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Goethe, Schiller und die Goethezeit auf Google+

Goethes Italienische Reise, Rom

Jutta Assel | Georg Jäger

Volksleben in Rom
Das Römische Karneval

Stand: August 2015
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Gliederung

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1. Faschingstreiben auf dem Corso

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Römischer Carneval. Bleistiftzeichnung von F. Nerly [d.i. Christian Friedrich Nehrlich, 1807-1878; in Rom 1829-1831]. Quelle: Hans Geller: Ernste Künstler, fröhliche Menschen. Zeichnungen und Aufzeichnungen deutscher Künstler in Rom zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Joseph Führich und seine Freunde. München: Münchner Verlag und Graphische Kunstanstalten 1947, Abb. 82.

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[Charles Dickens berichtet:]

Nachdem wir uns einige Viertelstunden auf diese Weise vorwärts bewegt hatten, erreichten wir den Corso, und man kann sich kaum ein so prächtiges, fröhliches Schauspiel, wie es sich dort bot, vorstellen. Von all den zahlreichen Balkonen, von den fernsten und höchsten, den nächsten und untersten, wehten im funkelnden Sonnenschein bunte Behänge in leuchtendstem Rot, Grün, Blau, Weiß und Gold. An Fenstern, Geländern und Dachgiebeln hingen Flaggen und Tücher in den grellsten Farben und wallten bis auf die Straße hinunter. Die Häuser schienen buchstäblich das Innerste nach außen gekehrt und all ihren Glanz der Straße zugewendet zu haben. Die Schaufenster der Läden waren herausgenommen und die Auslagen gleich Logen in einem Theater mit fröhlicher Gesellschaft gefüllt. Türen waren aus den Angeln gehoben, und die tapezierten Gänge drinnen waren mit Immergrün und Blumengirlanden geschmückt. Baugerüste hatten sich in prächtige Tempel verwandelt, die in Gold, Silber und Purpur erstrahlten. Aus jedem Winkel und aus jeder Ecke vom Straßenpflaster bis zum Schornsteinsims funkelten und lachten Frauenaugen gleich Sonnenlicht im Wasser. Jede nur denkbar betörende Verrücktheit in der Kostümierung gab es zu sehen: kleine absonderliche, scharlachrote Spenser; wunderliche Brustlätzchen, noch neckischer als die schmucksten Leibchen; dicht anliegende polnische Pelze, zum Platzen straff und prall wie reife Stachelbeeren; niedliche griechische Kappen, schief auf einem Ohr sitzend – der Himmel weiß, wie sie an dem dunklen Haar hafteten; jede wilde, seltsame, kecke, schüchterne oder mutwillige Narrheit hatte in dem jeweiligen Kostüm ihren Ausdruck gefunden, und jede der Masken war so selbstvergessen in dem fröhlichen Treiben, als hätten die drei alten, noch vorhandenen Aquädukte über ihre mächtigen Bogen den Lethestrom nach Rom geleitet und an diesem Morgen über die Stadt ausgegossen.

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Friedrich Wilhelm Moritz (1793-1855): Bezeichnet: Carnevale di Roma. Aquarell über Bleistift. Höhe: 26; Breite: 35,5 cm. Im Hintergrund das Pantheon. Katalogausriss.

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Die Wagen fuhren nun zu dreien, an breiteren Stellen zu vieren nebeneinander, mußten jedoch oft lange Zeit stehenbleiben. Sie stellten eine Anhäufung buntester Pracht dar und ließen die Straße durch ihren ständigen Blumenregen wie ein riesiges Blumenbeet erscheinen. Manche der Pferde waren mit prächtigen Geschirren geschmückt, andere vom Kopf bis zum Schweif mit flatternden Bändern bedeckt. Einige Wagen wurden von Kutschern mit Janusköpfen gelenkt; das eine Gesicht starrte auf die Pferde, das andere blickte mit seinen übergroßen Augen in den Wagen, und auf beide prasselte der Hagel des Zuckerwerks herab. Andere Kutscher waren als Frauen verkleidet und trugen lange, unbedeckte Locken und sahen unbeschreiblich lächerlich aus, besonders, wenn es mit den Pferden Schwierigkeiten gab, was in dem ungeheuren Gedränge häufig der Fall war. Anstatt auf den Sitzen nahmen in der Zeit der allgemeinen Narrenfreiheit die schönen Römerinnen, um besser zu sehen und gesehen zu werden, oben auf der Kutsche Platz und stellten ihre Füße auf die Polster. Wie allerliebst nahmen sich doch die flatternden Röcke, die schlanken Taillen, die lachenden Gesichter und die zierlichen Gestalten mit ihrem fröhlichen, ungezwungenen, anmutigen Benehmen aus! Auch lange Leiterwagen gab es voll schöner Mädchen – wohl dreißig oder mehr auf einem Wagen ", und die Kanonade, die auf diese Feenschiffe gerichtet und von diesen dann gehörig erwidert wurde, erfüllte minutenlang die Luft mit Blumen und Bonbons. Kutschen, die lange an einer Stelle halten mußten, begannen ein Geplänkel mit anderen Wagen oder mit Leuten an Parterrefenstern. Zuschauer auf einem höher gelegenen Balkon oder an einem oberen Fenster beteiligten sich an dem Kampf; zugleich beide Parteien angreifend, schütteten sie ganze Säcke Konfetti hinunter, die sich wie eine Wolke auf die Betroffenen niederließ und sie im Nu weiß wie Müller machte. Und so ging es endlos weiter: Wagen auf Wagen, Masken auf Masken, Farben auf Farben, Menschenmenge auf Menschenmenge. Männer und Knaben klammerten sich an die Kutschenräder, hielten sich hinten an den Wagen fest, liefen mit, krochen unter die Pferdebeine, um die verstreuten Blumen zum Wiederverkauf aufzulesen. Masken zu Fuß, in der Regel die drolligsten, meistens eine phantastische Übertreibung der Hofkleidung, musterten das Gewühl durch ungeheuer große Lorgnetten und gerieten stets in eine Art Liebesraserei, wenn sie eine besonders alte Dame an einem Fenster entdeckten. Lange Reihen von Polichinells fuchtelten herum mit aufgeblähten Schweinsblasen an ihren Stockenden. Da kam eine Fuhre voll Tollhäuslern, die wie richtige Irre kreischten und heulten. Dann eine Kutsche voll ernst und grimmig dreinschauender Mamelucken, die in ihrer Mitte die Roßschweifstandarte aufgepflanzt hatten. Eine Schar Zigeunerinnen war in ein fürchterliches Handgemenge mit einem Schiff voller Matrosen geraten. Ein Menschenaffe auf einer Stange war umringt von sonderbaren Tieren mit Schweinsköpfen und Löwenschweifen, die sie unterm Arm oder lässig über die Schulter trugen. Dann wieder Wagen auf Wagen, Masken auf Masken, Farben auf Farben, Menschenmenge auf Menschenmenge, schier ohne Ende.

(Charles Dickens: Reisebilder aus Italien. Übersetzt aus dem Englischen von Noa Kiepenheuer und Friedrich Minckwitz. Weimar: Gustav Kiepenheuer o.J. S. 133-140. Hier S. 135-137.)

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2. Masken

Nun fangen die Masken an, sich zu vermehren. Junge Männer, geputzt in Festtagskleidern der Weiber aus der untersten Klasse, mit entblößtem Busen und frecher Selbstgenügsamkeit, lassen sich meist zuerst sehen. Sie liebkosen die ihnen begegnenden Männer, tun gemein und vertraut mit den Weibern als mit ihresgleichen, treiben sonst, was ihnen Laune, Witz oder Unart eingeben.
     Wir erinnern uns unter andern eines jungen Menschen, der die Rolle einer leidenschaftlichen, zanksüchtigen und auf keine Weise zu beruhigenden Frau vortrefflich spielte und so sich den ganzen Corso hinab zankte, jedem etwas anhängte, indes seine Begleiter sich alle Mühe zu geben schienen, ihn zu besänftigen.
     Hier kommt ein Pulcinell gelaufen, dem ein großes Horn an bunten Schnüren um die Hüften gaukelt. Durch eine geringe Bewegung, indem er sich mit den Weibern unterhält, weiß er die Gestalt des alten Gottes der Gärten in dem heiligen Rom kecklich nachzuahmen, und seine Leichtfertigkeit erregt mehr Lust als Unwillen. Hier kommt ein anderer seinesgleichen, der, bescheidner und zufriedner, seine schöne Hälfte mit sich bringt.
     Da die Frauen ebensoviel Lust haben, sich in Mannskleidern zu zeigen, als die Männer, sich in Frauenskleidern sehen zu lassen, so haben sie die beliebte Tracht des Pulcinells sich anzupassen nicht verfehlt, und man muß bekennen, daß es ihnen gelingt, in dieser Zwittergestalt oft höchst reizend zu sein.

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1: Advokat mit Pulcinellen | 2: Neapolitanischer Sbirre mit Neapolitanern | 3: Quacquero mit Bettlerpaar | 4: Hahnrei, Wahrsager und Quacqueri | 5: Nordländer, Tabarri | 6: Masken mit Tüchern, Pulcinell

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 Mit schnellen Schritten, deklamierend, wie vor Gericht, drängt sich ein Advokat durch die Menge; er schreit an die Fenster hinauf, packt maskierte und unmaskierte Spaziergänger an, droht einem jeden mit einem Prozeß, macht bald jenem eine lange Geschichtserzählung von lächerlichen Verbrechen, die er begangen haben soll, bald diesem eine genaue Spezifikation seiner Schulden. Die Frauen schilt er wegen ihrer Cicisbeen, die Mädchen wegen ihrer Liebhaber; er beruft sich auf ein Buch, das er bei sich führt, produziert Dokumente, und das alles mit einer durchdringenden Stimme und geläufigen Zunge. Er sucht jedermann zu beschämen und konfus zu machen. Wenn man denkt, er höre auf, so fängt er erst recht an; denkt man, er gehe weg, so kehrt er um; auf den einen geht er gerade los und spricht ihn nicht an, er packt einen andern, der schon vorbei ist; kommt nun gar ein Mitbruder ihm entgegen, so erreicht die Tollheit ihren höchsten Grad.
     Aber lange können sie die Aufmerksamkeit des Publikums nicht auf sich ziehen; der tollste Eindruck wird gleich von Menge und Mannigfaltigkeit wieder verschlungen.
     Besonders machen die Quacqueri zwar nicht so viel Lärm, doch ebensoviel Aufsehen als die Advokaten. Die Maske der Quacqueri scheint so allgemein geworden zu sein durch die Leichtigkeit, auf dem Trödel altfränkische Kleidungsstücke finden zu können.
     Die Haupterfordernisse dieser Maske sind, daß die Kleidung zwar altfränkisch, aber wohlerhalten und von edlem Stoff sei. Man sieht sie selten anders als mit Samt oder Seide bekleidet, sie tragen brokatene oder gestickte Westen, und der Statur nach muß der Quacquero dickleibig sein; seine Gesichtsmaske ist ganz, mit Pausbacken und kleinen Augen; seine Perücke hat wunderliche Zöpfchen; sein Hut ist klein und meistens bordiert.
     Man siehet, daß sich diese Figur sehr dem Buffo caricato der komischen Oper nähert, und wie dieser meistenteils einen läppischen, verliebten, betrogenen Toren vorstellt, so zeigen sich auch diese als abgeschmackte Stutzer. Sie hüpfen mit großer Leichtigkeit auf den Zehen hin und her, führen große schwarze Ringe ohne Glas statt der Lorgnetten, womit sie in alle Wagen hineingucken, nach allen Fenstern hinaufblicken. Sie machen gewöhnlich einen steifen, tiefen Bückling, und ihre Freude, besonders wenn sie sich einander begegnen, geben sie dadurch zu erkennen, daß sie mit gleichen Füßen mehrmals gerade in die Höhe hüpfen und einen hellen, durchdringenden, unartikulierten Laut von sich geben, der mit den Konsonanten brr verbunden ist.
     Oft geben sie sich durch diesen Ton das Zeichen, und die nächsten erwidern das Signal, so daß in kurzer Zeit, dieses Geschrille den ganzen Corso hin und wider läuft.
     Mutwillige Knaben blasen indes in große gewundne Muscheln und beleidigen das Ohr mit unerträglichen Tönen.

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7: Mädchen mit Besen, Doppelmaske | 8: Capitano und Pulcinell | 9: Fischer und Frascatanerin | 10: Landmädchen und neaplitanischer Schiffer | 11: Franzisierter Grieche, Griechen und Griechinnen | 12: Kastilianisches Paar

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 Man sieht bald, daß bei der Enge des Raums, bei der Ähnlichkeit so vieler Maskenkleidungen (denn es mögen immer einige hundert Pulcinelle und gegen hundert Quacqueri im Corso auf und nieder laufen) wenige die Absicht haben können, Aufsehn zu erregen oder bemerkt zu werden. Auch müssen diese früh genug im Corso erscheinen. Vielmehr geht ein jeder nur aus, sich zu vergnügen, seine Tollheit auszulassen und der Freiheit dieser Tage auf das beste zu genießen.
     Besonders suchen und wissen die Mädchen und Frauen sich in dieser Zeit nach ihrer Art lustig zu machen. Jede sucht nur aus dem Hause zu kommen, sich, auf welche Art es sei, zu vermummen, und weil die wenigsten in dem Fall sind, viel Geld aufwenden zu können, so sind sie erfinderisch genug, allerlei Arten auszudenken, wie sie sich mehr verstecken als zieren.
     Sehr leicht sind die Masken von Bettlern und Bettlerinnen zu schaffen; schöne Haare werden vorzüglich erfordert, dann eine ganz weiße Gesichtsmaske, ein irdenes Töpfchen an einem farbigen Bande, ein Stab und ein Hut in der Hand. Sie treten mit demütiger Gebärde unter die Fenster und vor jeden hin und empfangen statt Almosen Zuckerwerk, Nüsse und was man ihnen sonst Artiges geben mag.
     Andere machen sich es noch bequemer, hüllen sich in Pelze oder erscheinen in einer artigen Haustracht nur mit Gesichtsmasken. Sie gehen meistenteils ohne Männer und führen als Off- und Defensivwaffe ein Besenchen, aus der Blüte eines Rohrs gebunden, womit sie teils die Überlästigen abwehren, teils auch, mutwillig genug, Bekannten und Unbekannten, die ihnen ohne Masken entgegenkommen, im Gesicht herumfahren.
     Wenn einer, auf den sie es gemünzt haben, zwischen vier oder fünf solcher Mädchen hineinkommt, weiß er sich nicht zu retten. Das Gedränge hindert ihn zu fliehen, und wo er sich hinwendet, fühlt er die Besenchen unter der Nase. Sich ernstlich gegen diese oder andere Neckereien zu wehren, würde sehr gefährlich sein, weil die Masken unverletzlich sind und jede Wache ihnen beizustehen beordert ist.
     Ebenso müssen die gewöhnlichen Kleidungen aller Stände als Masken dienen. Stallknechte mit ihren großen Bürsten kommen, einem jeden, wenn es ihnen beliebt, den Rücken auszukehren. Vetturine bieten ihre Dienste mit ihrer gewöhnlichen Zudringlichkeit an. Zierlicher sind die Masken der Landmädchen, Fraskatanerinnen, Fischer, Neapolitaner Schiffer, neapolitanischer Sbirren und Griechen.
     Manchmal wird eine Maske vom Theater nachgeahmt. Einige machen sich's sehr bequem, indem sie sich in Teppiche oder Leintücher hüllen, die sie über dem Kopfe zusammenbinden.
     Die weiße Gestalt pflegt gewöhnlich andern in den Weg zu treten und vor ihnen zu hüpfen und glaubt auf diese Weise ein Gespenst vorzustellen. Einige zeichnen sich durch sonderbare Zusammensetzungen aus, und der Tabarro wird immer für die edelste Maske gehalten, weil sie sich gar nicht auszeichnet.
     Witzige und satirische Masken sind sehr selten, weil diese schon Endzweck haben und bemerkt sein wollen. Doch sah man einen Pulcinell als Hahnrei. Die Hörner waren beweglich, er konnte sie wie eine Schnecke heraus- und hineinziehen. Wenn er unter ein Fenster vor neu Verheiratete trat und ein Horn nur ein wenig sehen ließ, oder vor einem andern beide Hörner recht lang streckte und die an den obern Spitzen befestigten Schellen recht wacker klingelten, entstand auf Augenblicke eine heitere Aufmerksamkeit des Publikums und manchmal ein großes Gelächter.
     Ein Zauberer mischt sich unter die Menge, läßt das Volk ein Buch mit Zahlen sehn und erinnert es an seine Leidenschaft zum Lottospiel.
     Mit zwei Gesichtern steckt einer im Gedränge: man weiß nicht, welches sein Vorderteil, welches sein Hinterteil ist, ob er kommt, ob er geht.
     Der Fremde muß sich auch gefallen lassen, in diesen Tagen verspottet zu werden. Die langen Kleider der Nordländer, die großen Knöpfe, die wunderlichen runden Hüte fallen den Römern auf, und so wird ihnen der Fremde eine Maske.
     Weil die fremden Maler, besonders die, welche Landschaften und Gebäude studieren, in Rom überall öffentlich sitzen und zeichnen, so werden sie auch unter der Karnevalsmenge emsig vorgestellt und zeigen sich mit großen Portefeuillen, langen Surtouts und kolossalischen Reißfedern sehr geschäftig.

(Goethe: Das Römische Karneval. Masken.)

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13: Pulcinellenkönig | 14: Priesterinnen | 15: Bacchus und Ariadne | 16: Tragische Muse | 17: Muse der Geschichte und Symbol der Stadt | 18: Vestalinnen

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Über die Entstehung der Zeichnungen berichtet Goethe:

Wenn man einmal zum Künstler geboren ist und gar mancher Gegenstand der Kunstanschauung zusagt, so kam diese mir auch mitten unter dem Gewühl der Fastnachtstorheiten und Absurditäten zu Gunsten. Es war das zweite Mal, daß ich das Karneval sah, und es mußte mir bald auffallen, daß dieses Volksfest wie ein anderes wiederkehrendes Leben und Weben seinen entschiedenen Verlauf hatte.
     Dadurch ward ich nun mit dem Getümmel versöhnt, ich sah es an als ein anderes bedeutendes Naturerzeugnis und Nationalereignis; ich interessierte mich dafür in diesem Sinne, bemerkte genau den Gang der Torheiten und wie das alles doch in einer gewissen Form und Schicklichkeit ablief. Hierauf notierte ich mir die einzelnen Vorkommnisse der Reihe nach, welche Vorarbeit ich später zu dem soeben eingeschalteten Aufsatz benutzte, bat auch zugleich unsern Hausgenossen, Georg Schütz [1755-1813], die einzelnen Masken flüchtig zu zeichnen und zu kolorieren, welches er mit seiner gewohnten Gefälligkeit durchführte.
     Diese Zeichnungen wurden nachher durch Melchior Krause von Frankfurt am Main [Georg Melchior Kraus, 1737-1806], Direktor des freien Zeicheninstituts zu Weimar, in Quarto radiert und nach den Originalen illuminiert zur ersten Ausgabe bei Unger, welche sich selten macht.
     Zu vorgemeldeten Zwecken mußte man sich denn mehr, als sonst geschehen wäre, unter die verkappte Menge hinunter drängen, welche denn trotz aller künstlerischen Ansicht oft einen widerwärtigen unheimlichen Eindruck machte. Der Geist, an die würdigen Gegenstände gewöhnt, mit denen man das ganze Jahr in Rom sich beschäftigte, schien immer einmal gewahr zu werden, daß er nicht recht an seinem Platze sei.

(Goethe: Italienische Reise. Februar 1788, Bericht.)

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3. Höhepunkte des Karnevals.
Liebig's Sammelbilder, Serie 365

Ich habe jetzt Gelegenheit gehabt, ein echt italienisches Volksfest zu sehen, nämlich den römischen Karneval. Ich glaube, daß an keinem Ort Tollheit und Ausgelassenheit acht Tage lang so ungezügelt toben kann, alles ist schicklich, was einer Maske einfällt, man würde verlacht werden, nähme man etwas übel. Um ein Uhr gibt eine große Glocke auf dem Kapitol ein Zeichen, und nun ist es jedermann erlaubt, sich maskiert auf den Straßen sehen zu lassen. Der Hauptzusammenfluß ist aber auf dem Corso, einer langen Straße, die in gerader Linie von dem Platz del Popolo bis gegen das Kapitol läuft. Hier sind alle Fenster und Balkons mit bunten Teppichen geziert, Gerüste sind errichtet, die ebenfalls bunt lackiert sind, alles drängt sich durcheinander, maskierte und unmaskierte, eine Reihe Wagen fährt hinauf, die andere herunter, Masken werfen Confettis von Gips hinein und es wird wieder damit geantwortet, alles lacht und scherzt.

Brief von Franz Pforr an J. D. Passavant. Rom, 05.05.1811. In Franz Pforr, Quellen und Texte, URL http://www.bela1996.de/art/pforr/pforr-index.html.

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Liebig's Sammelbilder. Serie 365: Der Carneval von Rom. 6 Bilder. 1897. Drucker: Liebich und Kuntze, Leipzig. Höhe: 7; Breite: 11,1 cm. – 1: Blumenwerfen. Thierkampf im Circus. | 2: Wettlauf der Berber-Rosse. Gladiatorenkampf.

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Nun werden die Pferde nach geloster Ordnung von geputzten Stallknechten in die Schranken hinter das Seil geführt. Sie haben kein Zeug noch sonst eine Bedeckung auf dem Leibe. Man heftet ihnen hier und da Stachelkugeln mit Schnüren an den Leib und bedeckt die Stelle, wo sie spornen sollen, bis zum Augenblicke mit Leder, auch klebt man ihnen große Blätter Rauschgold an.
     Sie sind meist schon wild und ungeduldig, wenn sie in die Schranken gebracht werden, und die Reitknechte brauchen alle Gewalt und Geschicklichkeit, um sie zurückzuhalten.
     Die Begierde, den Lauf anzufangen, macht sie unbändig, die Gegenwart so vieler Menschen macht sie scheu. Sie hauen oft in die benachbarte Schranke hinüber, oft über das Seil, und diese Bewegung und Unordnung vermehrt jeden Augenblick das Interesse der Erwartung.
     Die Stallknechte sind im höchsten Grade gespannt und aufmerksam, weil in dem Augenblicke des Abrennens die Geschicklichkeit des Loslassenden sowie zufällige Umstände zum Vorteile des einen oder des andern Pferdes entscheiden können.
     Endlich fällt das Seil, und die Pferde rennen los.
     Auf dem freien Platze suchen sie noch einander den Vorsprung abzugewinnen, aber wenn sie einmal in den engen Raum zwischen die beiden Reihen Kutschen hineinkommen, wird meist aller Wetteifer vergebens.
     Ein paar sind gewöhnlich voraus, die alle Kräfte anstrengen. Ungeachtet der gestreuten Puzzolane gibt das Pflaster Feuer, die Mähnen fliegen, das Rauschgold rauscht, und kaum daß man sie erblickt, sind sie vorbei. Die übrige Herde hindert sich untereinander, indem sie sich drängt und treibt; spät kommt manchmal noch eins nachgesprengt, und die zerrissenen Stücke Rauschgold flattern einzeln auf der verlassenen Spur. Bald sind die Pferde allem Nachschauen verschwunden, das Volk drängt zu und füllt die Laufbahn wieder aus.
     Schon warten andere Stallknechte am venezianischen Palaste auf die Ankunft der Pferde. Man weiß sie in einem eingeschlossenen Bezirk auf gute Art zu fangen und festzuhalten. Dem Sieger wird der Preis zuerkannt.
     So endigt sich diese Feierlichkeit mit einem gewaltsamen, blitzschnellen, augenblicklichen Eindruck, auf den so viele tausend Menschen eine ganze Weile gespannt waren, und wenige können sich Rechenschaft geben, warum sie den Moment erwarteten, und warum sie sich daran ergötzten.

(Goethe: Das Römische Karneval. Abrennen.)

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Fortsetzung. 3: Der Saltarello-Tanz. Musikanten des Alterthums. | 4: Corso. Wagen-Rennen.

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In den ersten Tagen sieht man meist nur die gewöhnlichen Equipagen; denn jeder verspart auf die folgenden, was er Zierliches oder Prächtiges allenfalls aufführen will. Gegen Ende des Karnevals kommen mehr offene Wagen zum Vorschein, deren einige sechs Sitze haben: zwei Damen sitzen erhöht gegeneinander über, so daß man ihre ganze Gestalt sehen kann, vier Herren nehmen die vier übrigen Sitze der Winkel ein, Kutscher und Bediente sind maskiert, die Pferde mit Flor und Blumen geputzt.
     Oft steht ein schöner, weißer, mit rosenfarbnen Bändern gezierter Pudel dem Kutscher zwischen den Füßen, an dem Geschirre klingen Schellen, und die Aufmerksamkeit des Publikums wird einige Augenblicke auf diesen Aufzug geheftet.
     Man kann leicht denken, daß nur schöne Frauen sich so vor dem ganzen Volke zu erhöhen wagen, und daß nur die Schönste ohne Gesichtsmaske sich sehen läßt. Wo sich denn aber auch der Wagen nähert, der gewöhnlich langsam genug fahren muß, sind alle Augen darauf gerichtet, und sie hat die Freude, von manchen Seiten zu hören: "O quanto è bella!"
     Ehemals sollen diese Prachtwagen weit häufiger und kostbarer, auch durch mythologische und allegorische Vorstellungen interessanter gewesen sein; neuerdings aber scheinen die Vornehmern, es sei nun aus welchem Grunde es wolle, verloren in dem Ganzen, das Vergnügen, das sie noch bei dieser Feierlichkeit finden, mehr genießen, als sich vor andern auszeichnen zu wollen.
     Je weiter das Karneval vorrückt, desto lustiger sehen die Equipagen aus.
     Selbst ernsthafte Personen, welche unmaskiert in den Wagen sitzen, erlauben ihren Kutschern und Bedienten, sich zu maskieren. Die Kutscher wählen meistenteils die Frauentracht, und in den letzten Tagen scheinen nur Weiber die Pferde zu regieren. Sie sind oft anständig, ja reizend gekleidet; dagegen macht denn auch ein breiter, häßlicher Kerl in völlig neumodischem Putz mit hoher Frisur und Federn eine große Karikatur; und wie jene Schönheiten ihr Lob zu hören hatten, so muß er sich gefallen lassen, daß ihm einer unter die Nase tritt und ihm zuruft: "O fratello mio, che brutta puttana sei!"

(Goethe: Das Römische Karneval. Kutschen.)

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Fortsetzung. 5: Die Moccoletti (brennende Kerzchen). Antiker Tanz. | 6: Maskenball im Theater. Antike Komödie.

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Kaum wird es in der engen und hohen Straße düster, so siehet man hie und da Lichter erscheinen, an den Fenstern, auf den Gerüsten sich bewegen und in kurzer Zeit die Zirkulation des Feuers dergestalt sich verbreiten, daß die ganze Straße von brennenden Wachskerzen erleuchtet ist.
     Die Balkone sind mit durchscheinenden Papierlaternen verziert, jeder hält seine Kerze zum Fenster heraus, alle Gerüste sind erhellt, und es sieht sich gar artig in die Kutschen hinein, an deren Decken oft kleine kristallne Armleuchter die Gesellschaft erhellen; indessen in einem andern Wagen die Damen mit bunten Kerzen in den Händen zur Betrachtung ihrer Schönheit gleichsam einzuladen scheinen.
Die Bedienten bekleben den Rand des Kutschendeckels mit Kerzchen, offne Wagen mit bunten Papierlaternen zeigen sich, unter den Fußgängern erscheinen manche mit hohen Lichterpyramiden auf den Köpfen, andere haben ihr Licht auf zusammengebundene Rohre gesteckt und erreichen mit einer solchen Rute oft die Höhe von zwei, drei Stockwerken.
     Nun wird es für einen jeden Pflicht, ein angezündetes Kerzchen in der Hand zu tragen, und die Favoritverwünschung der Römer "Sia ammazzato" hört man von allen Ecken und Enden wiederholen.
     "Sia ammazzato chi non porta moccolo!" "Ermordet werde, der kein Lichtstümpfchen trägt!" ruft einer dem andern zu, indem er ihm das Licht auszublasen sucht. Anzünden und ausblasen und ein unbändiges Geschrei: "Sia ammazzato", bringt nun bald Leben und Bewegung und wechselseitiges Interesse unter die ungeheure Menge.
     Ohne Unterschied, ob man Bekannte oder Unbekannte vor sich habe, sucht man nur immer das nächste Licht auszublasen oder das seinige wieder anzuzünden und bei dieser Gelegenheit das Licht des Anzündenden auszulöschen. Und je stärker das Gebrüll "Sia ammazzato" von allen Enden widerhallt, desto mehr verliert das Wort von seinem fürchterlichen Sinn, desto mehr vergißt man, daß man in Rom sei, wo diese Verwünschung um einer Kleinigkeit willen in kurzem an einem und dem andern erfüllt werden kann.
     Die Bedeutung des Ausdrucks verliert sich nach und nach gänzlich. Und wie wir in andern Sprachen oft Flüche und unanständige Worte zum Zeichen der Bewunderung und Freude gebrauchen hören, so wird "Sia ammazzato" diesen Abend zum Losungswort, zum Freudengeschrei, zum Refrain aller Scherze, Neckereien und Komplimente.
     So hören wir spotten: "Sia ammazzato il Signore Abbate che fa l'amore." Oder einen vorbeigehenden guten Freund anrufen: "Sia ammazzato il Signore Filippo." Oder Schmeichelei und Kompliment damit verbinden: "Sia ammazzata la bella Principessa! Sia ammazzata la Signora Angelica, la prima pittrice del secolo."
     Alle diese Phrasen werden heftig und schnell mit einem langen haltenden Ton auf der vorletzten oder drittletzten Silbe ausgerufen. Unter diesem unaufhörlichen Geschrei geht das Ausblasen und Anzünden der Kerzen immer fort. Man begegne jemanden im Haus, auf der Treppe, es sei eine Gesellschaft im Zimmer beisammen, aus einem Fenster ans benachbarte, überall sucht man über den andern zu gewinnen und ihm das Licht auszulöschen.
     Alle Stände und Alter toben gegeneinander, man steigt auf die Tritte der Kutschen, kein Hängeleuchter, kaum die Laternen sind sicher, der Knabe löscht dem Vater das Licht aus und hört nicht auf zu schreien: "Sia ammazzato il Signore Padre!" Vergebens, daß ihm der Alte diese Unanständigkeit verweist; der Knabe behauptet die Freiheit dieses Abends und verwünscht nur seinen Vater desto ärger. Wie nun an beiden Enden des Corso sich bald das Getümmel verliert, desto unbändiger häuft sich's nach der Mitte zu, und dort entsteht ein Gedränge, das alle Begriffe übersteigt, ja, das selbst die lebhafteste Erinnerungskraft sich nicht wieder vergegenwärtigen kann.

(Goethe: Das Römische Karneval. Moccoli. Vgl. den Bericht von Karl Philipp Moritz: Werke in zwei Bänden. Bd.1. 3. Aufl. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1981 (Bibliothek deutscher Klassiker). Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. In Briefen. Rom, 2. März 1787, S. 51f.)

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4. Literaturhinweise und Weblinks

* Goethe: Italienische Reise. Mit Zeichnungen des Autors hrsg. u. mit einem Nachwort versehen von Christoph Michel. Frankfurt a.M. Insel 1976 (insel taschenbuch 175).

* Johann Wolfgang Goethe: Das römische Karneval. Bern: Hallwag 1955 (Orbis Pictus; 21). Die handkolorierten Zeichnungen wurden aus dieser Ausgabe übernommen.

 

Johann Wolfgang von Goethe: Das römische Carneval. 2. Aufl. Dortmund: Harenberg Kommunikation 1986 (Die bibliophilen Taschenbücher; 60). Faksimile der Erstausgabe von 1789 mit neben stehendem Titelblatt. – Die Tafeln XIV und XX sind in der hier zugrunde liegenden Ausgabe (s.o.) nicht enthalten.

* "Das römische Karneval" von Goethe gibt es online im Projekt Gutenberg-DE, URL: http://gutenberg.spiegel.de/goethe/italien/ital2a11.htm.

* Liebig's Sammelbilder. Vollständige Ausgabe der Serien 1 bis 1138. Hg. von Bernhard Jussen auf der Grundlage der Sammlung Hartmut Köberich. Eine Publikation des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Berlin: The Yorck Project. Gesellschaft für Bildarchivierung mbH 2002 (Atlas des historischen Bildwissens; 1).

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