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Gottfried Keller

Kurzbiografie

Gottfried Keller (*19. Juli 1819 in Zürich – †15. Juli 1890 ebd.), der bedeutendste Schweizer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, stammte aus kleinbürgerlichen Kreisen. Sein Vater war selbständiger Drechslermeister, starb aber bereits 1824, die zweite Ehe der Mutter verlief unglücklich. Dies und seine gnomenhafte Gestalt – Keller war nur ein Meter fünfzig groß – erklären eine Reihe psychisch auffälliger Verhaltensweisen: die anfängliche Ziellosigkeit seines beruflichen Strebens, die bis zur Handgreiflichkeit sich steigernde Aggressivität seines gesellschaftlichen Auftretens, die anhaltende Erfolglosigkeit in Liebesangelegenheiten und die wohl aus Misstrauen geborene Scheu vor Kommunikation mit geistig gleichrangigen Persönlichkeiten. Keller war dezidierter Einzelgänger, anfangs versuchte er sich in der Malerei, doch seit 1843 trat die Schriftstellerei in den Vordergrund. Keller setzte sich für die demokratische Bewegung ein und nahm 1844 und 1845 an Freischarenzügen teil. Als Staatsstipendiat in Heidelberg machte er die Bekanntschaft mit dem Philosophen Ludwig Feuerbach (1804-1872), dessen atheistische Position auch sein eigenes Denken nachhaltig beeinflusste. Nach den Jahren als freier Schriftsteller in Berlin (1850-55) kehrte er nach Zürich zurück, wo er ohne Anstellung bei der Mutter und Schwester wohnte – bis zu seiner überraschenden Wahl zum hochdotierten Ersten Staatsschreiber der Republik Zürich (1861-76), was seiner Schriftstellerei zu einer gesicherten Existenz verhalf. Abgesehen von seinen Aufenthalten in Heidelberg, Berlin und in Wien (1874) hielt sich Keller fast ausschließlich in Zürich auf. Seine bedeutenden Erzählwerke entstanden zwischen 1853 und 1881: der autobiographisch geprägte, nach Goethes „Wilhelm Meister“ wichtigste deutsche Entwicklungsroman „Der grüne Heinrich“ (Erstfassung 1856, Zweitfassung 1880), die Novellenzyklen „Die Leute von Seldwyla“ (1872/74), die „Sieben Legenden“ (1872), die „Züricher Novellen“ (1877) und „Das Sinngedicht“ (1881). Zeichen seiner mittlerweile allgemein hohen Wertschätzung war die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Zürich im Jahre 1869. Als Lyriker führte Keller die Linie der Heineschen Lieddichtung fort, reduzierte allerdings deren spielerischen und ironischen Charakter zugunsten eines bekenntnishaften und realistisch geprägten  Zuschnitts (Gedichtausgaben: 1846, 1851, 1854, 1883). Da Keller Anhänger der freisinnigen Bewegung und obendrein ein mächtiger Zecher vor dem Herrn war, verwundert es nicht, dass auch seine Gedichte die Diesseitszugewandtheit und den reflektierten Lebensgenuss thematisieren. Auch das einzige Gedicht, das sich dem Sujet Italien widmet, bekundet diese Haltung. In ihm findet sich auch der aus seinen Novellen bekannte, scheinbar idyllisierende, in Wahrheit leicht ironisch gefärbte Humor, der das Entsagen schmackhaft und die ‚Bitterkeit des Seins’ erträglich macht.

Gunter Grimm

 

[21]

Lacrimae Christi

Wie des Rauches Silbersäumchen
Vom Vesuv den Himmel sucht!
Feigenbäumlein! Feigenbäumchen,
Und wie süß ist deine Frucht!
Und ein kühlender Zephir fächelt
Über den warmen Lavagrund,
Drauf die Madonna niederlächelt
Mit dem feingeschnitzten Mund.

[22] Kommt ein lustiger Mönch gegangen
Mit dem vollen Tränenkrug;
Kommt ein Weib mit Purpurwangen
Und mit nächtlichem Lockenflug;
Schön ist’s unter dem Feigenbaum,
Wo der Berg in Liebe brennt!
Drüben leuchten, wie ein Traum,
Ischia, Capri und Sorrent.

Sind ihre Locken die dunkle Nacht,
Ist seine Glatze der Mondenschein,
Und es können die Sternenpracht
Ihre glühenden Augen sein.
Also schaffen am hellen Tag
Sie die heimlich stille Nacht;
Was doch alles geschehen mag,
Wenn man’s klug und sinnig macht!

Nur die hölzerne Madonne
Schmachtet in der heißen Sonne;
Daß auch sie genieße die Ruh’,
Wirft das Weib ihr den Schleier zu.
Lachend über die See her blinken
Ischia, Capri und Sorrent;
Süß und selig ist zu trinken,
Was man Christi Tränen nennt!

Quelle:
Gottfried Kellers Gesammelte Werke. Zehnter Band. Gesammelte Gedichte. Zweiter Band. 25.-29. Aufl. Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger 1908.

 

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