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Friedrich Theodor Vischer

Kurzbiografie

Friedrich Theodor Vischer (*30. Juni 1807 in Ludwigsburg − †14. September 1887 in Gmunden, Oberösterreich) war deutscher Philosoph und Schriftsteller. Sein Vater − ein evangelischer Geistlicher − verstarb schon 1814. Vischer besuchte in seiner Jugend eine Klosterschule in Blaubeuren, wurde 1825 in das Tübinger Stift aufgenommen und studierte Philosophie, Philologie und Theologie. 1829 begann eine lebenslange Freundschaft zu Eduard Mörike (1804-1875). 1830 trat er in den Pfarrdienst in Horrheim bei Maulbronn als Vikar. 1832 wurde er Doktor der evangelischen Theologie an der Universität Tübingen und machte im selben Jahr eine Magisterreise nach Göttingen, Berlin, Dresden, Prag, Wien und München. Ab Juni 1834 war er Repetent im Tübinger Stift. Die Theologie gab er 1836 auf, habilitierte sich in Ästhetik und Deutscher Literatur und wurde 1844 zum ordentlichen Professor ernannt. Kurze Zeit darauf wurde er wegen seiner 1845 erschienenen Antrittsvorlesung, in der er sich zum Pantheismus bekannte, für zwei Jahre suspendiert. Seine Reisen nach Griechenland und Italien 1839/40 und 1843 nutzte Vischer zum Kunststudium. 1847 nahm er für kurze Zeit seine Lehrveranstaltung wieder auf. 1848 wurde er politisch tätig, ließ sich ins Frankfurter Parlament wählen und stand als so genannter Linkshegelianer der gemäßigten Linken nahe. 1855 wurde der Dichter Professor für Literaturgeschichte am Polytechnikum in Zürich, 1857 vollendete er sein sechsbändiges Werk „Ästhetik“. Seine zweite Studienreise unternahm Vischer von 1857 bis 1860 nach Italien. 1866 ging er an die Universität Tübingen, die Lehrverpflichtung dort wurde ihm 1868 erlassen. 1867, 1870 und 1881 reiste er nach Norditalien, 1887 nach Venedig, erkrankte jedoch schwer und verstarb im September des selben Jahres in Gmunden. Vischer war u.a. befreundet mit David Friedrich Strauß (1808-1874) und Gottfried Keller (1819-1890).
Der durch meisterhafte Charakterisierung ausgezeichnete groteske Roman „Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft“ wurde 1879 veröffentlicht; er ist Vischers bekanntestes Werk. Die von Italien beeinflussten Gedichte erschienen in der fünfbändigen Sammlung „Dichterische Werke“, welche 1917 von seinem Sohn Robert herausgegeben wurde.

Gerd Gruitrooy



[50]

Perugia.   

I.

Dies linde Säuseln in der Luft,
Was will es mir wohl sagen?
Auf Berg und Tal der blaue Duft,
Wohin will er mich tragen?

Die Villen im Olivenwald,
Die Höhen sanft geschwungen,
Die Mauer braun und Völker-alt,
Von Efeu rings umschlungen,

[51] Des Volkes fremde Art und Tracht,
Der schwarzen Augen Funkeln,
Der Sprache Klang, des Schlosses Pracht,
Wo rings Zypressen dunkeln!

Am Hügel dort schwingt sich empor
Ein altergrauer Bogen;
Als Sieger ist durch dieses Tor
Octavius gezogen.

Dort jene hohe Zinnenwand,
Für ew’ge Zeit errichtet,
Von rühriger Etrusker Hand
Aus Felsen aufgeschichtet,

Der düstern Lukomonen Sitz,
Gepflanzt auf Bergeshöhen,
Er konnte nicht dem Siegerblitz
Des Römers widerstehen.

Nach jenen Bergen schau dich um:
Fern hinter Eichenforsten
Sah man das alte Clusium
Stolz wie ein Adler horsten.

Dort wird in unterird’scher Nacht
Von längst verklungnem Leben,
[52] Das oben einst im Licht gelacht,
Das Grab dir Kunde geben.

Gebannt in seiner Kammer Hut
Von dunkeln Geisterboten,
Auf seiner Cista schweigend ruht
Das Marmorbild des Toten.

Da ist kein Kerker aufgetan,
Er trifft die teure Waffe,
Den Krug, die Schale wieder an,
Den Ring und die Agraffe.

Von muntern Farben glänzt die Wand
Noch heut beim Licht der Kerzen,
Die Tänzerin klatscht in die Hand
Und flinke Gaukler scherzen.

Nach Hirsch und Reh im hellen Saus
Siehst du den Weidmann jagen,
Noch steht im schmucken Totenhaus
Der schlankgebaute Wagen.

Doch oben siehst du Burg und Feld
Von Wehr und Waffen strotzen,
Nichts darf so groß sein in der Welt,
Etrurien zu trotzen.

[53] Hinunter an der Tiber Strom
Zieht aus den wald’gen Hügeln
Porsenna, um das stolze Rom
Mit Heeresmacht zu zügeln.

Da recket Scävola die Hand
Getrost in Feuerflammen,
Steht Cocles fest wie eine Wand,
Die Brücke kracht zusammen.

Der Tusker steht von Scham gebeugt
Vor solcher Männer Wiege,
Und Romas Adler steigt und steigt
Empor von Sieg zu Siege.

Steh sinnend still! Was du erblickst
Hier unter deinen Tritten,
Wohin du nur die Blicke schickst,
Ist Land, wo Helden stritten.

Dies linde Säuseln in der Luft,
Was will es mir wohl sagen?
Auf Berg und Tal der blaue Duft,
Wohin will er mich tragen?

Im tiefsten Kerne mahnt es mich
Nach so viel kranken Stunden,
[54] Die Seele drängt und reget sich,
Sie will, sie will gesunden.

Sonst, wenn ich so im Nebelland
Zu Haus im Düstern weilte,
Wenn sich die graue Wolkenwand
Monatelang nicht teilte,

Da sank ich trüb im mich hinein
Und grub im dunkeln Schachte,
Bis ich als Grund von allem Sein
Das nicht’ge Nichts erbrachte.

Jetzt klingt es anders, da so rein
Die klaren Lüfte hauchen,
Jetzt, wo aus jedem Mauerstein
So mächt’ge Bilder tauchen.

Schau hin! Schau hin! spricht Herz und Mund,
Im tiefen, blauen Schoße,
In jener fernen Berge Grund
Liegt Rom, die ewig große!


II.

Die zweimal große, die den Tod
Unsterblich überlebet
Und wie verklärt im Abendrot
Ob ihrem Grabe schwebet!

[55] Dich,  a l t e  Roma, seh’ ich schon
An deiner Größe kranken
Und ahnungsschwer vom Völkerthron
Hinab ins Schicksal wanken.

Es wälzet dunkel sich heran
Fernher aus grauem Norden,
Es fluten wie ein Ozean
Wildfremder Völker Horden.

Sie stürzen deine Tempel um,
Palast und Halle flammen,
Die Götterbilder sinken stumm
In Trümmerschutt zusammen.

Sie hieß das Weltgericht im Zorn
Dumpfbrausend sich ergießen,
Es soll in den verdorbnen Born
Ein frischer Blutquell fließen.

Wie wild die blauen Augen noch
Von Jugendfeuer sprühen,
Ein Geist der Treu’ und Stille doch
Wird keimen und erblühen.

Von Osten strahlt ein neuer Stern
Herüber auf die Trümmer,
[56] In des gesunden Volkes Kern
Senkt er den lichten Schimmer.

Und sieh! Es ist zum zweitenmal
Italia geboren
Und hat für einen Heldenstahl
Den Hirtenstab erkoren.

Versetze dich mit Herz und Sinn
In dies vertiefte Leben,
Vergiß die Flecken, die darin
Von niedrem Stoffe kleben!

Tritt hier ins heil’ge Dunkel ein,
In steilgewölbte Hallen,
Sieh den geheimnisvollen Schein
Durch bunte Gläser fallen!

Betrachte dir Altar und Wand
Und laß dich kindlich rühren,
Laß in des Glaubens Märchenland
Dich gerne träumend führen!

Bei einer Krippe siehest du
Ein himmlisch Mädchen sitzen,
Es sieht ein Stern von oben zu
Durch morsches Daches Ritzen.

[57] Und Hirten um die Jungfrau mild
In trunkner Andacht knieen,
Und ferne nach des Sternes Bild
Siehst Könige du ziehen.

Sie hält ein Kind an ihrer Brust
Mit rührender Gebärde,
Voll Unschuld, Scham und Mutterlust
Blickt sinnend sie zur Erde.

Es ist ihr Kind und ist es nicht,
Sie sagt es sich mit Bangen,
Indes die Mutterliebe spricht:
Ich darf es traut umfangen.

Das Wunder über Wunder groß,
Sie kann es ja nicht fassen,
Daß nieder in den ird’schen Schoß
Die Gottheit sich gelassen.

Doch ach, schau hin! Dort hängt ihr Sohn
Ans Marterkreuz geschlagen!
Als mein’ und deiner Sünden Lohn
Hat er die Pein getragen.

Die Mutter blickt zum Kreuz empor,
Ein dreifach Schwert im Herzen,
[58] Es steht um sie der Freunde Chor
In unsagbaren Schmerzen.

Doch aus der Grabeshöhle Nacht
Hat er sich aufgeschwungen,
Wo ist, o Hölle, deine Macht?
Dein Stachel ist bezwungen!

Nun sieh am teuren Muttergrab
Die Jünger sich vereinen,
Sie, die der Welt den Heiland gab,
Wie Waisen zu beweinen!

Man hebt den Stein von ihrer Gruft:
Sieh die Erstaunten stehen!
Da hauchen Blumen süßen Duft,
Sie selbst ist nicht zu sehen.

Blick auf! Dort oben schwebt sie schon
In seligem Entzücken,
Schon darf sie den erhöhten Sohn
In goldnem Licht erblicken.

An seiner Seite wird sie sein,
Er reicht vom ew’gen Throne,
Umringt von holden Engelreih’n,
Ihr sanft die Himmelskrone.

[59] Welch Herz voll keuscher Innigkeit
Hat diese Welt entfaltet
Und schüchtern in der Anmut Kleid
Den heil’gen Kern gestaltet?

Komm, Perugino, reich’ die Hand,
Herzguter alter Meister!
Es grüßen hier im welschen Land
Vertraut sich unsre Geister.

Doch seh’ ich an der Schulter dir
Den größern Schüler stehen,
Ich fühle schon ganz nahe mir
Des hohen Geistes Wehen.

Es dränget mich, es rufet mich,
Das Auge will mir tauen,
Ich werd’, o Sohn der Schönheit, dich,
Darf, Raffael, dich schauen.

Hinab nach Rom! Hinab nach Rom,
Hin nach den sieben Hügeln,
Zur Wunderstadt am Tiberstrom
Hinab auf Schwalbenflügeln!



[60]

Rom.

Umringt, umflutet, bestürzt, umwettert
Vom Überschwange des neuen Lichts,
Vom Übergroßen zu Grund geschmettert,
Ein Schatten, ein Zwerg, ein Wurm, ein Nichts!

Und kann ich’s mit allem besten Willen
Nicht packen und bin ich gar so klein,
So sink’ ich in mich und meine Grillen
Nur eigensinniger noch hinein.

Doch die Campagna seh’ ich gerne,
Die meergleich eben ergoßne Bahn,
Und drüber hinaus die blaue Ferne,
Wo die duftigen Höhen streben hinan.

Hinaus ins Weite, hinaus in die Berge,
Hinaus in die Lüfte, frisch und frei,
Da sinkt wohl dem eingeschnürten Zwerge
Von der Seele des Albdrucks lastend Blei!

Dort werf’ ich mit Macht – ich will mir trauen –
Die grauen Gespenster aus dem Haus,
Und dann, dann hoffe ich mir zu bauen
Mein Rom von Alba Longa aus.



[61]

Albano.

Es war nicht heiter, als ich endlich stand
Auf der Albanerberge hohem Rücken,
Es riß der Sturm die Pinien fast zu Stücken,
Schwer kreisten Wolken um die Felsenwand.

Tiefbrütend nagt an seines Kessels Damm
Albanos See, der alte Feuertiegel,
Unheimlich malt in seinem düstern Spiegel
Der Monte Cavo den betagten Kamm.

Am Ufer ob der schaumerregten Flut
Schießen verscheucht, mit zweifelndem Gefieder
Zwei Möwen kläglich wimmernd auf und nieder,
Als klagten sie um jüngst geraubte Brut.

Fern flimmt das Meer durch Wetterwolkensaum,
Dumpf drohend brennt in schwefelgelber Helle,
Gemischt mit Stahlblau, die gereizte Welle,
Und zuckend blitzt der wilden Brandung Schaum.

Rings will kein freundlich Menschenkind sich nah’n,
Nur hie und da mit einer Stirn voll Tücke,
Vermummt im Mantel, Messer in dem Blicke,
Tritt ein Albaner ohne Gruß heran.

[62] Sonst wenn ein Fremdling in die Berge geht
Dem Lenz entgegen, lacht die Erd’ in Farben,
Der Himmel grüßt mit vollen Strahlengarben
Den Balsamduft, der durch die Lande weht.

In Myrtenbüschen schlägt die Nachtigall,
Des Berges braune Töchter zu erregen,
Daß sie im Tanze glühend sich bewegen,
Tönt Kastagnetten- und Tamburo-Schall.

Das sonn’ge Bild, es bleibt ihm eingedrückt,
Am deutschen Herd in winterlicher Stunde
Erzählet er, indes mit offnem Munde
Staunend das Kind, die Gattin nach ihm blickt.

Spät wird vielleicht am grünen Wanderstab
Ein Kindeskind in diese Berge wallen,
Ihm wird im Ohr noch wie ein Märchen hallen
Des Ahnen Wort – er ruhet längst im Grab.

Mir aber rief mein alter Unstern: Nein!
Sang mir das Lied mit giftgeschärften Zungen,
Das er mir an der Wiege schon gesungen,
Das alte Lied: Du sollst nicht glücklich sein!

Und, bei der Lüfte Geisterton erwacht,
Bäumt ein Gespenst, das mein Verderben suchet,
[63] Ein dunkler Zorngeist, der dem Leben fluchet,
Den Drachenhals in meiner Seele Nacht.

In Klosterhöhlen ward es ausgeheckt,
Genährt im Gitter eines engen Lebens,
Gereizt vom Stachel fehlgeschlagnen Strebens,
Vom Schicksalshohn, vom Zweifel aufgeschreckt.

Heraus aus mir! Und wenn du widerstrebst,
Ich schleudre dich, scheuseliges Gerippe,
An jenes Abhangs wildgezackte Klippe,
Daß du zerfetzt wie dort die Wolke klebst!

Und trotzest du, dort auf die See hinaus,
Wohin mich bald die Wanderschritte bringen,
Schlepp’ ich dich noch, dort will ich mit dir ringen
In Sturmes Pfeifen, in der Wogen Graus!

Dort pack’ ich dich, mir selbst sei es gelobt!
Dort stoß’ ich zu des Abgrunds Mißgestalten,
Grünäugiger Larven Brut, den schlimmen, alten
Nächtlichen Dämon, der im Busen tobt!

Ich aber strebe frei und fröhlich fort!
Durch blaue Inseln schwebend hingetragen,
Schon seh’ ich fern Athenes Tempel ragen
Und grüße jauchzend von des Schiffes Bord.



[65]

Tivoli.

Nein! Der Himmel, sieh und traue!
Nicht so bös hat er’s gemeint,
Da so freundlich heut ins Blaue
Phöbos’ Strahlenauge scheint.

In der Bergschlucht tiefe Gründe
Schüttet in des Sturzes Wut,
In der Grotten schwarze Schlünde
Anio die jähe Flut.

Iris schillert sanft gewoben
In der Fälle Silberschaum,
Und voll Grazie lacht oben
Vestas Haus vom Felsensaum.

[66] Ferne dehnt sich hingestrecket
Endlos der Campagna Feld,
Ihre ernsten Flächen decket
Trümmerschutt vergangner Welt.

Die Zypresse, die Olive,
Pinienwald und Berg und Au
Taucht sich in das himmlisch tiefe,
Fleckenlose, duft’ge Blau.

Um die Wasser, um die Lande,
Näh’ und Ferne weit und breit
Legt der Himmel weitgespannte
Arme der Unendlichkeit.

Und so hält er in den Armen
Auch das edle Menschenbild,
Hüllt es in den weichen, warmen
Liebesmantel still und mild.

Mag es oft im Innern toben
Wie des Bergstroms wilder Fall,
Bleib’ ich ja doch aufgehoben
In dem großen Weltenall.

Keinen hat er noch betrogen,
Jener  e i n e, große Geist,
[67] Der des Wassersturzes Wogen
In die jähe Tiefe reißt,

Der den Äther, der die Strahlen
Über Tal und Hügel gießt
Und in tausend vollen Schalen
Alle tränkend überfließt,

Der im Busen oft die grellen,
Grauenhaften Qualen weckt,
Dann die hochempörten Wellen
Mit des Friedens Flügel deckt.

Und in  e i n e m  starken Herzen
Trag’ ich Freude so wie Leid,
Trag’ ich mit den tiefen Schmerzen
Auch die tiefe Seligkeit.

Die ihr auf beschneiten Wegen
Jetzt im Norden wandelt fern,
Freunde, diesen Himmelssegen,
O, wie teilt’ ich euch ihn gern!

Seid gegrüßt mit Herz und Munde,
Kommet alle, kommt zu Hauf,
Denn es tut mein Herz zur Stunde
Seiner Liebe Kammern auf!

[68] Kommt und höret auf zu klagen,
Daß es hart und mürrisch ist,
Ja, ich darf es redlich sagen,
Reicher ist es, als ihr wißt.



Nachts an der Engelsbrücke.

Der Tiber rauscht, der Tiber rauscht
Vorbei am dunkeln Saume,
Das Ufer mit den Wassern tauscht
Gespräche halb im Traume.

Hab’ viel gesehn, hab’ viel gesehn,
So raunt die breite Welle,
In Stücke wird noch Manches gehen,
Was prangt an dieser Stelle.

Sieh auf, sieh an, sieh staunend an,
So mahnt es von der Brücke,
Zu Peters Dom, zum Vatikan
Schau hin mit frommem Blicke!

Da spritzt empor, da schäumt empor
Die Flut am Pfeilerbogen:
„Hab’ keinerlei Respekt davor,
Man hat zu viel betrogen.

Ob Priester alt, ob Priester neu,
Ob Augurn oder Pfaffen,
[69] Die junge wie die alte Spreu
Denk’ ich noch wegzuraffen.

Doch sag’ ich frei, doch sag’ ich frei:
Einst hat mir’s baß gefallen,
Geringer war die Heuchelei
In Heidengötterhallen.

Bei Jovis Bart, bei Jovis Bart,
Es waren andre Zeiten,
Als ich die alte Männerart
Noch sah zum Forum schreiten.“

Sie fließt dahin, sie fließt dahin
Im bleichen Mondesschimmer,
Leis grüßt sie im Vorüberziehn
Der Coclesbrücke Trümmer.

Sie kann sich nicht, sie kann sich nicht
Beim Gruße lang verweilen,
Ins Meer, so weit, so frei, so licht,
Muß sie hinuntereilen.

Ins All, ins All, ins offne All,
Hinaus ins Grenzenlose!
Versinkt doch auch der Erdenball
Zuletzt im Weltenschoße.



[70]

Auf dem Kapitol.

Am Tarpejischen Fels da unten,
Wo mit zerschmetterten Knochen einst
Die Verräter ihr schwarzes Leben
Verröcheln mußten,
Da unten liege, Gespenst!
Gut genug für dich. –

An Heldengeisterhand
Bin ich heraufgestiegen,
Götteratem-Wehen
Hab’ ich gespürt auf der hehren Stätte,
Wo er gewohnt hat,
Jupiter Capitolinus.

Erzklang hat mir ins Herz geklirrt,
Als ich vorüberschritt an den alten,
Braunen Säulen des Mavorstempels.

Hinunter aufs Forum schau’ ich,
Einen Vater seh’ ich,
Wie er ein Messer reißt von der Schlachtbank
Und die Tochter, daß sie nicht Sklavin werde,
Niederstößt, ich sehe sie blutend
Im Arm ihm hangen.
Auf schwarzen, flüchtigen Rossen jagen
[71] Keuchend über die Heide dort
Die Decemvirn.

War’s nicht soeben – oder träumte mir?
Daß ich Zwillinge sah, wimmernde Knäblein
Ausgesetzte, ans Land geschwemmte,
Saugen die Milch der Wölfin,
Und daß ich dachte, gegönnt sei’s redlich?

Neulich aber – das weiß ich noch –,
Als von den Bergen ich kam herüber,
Bin ich durch grünumwachsnen,
Laubumhangenen Felseingang
In die Grotte getreten, die dunkle, stille,
Quelldurchrieselte Grotte,
Wo mit der Nymphe Egeria
Heilig vertrautes Zwiegespräch
Der wackre König gepflegt hat,
Numa Pompilius,
Wo ihm flüsternd die Kundige riet,
Was dem werdenden Volk der Römer
Frommen möchte, daß es erwachse
In Scheue der Götter zu Kraft und Tugend.

Kühlungen wehten über mich her,
Und mir war es, als fielen Tropfen,
Netzende Tropfen reinen, kalten
[72] Wassers von oben herab auf die heiße
Stirn, aufs brennende Auge mir,
Und mir war’s, als senkte sich etwas,
Als schlüge sich etwas nieder in mir,
Als strömte das Blut, das all’ nach oben
Krank nach Herz und Kopf sich gestaut,
In wohlverteiltem richtigem Maße
Durch das Ganze des Gliederlebens.

Und als Greis noch werd’ ich gedenken
Des grünumwachsenen Felseingangs,
Der quelldurchrieselten, tropfenden, dunkeln, kühlen
Grotte, wo ich gesund ward.



[74]

Ein Tag in Sorrent.

Vom Ufer hieher an der Klippe Rand,
Wo an der wellenbenagten Wand
Aufrauscht mit Wut
Die gepeitschte Flut,
Hieher mit mir in behendem Sprunge
Schwinge dich, schlanker Schifferjunge!

Das ist ein Toben, das ist ein Grollen!
Wie sie sich krümmen, wie sie rollen,
Wie sie schäumen,
Wie sie sich bäumen,
Wie sie donnern und schreien,
Heulen und klagen,
Stoßen und speien,
Hauen und schlagen,
Zu erobern endlich im Sturmesgraus
Der Erde uraltes, festes Haus!

[75] Sie versuchen es schüttelnd und zausend
Von Jahrtausend zu Jahrtausend,
Und können nicht;
Sie laufen an und wetzen ihr Horn,
Doch es zerbricht.
Drum schrecklicher Zorn
Stachelt sie immer
Mit Geächz und Gewimmer,
Mit Heulen und Fluchen,
Mit wahnsinnigem Spotte
Aufs neue den Sturm zu versuchen.

Wilder Bestien eine Rotte
Mit fletschenden Zähnen,
Mit fliegenden Mähnen,
Mit Hufen und Klauen
Glaub’ ich zu schauen.
Dort stürzt ein Eber im Sprung heran,
Grunzend wetzt er den geifertriefenden Zahn.
Dort schwimmt ein Polype, mit scharfen Zangen
Umklammernd nimmt er ein Felsstück gefangen
Und will es zerbeißend erdrücken,

Aber die Zangen brechen zu Stücken;
Aufgelöst in flockige, weiße,
Ineinandergezogene Kreise
Fließt das Untier zurück ins endlose Meer.

[76] Da tappt schwarz und schwer,
Brummend ein mürrischer Bär
Und umarmt mit den Tatzen in sicherem Griff
Ein Felsenriff
Und will es zerquetschen an zottiger Brust, und dumpf
Brüllt er, doch stumpf
Fallen die Tatzen herab, und hinaus
Zu den andern sinkt er ins Wogengebraus.

Jetzt naht eine lange,
Spitzige, tückische Wasserschlange;
Auf dem Haupt eine silberne Kron’ ihr sitzt,
Die von lauter schäumenden Perlen blitzt.
Geschlungen, geringelt
Leckt sie und züngelt
Hier und da, und da und dort,
Doch zurück und fort
Drängt sie mit dröhnendem, klapperndem Schall
Der unabsehliche Wogenschwall.

Sieh da, in der Untiere Troß
Ein weißes feuriges Roß!
Seine Mähne fleugt,
Es schlägt hinaus, es steigt,
Es wiehert und lacht;
Doch es zerkracht
[77] An der Klippe, zackig und rauh,
Der edel gestaltvolle Gliederbau.
Aber als Löwe mit funkelndem Blick
Kehrt es zum Kampfe zurück;
Laut brüllt er auf,
Doch mitten im Lauf
Hat er zerbrochen
Die mächtigen Knochen.
Dort zürnt, dort stößt ein mächtiger Stier,
Und ein Hirsch, ein herrliches Tier
Mit zwanzigend’gem Geweihe,
Beschließt die Reihe.

Doch nein, da kommt gestampft ein Gigant,
Ein großmächtiger Elefant,
Und mit unendlichem, schrecklichem Prall –
Wie der Boden zusammenschüttert!
Wie der Fels erschrickt und zittert!
Halte dich, Knabe, ein Fehltritt, ein Fall,
Und ich sehe dich niemals wieder –
Doch zerschellt, zerknallt sind des Ungetüms Glieder,
Und eine Riesensäule von Schaum,
Sein zerstäubter Körper, sucht Raum
Und findet ihn nicht, und hervor
Aus dem Geklüft und empor
Himmelan stürmt er,
[78] Hoch, höher sich türmt er –
Sieh, da ist er herübergeschossen
Und hat uns mit salzigem Naß übergossen,
Und fortgeschwungen
Seh’ ich meines guten Jungen
Rote, spitze
Neapolitanermütze
Schwimmen dort in der unwirtlichen Flut. –
Mut, Mut!
Weine nicht, Paolo, eine andre,
Schönere kauf’ ich dir; Mützen gibt’s immer,
Doch so lang ich wandre,
Sah ich nimmer und nimmer
Ein Schauspiel, so göttlich groß!

Aber zurück in den nassen Schoß,
Rückspeiend den Salztrunk, den sie getrunken,
Ist die bäumende, schäumende Säule gesunken.
In schweren Tropfen, wie nach Wetterschlägen
Ein klatschender, satter Gewitterregen,
Peitscht sie weit hinein die grünlichen Wogen.
Und das Roß mit des Halses zierlichen Bogen,
Und der grimmige Keiler, der mähnige Leu,
Und der Stier und der Hirsch mit dem reichen Geweih,
Der Polype mit gräulicher Zange,
Die gift’ge, gewundene Schlange,
[79] Der tappende, brummende Bär,
Der Elefant, bergschwer,
Wie sie nur heißen, die wütenden alle,
Richten sich auf von dem schütternden Falle,
Und voll wütender Reue
Ob dem Mißlingen, aufs neue
Beginnen den Sturm sie, und wieder
Sinken geschlagen sie nieder,
Und fort und fort ohne End’ und Ziel
Erzeugt sich das wilde, das herrliche Spiel.
Jetzt sind sie vermengt,
Überwälzen sich, eins ans andere gehängt,
In Klumpen zusammengeballt:
Du willst fassen eine Gestalt,
Und sie verschwindet im Schwalle,
Du suchst das Ganze: getrennt sind sie alle.

Und was von schrecklichen Stimmen nur
Hat aufzubieten die ganze Natur,
Element und Kehle der Kreatur,
Ich höre sie alle
Verdoppelt im Halle:
Ein Brummen, ein Knurren, ein Brüllen,
Ein Zischen, ein Lachen, ein Schrillen,
Ein Gähnen, ein Knirschen, ein Pfeifen –
Nicht kann ich’s mit Worten ergreifen!

[80] Selbst des Schlachtengeschosses dumpfe Schläge
Hör’ ich aus unterwühltem Wege,
Wo in zerfressener Felsen Bucht
Tief einbrandet der Wogen Wucht.
Hinweg! es vergeht mir Gehör und Blick!
Zu der Menschen traulicher Stätte zurück!
Mir kreiset das Haupt!
Ein Schwindel raubt
Mir die Besinnung! Du bist mir zu groß,
Du All, du unendlicher Kräfte Schoß!

Komm, mein Paolo, komm ans Land,
Dort hinaus auf den weichen Sand
Herzhaft mit einem guten Sprunge!
Fasse mich an! Wohlauf, mein Junge! –
Da sind wir schon!
Mußt blinzen, mein Sohn?
Kannst aus den Augen sehen kaum,
Weil hineingespritzt der salzige Schaum.

Ich vergesse ihn nicht, wie er vor mir stand
Und ich das beißende Naß, den Sand,
Der mit dem Nasse sich lästig mischte,
Aus den Augen, den Locken ihm wischte.
Er war bildschön; so rührend gut,
Zufrieden meiner Pflege und Hut,
[81] Sah aus der langen Wimpern Kranz
Sein Auge mit seinem feuchten Glanz
Zu mir auf und, getrocknet bald,
Leuchtete aus der Locken Wald
Die bräunliche Stirn, die faltenfreie.
Daß unser Werk nun weiter gedeihe,
Brachte ich ihn auf seine Bitte
Hinüber zur nahen Fischerhütte,
Seinem Vaterhaus am Landungsstrand,
Wo ich heut morgen den Knaben fand
Mit Kameraden im Moraspiel
Und ihn, weil er so gut mir gefiel,
Erkor zum Führer und Cicerone,
Wiewohl er jeglicher Bildung ohne.
Seine Sonntagsjacke wollte er holen,
Die Mutter hatte es so befohlen.
Wie sie ihn sah, so ganz übergossen,
Wurde umfassender Wechsel beschlossen,
Sie zog auch Hosen und Hemd ihm aus,
Zerrissen, durchlöchert, es war ein Graus.
Ausgenommen waren die Socken,
Sie waren nicht naß und waren nicht trocken,
Denn es gab sie nicht. –
Jetzt wie ein Gesicht,
Ein erstandenes Wunder aus Griechenland,
Wie ein Erosbild von Praxiteles’ Hand,
[82] Stand lächelnd der nackte Knabe da.
Nicht schöner, nicht anmutleuchtender sah
Einst Vater Zeus von Olympos’ Höhen
Am Ida den Hirtenknaben stehen.

Indessen die Mutter geschäftig wieder
Einhüllte den Bau der geschlanken Glieder,
Schrieb ich mir in mein Tagebuch
Die ersten Verse von diesem Versuch,
Dem unzulänglichen, arm bemühten,
Zu schildern des Meeres Toben und Wüten;
Schon hatte begonnen im Kopf die Musik.
Und sie sahen mit starrem, staunendem Blick,
Der Vater, die Mutter, der Sohn, die drei,
Daß ich der Schreibkunst mächtig sei.

Der Knabe stand fertig und bereit,
Die Mütze nur fehlte zum festlichen Kleid.
Barfuß durfte man wohl ihn sehen,
Doch ohne Mütze durft’ er nicht gehen.
Zu ersetzen vorerst den traurigen Schaden,
Gieng’s in der Stadt zu einem Laden,
Wo von den Mützen aus roter Wolle
Eine Auswahl hieng, eine reiche, volle;
Ihr kennet sie: hoch, vorn überzuschlagen,
Die Phrygier haben sie so getragen.
[83] Und ich kaufte ihm eine solide, feine,
Und wer war glücklicher als der Kleine?
Und wie aug-erfreuenden Anblick bot
Auf den dunkeln Locken das helle Rot!

Wie wir nun durch die Straßen wandern,
Drängten sich, einer um den andern,
Ciceroni heran, wie die Kletten zäh,
Und wollten nicht lassen und wollten nicht weichen,
Bis ich am Ende gewitterjäh,
Mit geschwungenem Stock, mit wuchtigen Streichen
In den zerstäubenden Haufen fuhr,
Laut ausrufend: Der  e i n e  nur,
Der kleine Paolo ganz allein
Soll heut in Sorrento mein Führer sein!

Nach diesem luftreinigend starken Blitze
Trug Paolo stolzer die rote Mütze
Und war mein Führer mit großem Ernst
Und zeigte mir eifrig dienstbereit
Von aller Gelehrsamkeit fern und fernst,
Was er wußte von Sehenswürdigkeit.

Zum Pranzo ließ ich uns beiden decken,
Die Makkaroni ließ er sich schmecken,
Er aß mit entschiedener Magenkraft,
[84] Denn er nährte für sie als treuer Sohn
Seiner gesamten Nation
Eine tiefe, romantische Leidenschaft.
Doch wie gelüstig er speiste, wie munter
Die Nudeln er mit der Gabel hob
Und in den Mund sich von oben schob,
Nichts Unanständiges lief mit unter,
Seine Sitte war rein und ohne Tadel,
Als wär’ er gebürtig von altem Adel.

Und abends führt’ ich ihn wieder nach Haus.
Das Meer war ruhig, der Sturm war aus.
Ein tiefes Schweigen war in den Lüften,
Durchwürzt von feinen Orangendüften.
Hinab war die Sonne, doch goldnes Licht –
Des Malers Pinsel erreicht es nicht –
War noch über die Welt ergossen,
Kam auf den sanften Wellen geflossen,
Sie schlugen nur leise ans Ufer an.
Fern sang ein Fischer in seinem Kahn.
Wir standen und sahen still hinaus
Bei den Klippen, wo wir in Sturmesgraus
Umgähnt gewesen vom nassen Grabe.
„Quanto è calmo!“ sagte der Knabe.



[85]

Palermo

am Hafen, nach Anblick des Sargs Friedrichs II. im Dom.

Rauh sind die Berge der Alb, sargförmig gestreckt und gebrochen,
Harte, gediegene Kraft, selten ein Adel der Form.
Aber der Staufen, in schöngeschwungener Linie steigt er
Auf zum Gipfel und sinkt in die Gelänge herab. –
Wenn du zum Hafen schrittst, in die lachende Bucht von Palermo,
Mächtiger Kaiser, du sahst wahrlich ein schöneres Bild!
Lichtgetränkt erglänzte die Welt, ein himmlisches Blau lag
Über Tiefen und Höhn, auf der beruhigten Flut,
Berg Pellegrino stieg und senkte zum Meere sich nieder,
Gleich als wäre sein Bau nach Melodieen gefügt.
Dennoch schwebet mir vor, es seien auch Stunden gekommen,
Wo verbleichte Gestalt leis in die Seele dir schlich –
War’s am Abend etwa, wenn in der Dämmerung Schleier
Sanft und stille verschwamm alle die sonnige Pracht – :
Burg der Väter und Berg, wohl unter grauerem Himmel,
Doch mit rötlichem Licht krönt sie der neigende Tag;
Rauheres Volk umher, doch braves, – verlaßnes, auf seinen
Kaiser harrend und trüb fragend: Wo weilt er so lang?



[110]

Rom 1872.

Abend war’s, vom Kapitole
Stieg ich nach dem Forum nieder.
Eines Jägerhornes lust’ge,
Stürmisch rasche Marschesweise
Hört’ ich; zu den muntern Klängen
[111] Sah ich durch den Titusbogen
Einen Zug Bersaglieri
Im Geschwindschritt sich bewegen,
Auf den breiten Schützenhüten
Flatterten die Hahnenfedern.

Traumhaft wurde mir zumute;
Von des altersgrauen, stolzen
Baues mächtigem Gesimse
Schien ein lorbeerkranzgeschmücktes
Geisterhaupt herabzublicken;
Gleich als hätten es die Töne
Einer Tuba wachgerufen,
Schien es diesen jungen braunen
Kriegern mit der unbekannten
Feuerwaffe auf den Schultern
Seltsam staunend nachzuschauen.

Weiter ging der Marsch, vorüber
An des Palatinus Höhen.
Und dort oben in den Trümmern
Ward es schattenhaft lebendig,
Stieg ein graues Dunstgewebe,
Das begann sich zu verdichten,
Mit geheimnisvollem Gären
Sich zu scheiden und zu sammeln,
[112] Sich zu formen, bis mit einmal
Wunderbare Menschenbilder
Aus dem Flore sich enthüllten.

Stolze Stirnen wurden sichtbar,
Drüber goldne Diademe,
Von der Toga Pracht umfloßne
Majestätische Gestalten.
Und sie rührten sich und schwebten
Zu dem lichtern Vordergrunde,
Öffneten, sich schwer besinnend,
Schlafbedeckte dunkle Augen,
Blickten fragend nach dem fremden
Schauspiel an des Hügels Fuße.

Knaben hatten sich indessen
An die Schützen angeschlossen,
Liefen hintennach im Takte,
Bursche, Mädchen, Männer, Frauen
Blieben auf dem Wege stehen,
Und miteins aus vollen Kehlen
Stieg der Ausruf in die Lüfte:
„Viva il regno d’Italia, viva
La risorta patria, viva
Nostro re galantuomo,
Re Vittor’ Emanuele!”

[113] Mit gehobnen Brauen horchten
Vorgebeugt die Geisterwesen,
Ihre Stirnen, ihre Mienen
Wurden helle, und sie winkten
Eins dem andern, ein bewegtes
Flüstern ging durch ihre Reihen.
Flog wohl eine dunkle Ahnung,
Gieng wohl eine dunkle Kunde
Unter ihnen von dem Tage,
Wo im Feuerschlündedonner
Durch den Riß der Porta Pia
Einzog in die alte Hauptstadt,
Wo sich selbst und ihres Lebens
Mittelpunkt, ihr Herz im Busen
Nach der Zeiten langer Öde
Wiederfand Italia?

Doch ein breiter Schatten legt sich
Auf das Forum, auf den Hügel,
Auf des Kolosseums Massen.
Kalter Windhauch weht vom Tiber.
Schwer Gewölk ist aufgestiegen.
Drüben, wo Sankt Peters Kuppel
Ragt, da hebt sich’s hoch und höher,
Und in Dunkel bang und bänger
Rückt’s heran. Es zuckt, es leuchtet. –

[114] Eine dreigekrönte spitze
Priestermitra seh’ ich glänzen,
Flimmern aus dem finstern Qualme. –
Dumpfer Donner rollt herüber,
Schwere Regentropfen fallen,
Aber siehe, das Gewitter
Stockt nach wenigem Geräusche,
Es verweht sich, es versauset,
Noch ein Knall, und es verstummet
Und die Sonne sieget wieder. –
Die Gestalten auf der Höhe
Sehn einander an und lächeln,
Raunen wohl von Augurn etwas,
Welche schon zu ihren Zeiten
Nur noch Kindern bange machten.
Doch in dem erfrischten Äther
In des Lichts erneuter Klarheit
Schwinden ihre Geisterglieder,
Schwimmen langsam mit dem Nebel,
Der dem Grünen nun entsteiget,
Aufgelöst in eins zusammen.

Fest gezeichnet, scharf umrissen,
Sicher des bestimmten Daseins,
Steht die freie Tagwelt wieder
In des Südens herrlich goldner
[115] Abendsonne. Dann entflammt sich
Aus dem Gold ein feierlicher
Hocherglühter Purpurmantel,
Legt sich wallend auf die Ebne,
Auf die Nähe, auf die Ferne
Der Sabiner, der Albaner
Berge, Romas alter Wiege.
Fernher tönet noch das Jauchzen,
Das „Eh viva, Italia viva!“
Fernher schmettern noch die Klänge
Der entschloßnen Marschesweise
In die abendlichen Lüfte.



[182]

Mitte.

Nach Florenz mit schwerer Seele
Zog Vittor Emanuele:
Schicksal ruft in großen Bahnen,
Neigung hängt am Sitz der Ahnen.
Kaum verschmerzt – : zum Tiberstrom!
Heißt die Losung, auf nach Rom!

Nord und Süd, und Süd und Nord –
Breite Kluft von Hier zu Dort!
Leichter eint sich Art und Sitte,
Steht die Mitte in der Mitte,
Leichter wölbte sich der Dom,
Läg’ am Maine unser Rom.



Quelle:
Vischer, Friedrich Theodor: Dichterische Werke. Dritter Band. Lyrische Gänge. Leipzig: Verlag der Weißen Bücher 1917.

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[213]

Italienisch.

O wie hör’ ich sie gern, Italiens reinere Sprache,
Wenn sie mit hellem Vokal tönt aus dem trüben Gewelsch!
[214] Was ihr auch sündigen mögt, ihr Kinder des sonnigen Landes,
Habt ihr doch immer Styl, bleibt ihr doch immer naiv.
Winterlich, wie wir Deutschen es sind, so zieht ein gesunder
Und gerader Kontrast reizend uns immer zu euch.
Eifersucht verwickelt uns schief mit Franken und Briten,
Ehrlich lieben wir euch mitten im Schelten und Kampf.



Quelle:
Vischer, Friedrich Theodor: Dichterische Werke. Fünfter Band. Allotria. Leipzig: Verlag der Weißen Bücher 1917.

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