Räume des Schlosses, traurige Turmzimmer, an deren Wänden die Spinne ihre Netze webt und in deren Ritzen der Skorpion sich eingegraben hat; aber die Aussicht nach allen Fernen in die grüne Wüste landhinein und in die strahlende Meeresweite, über welche Wanderschiffe dahingleiten, ist ergreifend, ja ich möchte sagen, sie ist berauschend. Es ist ein Turm für einen Barden, hier die Harfe zu schlagen und mit einem Schwanenlied zu sterben, wenn die niedersinkende Sonne das Kap der Circe in Purpur malt. Dann, in dieser sirenischen Stille, wandelt es über das Meer, ein Schein, nicht in Worte zu fassen, ein Geist der Beseligung, ohne Namen; es ist, wie wenn Schlaf und Tod über See schweben, und jenes eilende Schiff, das um das Kap der Circe geisterhaft zu kreisen scheint, trägt vielleicht den Gott des Traumes, welcher Schlummer und Ruhe über die Wellen streut.

In sanften Übergängen wechselt die Stimmung. Wenn das Kap der Circe fort und fort an die homerischen Sagen erinnert und odysseische Gestalten vor die Seele führt, erhebt auch der alte Turm Astura seine Stimme und redet von ebenso großen und tiefsinnigen Sagen. Was verknüpft er nicht mit den Namen der Hohenstaufen und Karls von Anjou aus der Provence! Ehe man es gewahr wurde, ist man schon in den "Parzival" Wolframs von Eschenbach versenkt, und Konradin wird zum Parzival, der in die Welt hinausreitet, die heilige Blutschale des Gral zu finden, Elisabeth yon Bayern aber wird zur Herzeleide, zu seiner Mutter, die ihn nicht will ziehen lassen, und so erscheinen Gottfried von Anjou, der Ritter Gawein und Feirefiz, Artur und Titurel, das Gralschloß im wilden Walde, die Sarazenen, Harfner, Büßer, Pilger und tiefsinnige Weise des Morgenlandes.

Astura ist die Warte der Romantik, der deutsche Poetenturm in Italien. Er gehört den Romantikern wie die blaue Grotte in Capri. In der Stille habe ich von ihm in ihrem Namen Besitz genommen und dies Sagenschloß für deutsches Nationaleigentum erklärt.

Aus der Zeit der Frangipani ist nur der Turm allein, alles übrige Gemäuer spätern Ursprungs, denn schon im Jahre 1286 kamen die Sizilianer, welche den Mord Konradins durch die Vesper an dem Könige Karl so blutig gerächt hatten, unter ihrem Flottenhauptmann Bernardo da Sarriano vor das Schloß, zerstörten es bis auf den Turm und erstachen auch den Sohn Frangipanis. Heute sieht man an der Außenmauer das Wappen der Colonna, denn diese mächtigen römischen Ghibellinen besaßen einst das Schloß. Nach den Frangipani war es Lehn der Gaetani geworden, dann hatten es nacheinander besessen die Malabranca, die Orfini, die Colonna, welche es im Jahre 1594 an Clemens VIII. verkauften. Heute ist Astura ein Besitztum der Borghese.

Aber auch ältere historische Erinnerungen knüpfen sich an dies Astura. Schon vor der Schloßbrücke war mir ein Marmormosaikboden aufgefallen, weIchen der Ufersand nur leicht bedeckt, und bald sah ich, daß dies Kastell mitten in den Wellen auf den Fundamenten eines großen römischen Palastes steht, welche noch von allen Seiten, und um vieles umfangreicher als das Schloß, unter der Flut heraufspiegeln oder frei hervorragen. Auf einer Sandbank war dieser Palast aufgebaut; vielleicht nennt deshalb Plinius Astura, die Kolonie Antiums, eine Insel, denn so bezeichnet er den alten Ort als Fluß und Insel. Strabo nennt den kleinen Fluß Storas, Plutarch den Ort Astyra und er erzählt von einer andern tragischen Flucht, die hier ihre Szene hatte, von jener Ciceros. Fürwahr, meine Leser sollen nicht wenig erstaunen, zu erfahren, wie viele andre dunkle Erinnerungen dies Astura verbirgt, und wie es schon lange vor Konradin ein verhängnisvoller, den Eumeniden geweihter Ort gewesen ist.

Cicero besaß hier eine Villa. Er nennt sie oft in seinen Briefen und schreibt einmal von Astura aus an Atticus: "Est hic locus amoenus et in mari ipso, qui et Antio et Circaeis aspici possit." (Es ist hier ein angenehmer Ort und im Meere selbst, den man von Antium und Circei erblicken kann.) Er wohnte gern in diesem Landhaus, das ihm mehr als jede andere seiner köstlichen Besitzungen Einsarnkeit und Muße bot. Kurz vor seinem Ende hielt er sich hier auf, ja Astura selbst brachte ihm das Verderben. Als er im Frühling vernahm, daß er auf die Proskriptionsliste gesetzt sei, flüchtete er dorthin; Plutarch erzählt, er habe hier ein Schiff bestiegen, um nach Mazedonien zum Brutus sich zu retten. Aber er schwankte in seinem Entschluß, er kehrte wieder um. Indem er nun nach Rom wollte, das Herz Oktavians zu erweichen, verließ er Astura in der Richtung auf die Stadt, doch nach zwölf Millien kehrte er plötzlich, von Furcht bewegt, wieder um. Nun ließ er sich in einer Sänfte gegen Gaeta tragen; unterwegs ereilten ihn an der Stelle, die man noch heute bezeichnen will, nachfolgende Reiter und gaben ihm den Tod.

Wunderbar! Derselbe Oktavian holte sich, wie Sueton erzählt, in demselben Astura den Todeskeim. Er kam hierher vor seinem Ende, auf seiner letzten Reise nach Kampanien. "Und nachdem er seine Fahrt begonnen hatte, gelangte er nach Astura, und wie er von hier wider seine Gewohnheit zur Nachtzeit ausfuhr, den günstigen Wind zu benutzen, zog er sich den Grund seiner Krankheit zu aus einer Dysenterie." Er starb bald darauf in Nola, nachdem er kurz vorher in Capri gewesen. war.

Aber hier endete der dämonische Einfluß Asturas noch nicht. Auch des Augustus Nachfolger Tiberius erkrankte in demselben Astura kurz vor seinem Tod. Dies sind die Worte des Sueton: "Er kehrte eilig nach Kampanien zurück und verfiel in Astura sogleich in eine Krankheit. Er erholte sich ein wenig und schiffte dann nach dem Kap der Circe." Hier wurde er kränker, hielt sich jedoch aus Furcht aufrecht, schiffte nach Misenum, da er Capri nicht erreichen konnte, und fand dort seinen Tod.

Und was soll man dazu sagen, wenn eben dies Astura seine dämonische Gewalt auch an Tiberius' Nachfolger geltend gemacht hat? Denn kurz vor seinem Tode landete auch Caligula hier, und Plinius erzählt: "Ein Fischchen, Remora genannt, hängte sich an den Mast des Fünfruderers, welcher den Caligula von Astura nach Antium führte, und das betrachtete man als eine Vorbedeutung seines nahen Todes."

Astura mala terra, maladetta! Und auch uns, harmlose Wanderer, sollte der verhängnisvolle Turm noch in atemlose Flucht und in schimpfliche Todesangst versetzen.

Als wir Astura verließen, beschlossen wir, nicht wieder den Weg am Meer entlang zurück zu nehmen, sondern durch den Urwald zu gehen, von dessen Pracht wir so viel gehört hatten. Der wegewirren Wildnis nicht kundig, nahmen wir mit uns einen Soldaten aus dem Turm, einen schönen, athletisch gebauten jungen Mann, der uns einige Millien begleiten und zugleich als Beistand nicht gegen Räuber, wohl aber gegen Büffel und Stiere dienen sollte. Wir wandten uns rechts, eine Weile am Strand entlang gehend, wo wir auf dem Ufer die prächtigsten schwarzen Stiere sahen, von so herrlicher Gestalt, daß Jupiter keine andere gewählt hat, als er die schöne Europa durch das Meer trug. Bald umgab uns der Wald. Wir gingen zwischen duftigen Myrtengebüschen und unter riesengroßen breitwipfeligen Eichen auf Waldpfaden fort und ergötzten uns an der Sonnendämmerung, welche überall durch die Wipfel ihre Lichter spielen ließ.

Der Wald bei Astura ist sehr schön. Ich dachte an die heimatlichen Küsten und ihre hochstämmigen Eichen, durch die das blaue Meer scheint, und konnte mich ganz in die Vergangenheit zurückversetzen. Dort ist es auch schön zu wandern und Reh und Hirsch zu belauschen, wenn sie im Busche stutzend und neugierig ihr gekröntes Haupt hervorstrecken; hier blickt aus dem Waldesschatten statt ihrer manchmal das schwarze Haupt eines Büffels oder die hochgehörnte Stirn eines wilden Rindes, und lange schöngefleckte Schlangen schlüpfen über den Pfad.

Der Pflanzenwuchs hier ist von einer tropischen Pracht; der Efeu umschlingt die majestätischen Eichen, Stamm neben Stamm, und bewundernd stand ich vor dieser noch nie in solcher Herrlichkeit gesehenen Naturkraft. Denn die Efeuranke selbst hat einen Stamm so dick wie ein Baum; so umstrickt sie die große Eiche, ringelt sich mit Gewalt um sie, wie die Schlange Laokoons, zieht sich zusammen, als wollte sie den ungeheuern Stamm mit den Wurzeln dem Boden entreißen und in herkulischer Umarmung ersticken, und tausend grüne Äste, Zweige und tanzende Ranken läßt sie herniederhängen, und windet und knüpft ihre Schlingen durch alles knorrige und laubige Eichengeäst fort bis zum sonnigen Wipfel, welchen der Flügelschlag wilder Waldvögel umkreist.

Wir waren so in immer angespannter, froher Betrachtung einige Millien fortgegangen. Der Soldat von Astura hatte uns auf den Weg gebracht, der nun wieder an die Küste hinabführte, und verließ uns, als der Wald lichter wurde. Bald, so sagte er, würden wir in niedriges Gebüsch kommen und das Meer sehen. Wir gingen nun allein fort zwischen Myrten und Ölgesträuch in der heitersten Stimmung. Plötzlich sahen wir vor uns eine Herde, wohl mehr als hundert Stück beisammen. Wir blieben stehen. Ein Stier stutzte, hob die Stirn auf, sah uns mit majestätischem Ernst an, löste sich von der Herde ab und kam gegen uns. In diesem Augenblick machte mein Gefährte den verdammten großen weißen Malerschirm zu, und kaum hatte er das getan, als der Stier wild wurde und einen Sprung tat; sogleich setzte sich die ganze Herde gegen uns in Bewegung. Eine Staubwolke erhob sich im Walde, und wie wir in wilder Flucht davonsprangen, voll Angst immerfort umschauend, war es ein grauser und schöner Anblick, im wirbelnden Staube diese mächtigen Geschöpfe daherstürmen zu sehen. Wir sprangen ins Dickicht, und über hohe Gebüsche setzten wir hinweg und schlüpften wieder durch die Myrtensträucher und sprangen weiter, an den Händen von den Dornen blutend, die uns zerrissen, hinter uns die wirbelnde Staubwolke, die herausblizenden Höner und das Gekrach der brechenden Büsche.

Ich sah niemals so die lebendige Physiognomie des Entsetzens als auf dem Angesicht meines Gefährten, und mein Schreck war um nichts geringer. Endlich wurde es still, wir waren im dichten Wald und nichts mehr war zu sehen. Die wilde Herde war meerwärts fortgestürzt.

Wir hoIten jetzt Odem und gingen tiefer in die Wildnis hinein, immer nach den Stieren umschauend, bis wir gegen die Küste kamen und, da wir diese frei fanden, auf den Strand sprangen. Und nie habe ich die Meereswellen mit solcher Freude begrüßt. So mußte ich in Astura, auf den Spuren Konradins, selbst erfahren, was atemlose Flucht und Todesangst sei. Es war, als hätte mir irgend ein Geist, der Dämon dieses Ortes, weil er mich von Erinnerung so tief bewegt gesehen, von des armen Konradin Flucht ein lebendiges Nachgefühl geben wollen. Doch waren die Stiere der Wildnis barmherziger, als es einst die Menschen hier gewesen sind.

So wanderten wir weiter und ruhten wieder an den Trümmern des alten Palastes eine Stunde vor Astura, dessen melancholisches Schloß nun schöner und schöner die sinkende Sonne umstrahlte. Neue Sorge erfaßte uns, als wir hierauf den ganzen Strand bis Nettuno hin mit Herden erfüllt sahen. Einige lagerten noch am Meer, andere zogen sich schon aufwärts, denn es begann die Abendkühle, wo sie wieder zu Walde gingen. Als wir nun vorwärts schritten, war es wie ein Spießrutenlaufen an hundert und aber hundert spitzen Hörnern vorbei; aber die herrlichen Geschöpfe taten uns kein Leid, weil wir hinter ihrer Richtung an den Wellen blieben; auch kamen zwei stattliche Hirten, die ersten, die wir sahen, mit ihren Lanzen das Meer entlang gesprengt und flößten uns guten Mut ein.

Glücklich erreichten wir Nettuno und betrachteten von hier aus freudigen Gefühls die zurückgelegte Straße und das Schloß Astura, welches nun wieder in traumhafter Weite wie ein Schwan auf den abendlichen Wellen zu schwimmen schien.

*****

3. Gregorovius: Der Turm Astura

 

Fern in Latium, wo den Wellen
Seine sagenvollen hellen
Zinnen Circe's Cap enthebt,
Steht Asturas Turm und schwebt
Wie ein bleiches Heldenbildniß
Ob des Meers azurner Wildniß;
Schürt der Abend seine Gluten,
Flammt er auf im Schauerlichte,
Einsam warnend in den Fluten,
Schönster Leuchtturm der Geschichte.
  
An des Meers sandöder Düne
Steht vergessen die Ruine
Gleich der Gralburg hier und ruht
In sirenenstimm'ger Flut;
Wild umkreisen sie mit falben
Flügeln schrille Wasserschwalben;
Konradin! zu gellen scheinen
Wind und Vogel, und zu tragen
Auf den Schwingen dieses einen
Wehgeschreis angstheis'res Klagen.
  
Die romanzenvollen Lüfte,
Wellensang und Waldesdüfte
Schläfern ein gemach mein Herz,
Selbst zum Träumer wird hier Schmerz,
Und ein Heimweh macht mich weinen,
Läßt Erinnerung erscheinen
Mir im Turm der Ghibellinen
Geister hier in dieser Stunde,
Wie dem Dante sie erschienen
Und gezeigt die Heldenwunde.
  
Die da sterbend rangen nieder
Romas giftgeschwoll'ne Hyder,
Friedrich, Manfred, Konradin,
Aber, Pfaffentum, entfliehn
Nimmer konnten deinen Schlingen
Und so schlangenstarken Ringen,
O wie strahlen sie im Lichte,
Ihres Tods verklärter Milde
Heller nun durch die Geschichte,
Ein Laokoon-Gebilde.
  
Riesenkraft hast du entfaltet,
Manfred, sterbend noch gespaltet
Mit des Schwertes letztem Streich
Petri Felsen, Roland gleich;
Und gefaßt in ernstem Schweigen
Sah den Konradin man steigen
Aufs Schaffot; des Blutes Wellen
Sog die Erde gierig nieder,
Und aus tausend Rachequellen
Gab Sicilia sie wieder;
  
Deutschland wieder, als bestritten
Jenen Drachen die Hussiten,
Und von Wittenberg der Schwan
Hat durchbraust den Vatican
Und zerrupft Sanct-Petri Taube.
Doch das Reich - es liegt im Staube!
Mit des Purpurs Fetzen schmückten
Dreißig mal sich, die zerbrachen
Friedrich's Krone, und zerstückten
Dreißig mal den Stuhl von Aachen.
  
Abgeschirrt vom Siegeswagen
Sind die Rosse, die getragen
In dem Völkerlauf voran
Die jahrhundertlange Bahn
Dich, Europas Scepterführer,
Deutschland dich, der Welt Regierer;
Neuem Anjou nun den Bügel
Hältst du, dem verwog'nen Steurer,
Gibst der Weltgeschichte Zügel
Tatenlos dem Abenteurer.
  
Wie die Vögelschwärme reisen
Immerzu in wüsten Kreisen
Schrill und wild zu Häupten dir,
Also meine Klagen hier,
Turm Astura, lass' ich steigen,
Heimatlose Seufzerreigen,
Deutsches Grenzmal, wo vom Herzen
Sich Germania der süßen
Schwester riß mit tiefen Schmerzen,
Die noch späte Enkel büßen.
  
Denn Geschwister sind sie beide,
Gleich an Ruhm und gleich an Leide.
Aehnelt, Deutschland, dein Gesicht
Auch der schönern Schwester nicht,
Lorbern kränzen es nicht minder.
Der Geschichte Waisenkinder
Müßt die Sehnsucht ihr verhehlen,
Die euch ewig hält gebunden
Eure gleich zerriss'nen Seelen,
Die mitsammen nur gesunden.
  
Aber einst den Haß zu sühnen
Steigt herab die Apenninen
Waffenlos Germania frei
Durch die freie Lombardei
Zu der Römerfahrt hernieder.
Dann umarmen wird sie wieder
Heiß Italia, am Busen
Ruh'n sie sich, verschmerzter Zeiten
Froh gedenk - Europas Musen,
Werden sie die Welt durchschreiten;
  
Führerinnen dann der Heere
Wieder, freier Völkerchöre,
Die zum Tempel der Cultur
Festlich folgen ihrer Spur,
Wenn den Dom des Friedens gründen
Völker, und in Rom entzünden
Nord und Süd Versöhnungsflammen,
Und verbrennen jener alten
Zwietracht Waffen dann mitsammen,
Die die Menschheit einst gespalten.
  
Sind es Träume, die ich dichte,
Ist es Zukunft der Geschichte
Und des Geistes Frühlingsweh'n,
Den ich schaudernd fühle geh'n
Auf des Ostens Dämmerungen?
Sieh', ein Haupt vom Geist durchdrungen
Ward die Erde schon, Gedanken
Läßt sie, flügellose, gleiten,
Blitzen gleich, an tausend schwanken
Ketten durch den Raum der Zeiten.
  
Aber die Gedankengassen,
Diese geisterschnellen Straßen,
Die sich schlingen um die Welt,
Despotie hat sie bestellt.
Auf gebahnten Pfaden streben
Mord und Haß durchs Erdenleben:
Aber wandern in der Irre,
Durch die ungebahnte Trübe,
Allzuspät muß durch die wirre
Wildniß erst die Menschenliebe.
  
Und des Geistes Ritter schweifen
In der Wüste wir und streifen
Nach der Menschheit heil'gem Gral,
Wie der Pilger Parcival;
Aber könnt' ich ihn ereilen,
Wollt' ich wandern tausend Meilen
In der Wildniß ohne Trauer,
Bis ich könnte sehen steigen,
Dom der Menschheit, deine Mauer,
Und mein Haupt anbetend neigen.

 

Der Text folgt dem Projekt Gutenberg:DE. Er ist folgender Ausgabe entnommen: Gedichte von Ferdinand Gregorovius. Hg. von A. F. Graf von Schack. Leipzig: F. A. Brockhaus 1892.

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4. Kurzbiographie von Gregorovius

 

Ferdinand Gregorovius. Photographie im Alter von 46 Jahren, April 1867. Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana.
Quelle: Ferdinand Gregorovius: Römische Tagebücher 1852-1889. Hg. von Hanno-Walter Kruft u. Markus Völkel. München: C.H. Beck 1991, Abb. 1.

 

Gregorovius, Ferdinand, Historiker, geb. 19. Januar 1821 in der damaligen Deutschordensstadt Neidenburg in Ostpreußen und gest. 1. Mai 1891 in München.

Gregorovius entstammt einer Familie von protestantischen Theologen und Juristen. In Königsberg absolvierte er das Studium der Theologie, wandte sich jedoch unter dem Einfluß des Hegelianers Karl Rosenkranz philosophischen und literarhistorischen Studien zu. Zur Säkularfeier Goethes 1849 erschien seine Schrift "Goethe's Wilhelm Meister in seinen socialistischen Elementen". 1852 brach er nach Italien auf und erwanderte sich die Halbinsel. Die genaue Beobachtung von Land und Leuten wie die aufgerufenen geschichtlichen und kulturellen Erinnerungen verknüpfte er zu "historischen Landschaften", die er in dem Sammelwerk "Wanderjahre in Italien" (5 Bände, 1856-1877) vereinte. Sein Hauptwerk bildet die "Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter" (8 Bände, 1859-1872), dem er die "Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter" (2 Bände, 1889) zur Seite stellte. 1876 wurde Gregorovius zum römischen Ehrenbürger ernannt. Zeitlebens blieb er ein protestantisch und national gesinnter Humanist und Weltbürger, der seine Unabhängigkeit keiner festen Anstellung opferte. Seine Schriften sind "ein Muster gelungener Vereinigung streng wissenschaftlicher und ästhetisch anziehender Darstellung" (Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode; zit. n. ADB, Bd. 49, S. 527.)

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