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Goethe, Schiller und die Goethezeit auf Google+

Goethes Italienische Reise, Rom

Italiengedichte der Goethezeit
Von Gunter E. Grimm

 

Lange Jahre nach seiner Rückkehr von der italienischen Reise bekannte Goethe, er könne sagen, nur in Rom habe er empfunden, „was eigentlich ein Mensch sei“. Und er fuhr fort: „Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen; ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh geworden.“ (1)

Was Goethe hier, rund dreißig Jahre danach, seinem Adlatus Eckermann verriet, ist einigermaßen typisch für viele deutsche Italienfahrer früherer Epochen.

 

 

Deutsche Italienreisen vom Mittelalter bis Goethe

Für die Pilger des Mittelalters besaß Rom ausschließlich religiöse Bedeutung, als Sitz von Christi Nachfolger. Politisch spielte Rom als obligatorischer Ort für Kaiserkrönungen seine unheilvolle Rolle. Dann galt Italien jahrhundertelang als das Eldorado der Kunst und der Archäologie, ehe die physischen Motive der Badelust und des Wärmetankens die ästhetisch-antiquarischen Interessen verdrängten. Italien – ein Mythos für Reisende seit jeher, von der Renaissance bis ins frühe 20. Jahrhundert. Es versteht sich, dass die Motive einer Italienfahrt von den Reisenden selbst abhängig waren: Künstler reisten, um von den italienischen Bildhauern und Malern zu lernen: von Leonardo, von Michelangelo, von Raffael und von Tizian. Aber die meisten Reisenden verfolgten andere Zwecke: die adeligen Jungherren absolvierten ihre europäische Kavalierstour, und ein Teil davon war dem Inspizieren römischer Altertümer und venezianischer Gegenwart gewidmet. Ein Tross gelehrter und halbgelehrter Herren begleitete sie auf dieser Tour und versuchte ihnen, die italienischen Köstlichkeiten schmackhaft zu machen. Ein dritter Haufe waren die Gelehrten selbst, die nach Italien zogen, um in den Museen, Archiven und Bibliotheken antike Weisheit aus den Originalquellen zu schöpfen. Die Auseinandersetzung mit der Renaissance beschränkte sich indes nicht auf die wiederentdeckte Antike; auch die zeitgenössischen Künstler und Dichter beschäftigten die deutschen Italienfahrer.

Aber Dichter waren es, die dieser glühenden und geradezu existentiellen Sehnsucht Stimme und Ausdruck verliehen haben. In der Frühzeit sind die Gedichte rar, und selbst in der Barockepoche, in der die Quantität poetischer Zeugnisse ein wenig zunimmt, gleichen die einschlägigen Gedichte doch eher Kuriositätenkabinetten. Von einem spezifischen Italienerlebnis kann hier guten Gewissens noch nicht gesprochen werden. Diese Interessenlage änderte sich schlagartig mit dem Auftreten Winckelmanns. Er vermittelte dem Reisenden ein neues Sehen: die üblichen Raritäten, die Kabinette, Kirchen und Katakomben, ließ er links liegen und lenkte den Blick auf die antike Kunst. Aus dem Eldorado verschrobener Gelehrter wurde das gelobte Land für Ästheten. Da es viel schwerer war, in das unter osmanischer Herrschaft stehende Griechenland zu gelangen, avancierte Italien zum Zentrum, wo der Kunstfreund seine heiligen Reliquien fand und noch in der Gegenwart Reste antiker Schönheit erblickte. Die Reisenden erlebten Italien nicht ausschließlich der äußeren Reize wegen; eigentliches Ziel war die Bildung ihres Selbst – Ausbildung des Kunstverstandes, Intensivierung des Fühlens, Distanzierung von den Alltagssorgen und Erhöhung des eigenen Lebens; alles Aspekte einer Konfession, deren geläufiges Etikett „Wiedergeburt“ hieß. Ein poetischer Nachhall dieser Antikenbegeisterung findet sich in Wilhelm Heinses Roman „Ardinghello“. Doch für die lyrische Sprache hat erst Goethes Italienerlebnis die Bahn gebrochen. In der Tat beginnt mit Goethes Gedichten die eigentliche Tradition deutscher Italienlyrik. Alles was vor dieser Zeit über Italien gedichtet wurde, verdient allenfalls den Rang eines Präludiums, eben weil Italien hier nicht als Erlebnis sui generis, als modernes Bildungserlebnis fungiert.

Im 19. Jahrhundert gehört es dann zum guten Ton auch bürgerlicher Kreise, einmal im Leben eine größere Italienreise gemacht zu haben. Nun allerdings nicht mehr im Gefolge adeliger Herren, sondern auf den Spuren Goethes. Dies gilt keineswegs nur für die dichtenden Zeitgenossen selbst, dies gilt für alle gebildeten Deutschen! Goethe hat wie kein zweiter Maßstäbe für das Erleben Italiens gesetzt, Maßstäbe, die jeder Italienreisende von geistigem Rang für sich reklamierte und in deren Umsetzung er versuchte – oft auf fast skurril anmutende Art –, Goethes Erleben nachzuempfinden, es für seine eigene Person nachzuerleben, zu wiederholen, ohne Rücksicht auf die veränderten Zeitumstände. Zumal bei Schriftstellern lag die Orientierung an Goethe nahe. Fast das ganze 19. Jahrhundert gab er das Leitbild ab, dem man nachstrebte oder gegenüber dem man sich abgrenzte. Er lieferte gewissermaßen die Worte und Bilder, um das Italienerlebnis künstlerisch angemessen verarbeiten zu können.

Und dies, obwohl sich das „Objekt Italien“ selbst von der Goethezeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gehörig verändert hat. Man muss nur einmal einen historischen Atlas aufschlagen. Im späten achtzehnten Jahrhundert gliederte sich Italien in neun größere Territorien: das Königreich beider Sizilien, das Süditalien und Sizilien umfasste, den Kirchenstaat, das Großherzogtum Toskana (Florenz), die Herzogtümer Mailand, Mantua, Parma und Modena, die beiden Stadtrepubliken Genua und Venedig und schließlich das Fürstentum Piemont, zu dem seit 1720 das Königreich Sardinien gehörte. Die auf dem Wiener Kongress von 1815 getroffene Neuordnung Italiens kannte dagegen nur noch sechs selbständige Staaten: das Königreich beider Sizilien, den Kirchenstaat, das Großherzogtum Toskana, die drei Herzogtümer Parma, Modena und Lucca, sowie das Königreich Piemont, das jetzt Königreich Sardinien hieß. Mailand und Mantua wurden wie auch Venedig vom Kaiserreich Österreich annektiert, Genua kam an Sardinien-Piemont.

Erst das Jahr 1861 brachte, unter der Führung Piemonts, Italien die Einigung; 1866 fiel auch Venetien an das neue Königreich. Dass der Italienreisende früherer Jahrhunderte durch eine Reihe von Staaten reisen musste, ist heute kaum noch bekannt. Welche Schwierigkeiten es beim Grenzübertritt oft gab, und welche gewaltigen Unterschiede zwischen den Teilstaaten herrschten, hat Johann Gottfried Seume in seinem kritischen Italienbuch „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1801“ mit erbittertem Engagement festgehalten. Derlei beschwerlichen Behinderungen vermochten manchem Reisenden schon im Vorfeld die reine Freude an „Italiens holden Auen“ zu verleiden. Und selbstverständlich haben diese Erfahrungen bei den Schriftstellern auch literarisch ihren Niederschlag gefunden.
Wilhelm Waetzoldt hat in seiner Studie „Das klassische Land“ die deutsch-italienische Begegnung unter den drei idealtypischen Aspekten des Stoffes, des Geistes und der Form betrachtet. (3) Das stoffliche Interesse an Italien bezieht sich auf Geschichte, auf Naturschönheiten und auf das Kennenlernen der Zeitgenossen; das geistige Interesse fragt nach den Kultureinflüssen, nach den prägenden Künstlern, nach dem Papsttum als italienischer Form der Gottesverehrung und schließlich nach der Wissenschaft; das formale Interesse fragt nach dem Modus der Darstellung, in Bildender Kunst oder im Film, in Literatur oder in der Musik. Mag diese Einteilung auch etwas schematisch sein, so gibt sie beim Gang durch die Epochen der Italiendichtung immerhin einige hilfreiche Hinweise und Winke.

 

 

Goethes Erfindung deutscher Italienlyrik

Italien im Spiegel der deutschen Lyrik: seit Goethe vermittelt sie ein so vielfältiges Bild der Wahrnehmung und des Erlebens, vielfältiger etwa als die deutsche Erzählung oder das deutsche Drama. Man kann geradezu von lyrischen Paradigmen deutscher Italienwahrnehmung sprechen. Die deutsche Italienlyrik lässt sich durchaus in Epochen mit eigengeartetem Charakter einteilen, und sie gehorchen ihren eigenen Gesetzen, folgen nicht etwa den politischen Abgrenzungen. Konstituiert wird eine solche „Epoche“ ebenso durch inhaltlich-gehaltliche Momente wie durch formal-ikonographische. Die Barockepoche besitzt einen unverwechselbaren Formen- und Bilderkodex, dem alle Gedichte dieser Zeit verpflichtet sind. Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus Gedicht mit dem Titel „Die allgemeine Vergänglichkeit“ ist kein Hymnus auf die Herrlichkeit Roms. Die stolzen Bauwerke Roms dienen nur als Exemplum für die alles zerstörende Macht der Zeit, als besonders eindrucksvoller Beleg für die Wahrheit der Devise „vanitas vanitatum vanitas“, die sonst eher das Leitmotiv von Andreas Gryphius’ Dichten ist.

Es hat / was dazumahl auf ewig war gebauet //
Der Zeiten Zahn zermalmt / der Jahre Rest verzehrt.

 

Gegenüber dieser etwas trübsinnigen Betrachtungsweise, die sich der vorgeprägten Sinn- und Bildmotive, der Embleme und der Topoi, bedient und sie in schwergewichtigen Alexandrinern auffährt, bedeutet die italienische Dichtung eines Goethe fast so etwas wie eine kopernikanische Wendung. Jetzt heißt die oberste Maxime nicht mehr „Memento mori“, sondern „carpe diem“, und der Dichter malt die Freuden des Diesseits in hellen und üppigen Farben. Gewiss liegt vor Goethe eine bedeutungsvolle Entwicklung, die heitere und lebensbejahende Anakreontik, die empfindungsvolle Lyrik der Haindichter und schließlich die kraftvolle Hymnik der „Stürmer und Dränger“, deren bedeutendster Vertreter Goethe schließlich selber wurde. Alle diese Stationen sind in seine römische Dichtung eingegangen. Dazu kommt der ästhetische Einfluss Winckelmanns, der sich vor allem in der lyrischen Form kundtut. Goethe dichtet nun keine freien Rhythmen mehr, er bedient sich der klassischen Form des Distichons, das Hexameter und Pentameter geschwisterlich zusammenbindet – in deutscher Sprache oft gezwungen und holprig zu lesen, von Goethe jedoch souverän beherrscht. Im Unterschied zu dem trockenen Ludwig von Anhalt-Köthen, der die Bauwerke pedantisch auflistet und beschreibt, kommt es Goethe gar nicht aufs liebevolle Detail an; seine große lyrische Tat ist die Beseelung des Seelenlosen, die Vermenschlichung des Raritätenmuseums Rom: „Ja, es ist alles beseelt in deinen heiligen Mauern, / Ewige Roma“ . . Und dass es die Liebe ist, die solche Beseelung vollbringt, macht den noch heute nachvollziehbaren Reiz, die Lebendigkeit dieser antikisch nachempfundenen Lyrik aus. In der siebten Elegie greift Goethe den Gegensatz zwischen dem trüb-grauen Norden und dem glanzvoll-lebendigen Süden, ein Thema, das bis in die Gegenwart immer wieder die Dichter beflügelt hat. Mignons Lied „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“ gar ist schon längst zum geflügelten Wort avanciert, dessen sich die Anthologisten mit Vorliebe bedienen. Das Gedicht enthält eine Reihe von Vorstellungen, die der Freund des Südens fast automatisch mit Italien verbindet: die erste Strophe bedichtet die exotisch-üppige Vegetation mit ihren Zitronen und Orangen, ihren malerischen Myrten- und Lorbeerbüschen, die zweite Strophe erinnert an die antike oder der Antike nacheifernde Baukunst („Marmorbilder“). Die dritte Strophe schließlich gibt ein paar Eindrücke von der zerklüfteten Berglandschaft mit ihren Wasserfällen und steilen Maultierpfaden. Wie Goethe mit seinen „Römischen Elegien“ der künftigen Romdichtung den Weg gewiesen hat, so steht dieses Lied am Beginn romantischer Italienlyrik. Freilich bleibt das „Mignon“-Gedicht auch in Goethes Oeuvre vereinzelt. Die übrigen Italien-Gedichte sind Epigramme, also ebenfalls im Distichenmaß gehaltenen Kurzgedichte mit pointierter Aussage.

Gewiss lässt sich die Italienlyrik nicht von allgemeinen literarischen Trends abkoppeln. Während ihre Formen im Rahmen des Zeitüblichen bleiben, entwickelt sie vor allem in der Bildersprache ihre Besonderheiten. Es erscheint aber sinnvoller, statt abstrakter Nomenklaturen und leerer Definitionen am Beispiel einiger wichtiger und repräsentativer Autoren zu skizzieren, welche Motive sie in den Süden trieben, wie sie Italien erlebten und wie sie es dichterisch gestalteten.

 

 

Italienlyrik der Romantiker und Klassizisten

Auch die Romantiker besangen Italien. Freilich viele kannten es nicht aus eigener Anschauung, so Joseph von Eichendorff, E.T.A. Hoffmann und sogar Jean Paul. Ihnen bedeutete die antike Kunst weniger als den Klassizisten, sie interessierten sich mehr für das christliche Mittelalter und für altitalienische Malerei. Italien galt ihnen als Ort traumhaft freien Schweifens, als Freiraum für abenteuerliche Ungebundenheit, als Stätte eines ewigen Konfliktes zwischen heidnisch-dämonischer Verlockung und christlich-ethischer Weltabsage. Rom bildete für Klassizisten und Romantiker das natürliche Zentrum: Kapitale der heidnisch-antiken Welt und Metropole des Christentums. Rom zog die deutschen Künstler fast magisch an: Die Nazarener, die sich an Raffael, Perugino und Dürer orientierten, schlugen 1810 im ehemaligen Kloster San Isidoro ihr Domizil auf. 

Die Klassizisten und die Romantiker reisten nicht aus politischen, sondern aus ästhetischen Motiven nach Italien. Dies änderte sich nach der Niederlage Napoleons schlagartig. Autoren wie Heine und Grillparzer hatten dezidiert politische Absichten und behielten die soziale Gegenwart ständig im Blick, wobei Italien als Gegenbild zu deutscher Borniertheit fungierte. Die vielgerühmte Freiheit zog gerade die „Aussteiger“ an, die der deutschen Misere angewidert den Rücken wandten: der sich unverstanden fühlende Graf August von Platen, der verkrachte Stiftler Wilhelm Waiblinger und der von deutscher Zensur gepiesackte und die Emanzipation von allen politischen Zwängen herbeisehnende Journalist Heinrich Heine. Er und Grillparzer verklärten Italien gerade nicht; für Heine stand die ganze Reise unter dem Zeichen der Emanzipation, die ganz Europa von allen überkommenen Zwänge bitter nötig hatte, und Grillparzer machte kein Hehl aus seiner kritischen Einstellung gegenüber dem in Italien alle Reformen verhindernden Papsttum. Anders als ihre Vorgänger wählten die modernen Reisenden individuelle Routen, abseits der großen Kunststraße. Historische Denkmäler spielten bei ihnen keine große Rolle mehr. Neugier und Interesse an fremder Kultur dominierten, zuweilen bemühten sich die Reisenden sogar um Integration in die italienische Gesellschaft.

Ein Nachhall der Kunstbegeisterung der Klassik war auch Jacob Burckhardts Apotheose der Kunst; nur dass bei ihm die Renaissance gleichwertig an die Seite der Antike trat, und mit Florenz eine dritte italienische Stadt nach Rom und Venedig ins Blickfeld rückte. Mit der Verlagerung der Interessen von der politischen Gegenwart in die ästhetische Vergangenheit hing auch der Erfolg historisierender Literatur zusammen. Die literarische Apotheose der Renaissance findet sich im Werk Conrad Ferdinand Meyers, und nicht von ungefähr sind es nicht mehr die Landschaften und die Städte, sondern die großen Gestalten eines Dante, Michelangelo und Raffael, die seine Gedichte bevölkern. Doch griff der Historismus auch über die Renaissance zurück auf das Mittelalter Italiens. Man entdeckte nach der Renaissance auch das Mittelalter als eine große Epoche; Ferdinand Gregorovius wurde zum Chronisten des mittelalterlichen Rom. (2)

August Graf von Platen war ein unglücklicher Mann: als Dichter wenig erfolgreich, als Mensch durch seine homoerotische Veranlagung zum Außenseiter abgestempelt. Da ihm weder das Militär noch die Juristerei zusagte, studierte er Sprachen und strebte die unabhängige Existenz eines freien Schriftstellers an nach der Devise „Lieber betteln als meine Individualität opfern.“ Erstmals reiste er 1824 nach Venedig, seit 1826 hielt er sich, durch eine Pension des bayerischen Königs Ludwig I. abgesichert, mit Vorliebe in Venedig und Neapel auf; in Rom lebte er sich langsamer ein. Er durchquerte Italien mit fanatischer Unermüdlichkeit, wobei Fußmärsche von 50 bis 60 km am Tag keine  Seltenheit waren. Platen versucht in seinen Gedichten, ausländische Formen ins Deutsche einzubürgern, das romanische Sonett, die antike Ode und das orientalische Ghasel. Vergleicht man indes seine antikischen Oden mit denen Klopstocks und Hölderlins, so fällt die artistisch-metrische Beherrschung zwar ins Auge – Platen setzte seinen oft kompliziert gebauten Oden das metrische Schema voran –, doch haftet vielen seiner Produkte etwas manieriert Erzwungenes an. Die Sätze wirken wie in einen Schraubstock eingespannt, Natürlichkeit und Spontaneität gibt es in diesen kalkulierten Gebilden nicht. Platen verstand die Dichtung als Wettkampf, in dem er angespannt um den poetischen Lorbeer rang. Von seinen frühen skurrilen Auftritten in Erlangen, wo er mit einem lorbeerumwundenen Hut durch die Straßen wandelte, bis zu seiner mehrfach bekundeten Selbsteinschätzung, wonach ihm der Platz neben Goethe gebühre, führt ein konsequenter Weg. Dabei wirkte der Graf alles andere als majestätisch. „Graf Platen ist ein kleiner, verschrumpfter, goldbebrillter, heiserer Greis von fünfunddreißig Jahren; er hat mir Furcht gemacht. Die Griechen sahen anders aus! Er schimpft auf die Deutschen gräßlich, vergißt aber, dass er es auf Deutsch tut.“ (5)
So das wenig schmeichelhafte Porträt, das der Komponist Felix Mendelssohn gezeichnet hat. Platens Sonette stehen bei Metrikern hoch im Kurs; und eben dies ist ihre Schwäche. Ihre syntaktische Regelmäßigkeit und ihre pedantische Erfüllung der Elfsilbigkeit lassen sie glatt und eintönig und, schlimmer noch, gezwungen wirken. Dennoch gibt es darunter eine Reihe gelungener Gebilde, auch wenn der Zyklus der Venedig-Sonette nicht das Nonplusultra deutscher Sonettkunst darstellt. Während in den Sonetten der elegische Ton dominiert, prägt die Oden ein hymnischer, aufs Preisen ausgerichteter Duktus. Mit ihren Anspielungen auf antike Mythologie und auf persönliche Erlebnisse erlauben sie kein unmittelbares Verständnis. Anschaulich dagegen sind die überwiegend im Hexameter verfassten Eklogen und Idyllen mit ihrer Schilderung malerischer Landschaften oder burlesker Volksszenen. Nicht vergessen werden darf Platens politisches Engagement als Verfechter republikanischer Werte. Zweifellos hat die Italiendichtung Platens Schule gemacht; Formstrenge in Metrum und Reim sind sein Erbe, das die spätere Münchner Schule um Geibel und Heyse nachdrücklich gepflegt hat.
Unmittelbar hat Platens Formkult seinen Zeit- und Leidensgenossen Wilhelm Waiblinger beeinflusst. Waiblinger, das Enfant terrible unter den Tübinger Stiftlern, hatte nie die Absicht, aus dem Theologiestudium einen Brotberuf zu machen. Für ihn, der sich für ein Genie hielt, stand von Anfang an fest, Schriftsteller zu werden. Nach einer unglücklich verlaufenen Liebesaffäre verließ er Deutschland für immer und zog, im Alter von 21 Jahren, nach Rom, wo er oft kaum das Nötigste für den täglichen Bedarf besaß. August von Platen hat ihn hin und wieder finanziell unterstützt. Mit verschiedenen journalistischen Arbeiten sicherte er sich ein bescheidenes Einkommen und plante bereits eine Karriere als freier Schriftsteller in Berlin. Dazu sollte es nicht kommen, denn bereits am 17. Januar 1830 erlag er der Schwindsucht. Waiblinger verstand sich jedoch nicht als Journalist, sondern strebte immer nach dem Lorbeer des Dichters. Hölderlin und Platen sind die Penaten seiner lyrischen Produktion; allerdings hat der letztere wenig freundlich über das verlotterte Genie geurteilt: „Waiblinger hat viel Talent, aber vielleicht nicht genug, um eine Existenz darauf zu gründen. Der Aufenthalt in Italien ist ihm in vieler Hinsicht schädlich. Seine Gedichte werden um nichts besser, wenn auch in jedem das Pantheon, das Kolosseum und das Forum Romanum vorkommt, was alles bei ihm nur Phrasen sind. Ein eigentlich tiefes Naturell hat er nicht, aber es kann ein potenzierter Kotzebue aus ihm werden, der auf dem Theater viel Glück macht.“ (6) Platens scharfe Charakteristik, die vielleicht nicht frei ist von Kollegenmissgunst, enthält allerdings ein Korn Wahrheit: tatsächlich sind die meisten der in Rom entstandenen Gedichte mit antikem Bildungsgut überfrachtet oder mit Italianismen gespickt – ein klein wenig wollte der Deutschlandflüchtling vor seinen Landsleuten doch renommieren. Viele seiner Oden sind nichts anderes als versifizierte Prosa, die metrumbedingten Gewaltsamkeiten wie andauerndes Apostrophieren oder Elidieren deuten das Aufgepfropfte dieser Kunstübung an. Erst in den späten Oden gelingen ihm dichterische, den Oden Platens ebenbürtige Verse. Zum Besten gehören seine „Bilder aus Neapel“ und die „Sizilianischen Lieder“, beides Zyklen in Distichon-Form, deren Buntheit und Anschaulichkeit darauf hinweisen, dass Waiblingers eigentliche Stärke im Journalismus lag, im Abschildern und im Beschreiben, nicht aber in philosophischen Höhenflügen. Der offene, von Vorurteilen freie Blick erlaubt ihm, italienisches Volksleben authentisch wiederzugeben; wie kein zweiter deutscher Schriftsteller kennt er sich in den weniger gut situierten Schichten aus. Deren Beschreibung ist erlebt, der antikische „Überbau“ ist angelesen und Hölderlin nachempfunden.
Platen und Waiblinger sind Klassizisten. Und doch findet sich in beider Werk nicht nur Bildungsgut. Während Waiblinger sich vornehmlich der Schilderung italienischer Gegenwart widmet, finden sich bei Platen neben den Szenen aus dem Volksleben auch engagierte politische Stellungnahmen, gegen Unterdrückung durch weltliches und kirchliches Regiment.

Was frommt es, dass so liebevoll dich ausgeschmückt Natur?
Du bist für deine Söhne selbst ein dumpfer Kerker nur!
Begeisterung und Wissenschaft bedrückt der schwerste Bann,
Und wer noch nicht in Ketten liegt, der ist ein feiger Mann! (7)

 

 

Italienlyrik im Vormärz

Eben dieser Appell an die Freiheit, dieser Kampf gegen erstarrte Institutionen und versklavende Hierarchien ist für Franz Grillparzers wenige Italiengedichte symptomatisch. Es ist das Zeitalter der Restauration, das in den besseren Geistern Widerstand und Aufruhr erweckte. Zeitlich liegt Grillparzers Italienreise vor den Italienfahrten Platens und Waiblingers. Doch der Duktus seiner Gedichte und Aufzeichnungen ist so eindeutig gesellschafts- und herrschaftskritisch, dass sie unbedingt als Reflex auf die politisch verfestigte Situation zu deuten sind, anders als die auf Zeitlosigkeit angelegte Italienpanegyrik Platens und Waiblingers. Auch Grillparzer reist nach Italien, um nördliche Defizite zu kompensieren. Unmittelbarer Anlass war der Selbstmord der Mutter, ein umso härterer Schlag für Grillparzer, da zwei Jahre zuvor, 1817, auch sein jüngster Bruder seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Die Reise wurde ihm von den Ärzten geradezu verordnet, um ihn auf hellere Gedanken zu bringen: die Reise in den Süden als Therapie. In Begleitung eines Grafen und zu halbem Preis begann im März 1819 die Italienfahrt, übrigens Grillparzers erste Reise außerhalb Österreichs. Seine ersten Eindrücke von Venedig fielen vielleicht auch wegen der negativen Voreinstellung deprimierend aus: „Der erste Eindruck, den Venedig auf mich machte, war befremdend, einengend. unangenehm. Diese morastigen Lagunen, diese stinkenden Kanäle, der Schmutz und das Geschrei des unverschämten, betrügerischen Volkes geben einen verdrießlichen Kontrast mit dem kaum verlassenen, heitern Triest.“ (8)

Erst auf den zweiten Blick entdeckte er die Schönheiten der Stadt, deren Herrlichkeiten ihn zunehmend fesselten. Während er immer mehr gesundete – ein äußeres Zeichen dafür ist sein offener Blick für weibliche Schönheit – , erfasste ihn in Rom selbst der Weltschmerz, der Gedanke an Vergänglichkeit und Untergang. Dem Tagebuch vertraute er an: „So verlaß ich dich denn vielleicht auf immer, du stolze Weltgebieterin, zu der es mich von meiner Kindheit mit so magischem Zuge hertrieb, das ich mir so überirdisch herrlich ausgemalt hatte, dass ich jetzt, da die Wirklichkeit mich abgekühlt, kaum noch das Phantasiebild in der Erinnerung hervorrufen kann, das mich lockend umschwebte. Nicht als ob ich Rom nicht bewunderungswürdig gefunden hätte, aber wann hat die Wirklichkeit gehalten, was die Phantasie versprochen?“ (9) Grillparzer, als gläubiger Katholik, war zunächst von der Pontifikalmesse sehr beeindruckt; aber bald schon kam ihm das ganze Schaugepräng wie „leeres Possenspiel“ vor. (10) Der Papst erschien ihm nicht als Servus servorum, doch als „Götze“, die Zeremonien kamen ihm übertrieben und unangemessen vor: „Hätte ich die hündische Art gekannt, wie der Fußkuß geschieht, ich wäre weggeblieben. Man muß sich dazu, da der schwache Alte den Fuß nicht heben kann, fast auf den Bauch niederlegen.“ (11)

Italien erfüllte die hochgespannten Erwartungen, die das Gedicht „Kennst du das Land?“ spiegelt, nicht; im Gegenteil, die Kritik am Wahrgenommenen überwog das Genießen. Auch im Nachhinein brachte die Reise nur Ärger. Anlass gab Grillparzers Gedicht „Campo vaccino“, durch das Kirche, Adel und Kaiserhaus sich verhöhnt glaubten. Der Vorwurf, den man Grillparzer machte, bezog sich auf seine einseitige, aber den Historikern geläufige Interpretation Konstantins als eines Heuchlers, der das heidnisch-antike Rom zerstört habe. Auch wenn die Antikenbegeisterung hinter Grillparzers kritischer Geschichtsbetrachtung stand, von weitaus größerer Bedeutung war doch die unmittelbare Kritik an der gegenwärtigen Situation Italiens, für die er die Institution Kirche verantwortlich machte. Italien war in einen Zustand der kulturellen und politischen Erstarrung geraten. Von der „riesigen Vergangenheit“ spürt er in der Gegenwart keinen Hauch mehr: „Flach“ geht, „auf flachem Boden“, „die neue, flache Zeit“ dahin…

Zeitkritik schiebt sich auch in den Gedichten der Schriftsteller des Vormärz in den Vordergrund: Kritik an den politischen und sozialen Zuständen Italiens und Kritik an der durch Goethe geprägten Italienverherrlichung. Die sämtlich 1844 entstandenen Gedichte August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens sind dafür ein beredter Beleg. Die Kritik am Papsttum bildet ein zentrales Motiv seiner Italiendichtung. In dem Gedicht „Römisches Helldunkel“ wettert er:

Wenn ich die vielen Pfaffen sehe
Zu Rom in ihrer schwarzen Tracht,
Dann wird’s am hellen, lichten Tage
Vor meinen Augen dunkle Nacht.

Erst beim Ave-Maria-Läuten,
Wenn heim die Pfaffen ziehn ins Nest,
Dann ist es mir zu Rom geworden,
Als ob der Tag sich blicken läßt.

 

Seine Angriffe beschränken sich jedoch nicht auf die Kirche; Italien gilt ihm als „Land des Stillstands, der Erhaltung“, als Inbegriff der Restauration, „ohne Fortschritt, ohn’ Entwicklung“, in dem „alles bleibet, was es war“. Das noch zu Rom verfasste Gedicht „Addio“ bringt den Gegensatz zwischen antiker Größe und gegenwärtigem Niedergang in einprägsame Verse; nicht weniger scharf opponiert er in dem kurz darauf in Mailand gedichteten Epigramm „Vierfüßige Epigonen“:

O Land der Gegensätze!
Da stehn in Reih’ und Glied
Die marmornen Paläste,
Wie man sie nirgend sieht.

Und drinnen Spinngewebe
Und alter Staub und Schmutz;
Verwittert sind die Fenster,
Blind ist der Wände Putz.

Hin sind die alten Zeiten,
Und alles Leben wich;
Ein Kätzlein sitzt im Winkel
Und streicht das Pfötchen sich.

 

 

Trends zur Ästhetisierung und Historisierung

Solche Gegenwartskritik steht nicht vereinzelt. Anastasius Grün etwa beklagt Venedigs gesunkene Größe, Emanuel Geibel lässt sich von äußerem Flitter nicht täuschen: Italiens „Leib“ wurde „siech und elend“, die „alte Tugend“ ist gestorben, die Freiheit verloren und das einstige „Heldenvolk“ verdorben. Wenn die Dichter dennoch Italien preisen, so halten sie sich an die Kunst und an die Geschichte. Der Trend zur Ästhetisierung und zur Historisierung ist unverkennbar. Jacob Burckhardt, Ferdinand Gregorovius und Conrad Ferdinand Meyer sind dafür gewichtige Kronzeugen. Mit der Kehrtwendung in die Geschichte verändern sich auch die bedichteten Objekte. So ist es sicherlich kein Zufall, dass die großen Gestalten aus der italienischen Geschichte und Kunst das rege Interesse der Dichter finden. Dante, der exilierte Begründer italienischer Dichtung, wird zur Symbolgestalt in Gedichten Geibels, Schacks und Burckhardts. Die großen Renaissancekünstler Michelangelo, Raffael und Tizian, aber auch bedeutende historische Figuren wie Spartacus und Cola di Rienzo finden Eingang in die historisierende Dichtung. Eine Nationalisierungswelle schwemmt das Interesse an germanischer Kraft und mittelalterlicher Kaiserherrlichkeit empor; es verdichtet sich im tragischen Schicksal der Hohenstaufen; man beweint, reichlich verspätet, das traurige Ende Konradins; der Schweizer Heinrich Leuthold verfasst eine Ode „Gegen Rom“, die martialisch anhebt:

Einst am Felsen Petri zerschellte unsrer
Hohenstaufen Kraft und noch heut den deutschen
Kaiserpurpur schändet die ungesühnte
Schmach von Canossa. (12)

Hugo von Hofmannsthal hat in seiner Rezension der Gedichte Conrad Ferdinand Meyers über diese Lyrik, die ihre Gegenstände aus der Requisitenkammer der Historie hervorholt, ein hartes Verdikt gesprochen:
Ein starker Band, gegen vierhundert Seiten; zweihundertundsechzig Gedichte, darunter fast zweihundert von dieser Art; Ketzer, Gaukler, Mönche und Landsknechte, sterbende Borgias, Cromwells, Colignys; Medusen, Karyatiden, Bacchantinnen, Druiden, Purpurmäntel, Bahrtücher; Hochgerichte, Tempel, Klostergänge; zweizeilige Strophen, dreizeilige, vierzeilige, achtzeilige, zehnzeilige; heroische Landschaften mit und ohne Staffage; Anekdoten aus der Chronik zum lebenden Bild gestellt,  ?  Wämser und Harnische, aus denen Stimmen reden,  ?  welch eine beschwerende, fast peinliche Begegnung: das halbgestorbene Jahrhundert haucht uns an; die Welt des gebildeten, alles an sich raffenden Bürgers entfaltet ihre Schrecknisse; ein etwas, dem wir nicht völlig entflohen sind, nicht unversehrt entfliehen werden, umgibt uns mit gespenstischer Halblebendigkeit; wir sind eingeklemmt zwischen Tod und Leben, wie in einem üblen Traum, und möchten aufwachen. (13)

Hofmannsthals Bedenken gegen diese historisierende Dichtung teilen wir noch heute. Dennoch darf ihre Existenz in einem Abriss nicht totgeschwiegen werden. Freilich täte man C.F. Meyer Unrecht, wenn man ihn zum Hauptvertreter dieser Richtung abstempeln würde. Gewiss gestaltet er mit Vorliebe außergewöhnliche Situationen und bedichtet „große Männer“ vom Schlage eines Cesare Borgia. Doch Michelangelo, die zentrale Figur, ist kein kraftstrotzender Held, erst durch und im Leiden erringt er seine schöpferische Kraft. Von Meyer, der insgesamt dreimal Italien besucht hat  ?  1858 Rom, Florenz, Siena; 1866 Lugano und 1871 Venedig  ? , stammen einige der bedeutendsten Italiengedichte, „Auf dem Canal Grande“ und „Der römische Brunnen“ schon haben längst klassischen Rang gewonnen.

 

 

Italienlyrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Die Lyrik des ganzen 19. Jahrhunderts bleibt in formaler Hinsicht konservativ: antike Versmaße wechseln mit vierzeiligen Reimgedichten. Hin und wieder erklingt allerdings ein frischer Ton: in den Versen Joseph Victor von Scheffels und Christian Wagners.

Scheffel hat insgesamt viermal Italien bereist. Die literarisch ergiebigste dieser Reisen dauerte vom Mai 1852 bis zum Mai 1853. Enttäuscht vom Scheitern der 48er Revolution und obendrein seines Juristenalltags am Bruchsaler Hofgericht überdrüssig, mutet Scheffels Flucht in den Süden wie ein Nachklang von Goethes Italienfahrt an. Wie dieser wollte auch Scheffel das Malerhandwerk erlernen. Über Florenz und Pisa fuhr er nach Rom; dort nahm er im Malen und Zeichnen Unterricht und erwanderte mit den deutschen Malern die Albaner Berge. Ein Abstecher führte ihn nach Neapel, Capri und Sorrent. Ähnlich wie bei Goethe wuchsen auch Scheffels Zweifel an seiner Befähigung zum Maler, dagegen fühlte er sich immer mehr zum Schriftsteller berufen. In seinen „Römischen Episteln“ zeichnet er ein humorvolles Bild vom ausgelassenen Treiben deutscher Künstler. Scheffel verstand seine Italienfahrt als Ausbruch aus der philiströsen Enge Deutschlands. Nachdem er sich anfangs in Museen, Bibliotheken und Galerien vergraben hatte, wandte er sich schon bald dem Gegenwartsleben zu. Hier äußert sich ein „Geschichtsüberdruß“, der nicht untypisch für die zweite Jahrhunderthälfte ist, als Gegenbewegung nämlich zum Historismus. Scheffels Gedichte verfechten denn auch die Werte der Ungebundenheit und der Freiheit. Die Kehrseite dieser im studentisch-burschikosen Ton vorgetragenen Gedichte ist das literarische Vagantentum und der fröhliche Philisterspott. Auf Capri übrigens, wo Scheffel mit dem Dichterfreund Paul Heyse ein „insulanisches Stilleben“ führte (14), entstand innerhalb von sieben Wochen das Werk, das seinen späteren Ruhm begründet hat, „Der Trompeter von Säckingen“.

Scheffel ging in die Literaturgeschichte nicht als Dichter Italiens ein, wohl aber in gewisser Weise Paul Heyse, der in seinen zahlreiche Novellen Italien mit Vorliebe zum Schauplatz gewählt hat. Heyse hat Italien zeit seines Lebens bereist, er hat sich sogar in Gardone, am Gardasee, ein Haus errichtet, in dem er seit 1899 die Wintermonate verbrachte. Heyses Lyrik ist für den Geschmack des Bildungsbürgertums repräsentativ. Geschickt bedient er sich eines bewährten Formen-, Bilder- und Topoischatzes, der aus dem unerschöpflichen Fundus der Klassiker, der Romantiker und Heines stammt, ein Meister des Nachempfindens und der eleganten Form, doch ohne unverwechselbare Eigenart. Die besitzt in umso reicherem Maße sein unbekannter Dichterkollege, der schwäbische Bauer Christian Wagner, der kurz vor dem ersten Weltkrieg seine vom Verleger finanzierte Italienfahrt unternahm. Seine Gedichte, so ungefüg und biderb sie zuweilen anmuten, schöpfen aus einer reineren Quelle, als es die arrivierten Dichter des Bildungsbürgertums tun. Schlicht aber wahrhaftig, knorrig aber kräftig, so ließe sich seine urwüchsige, von fremdem Dichterwort unbeeinflusste Lyrik charakterisieren. Schließlich müssen noch die leidenschaftlichen Italiengedichte Friedrich Nietzsches erwähnt werden. In ihrer dynamischen Verve weisen sie auf die emotionsgeladenen Lyrismen des Expressionismus voraus.
                        
Nietzsche steht am Beginn der modernen Italiendichtung, die sich aus dem übermächtigen Schatten Goethes allmählich löste. Sein Einfluss reichte aber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Davon zeugen zahlreiche Gedichte, etwa von Isolde Kurz, Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse und Hans Carossa; Bezugnahmen auf ihn finden sich noch in der Italiendichtung der Gegenwart. Am Schluss dieser Sammlung stehen Gedichte von Stefan George. George verstand sich in seiner Jugend als Nietzsche-Anhänger und hat dessen herrschaftlichen Impetus in seiner gesamten Dichtung gepflegt. Mit reiferen Jahren jedoch wusste George sich auch dem Geist Goethes verpflichtet. Davon zeugt sein großes Reflexionsgedicht „Goethes lezte Nacht in Italien“, das den Bogen zurück schlägt zum Begründer der deutschen Italienlyrik. Damit schließt die eigentliche ‚Goethezeit’ – die Phase, deren unangefochtenes poetisches Leitbild Goethe war.

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Anmerkungen

(1) Gespräch mit Eckermann vom 9. Oktober 1828.
(2) Ferdinand Gregorovius: Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. 8 Bände. Stuttgart 1859-1872.
(3) Wilhelm Waetzoldt: Das klassische Land. Wandlungen der Italiensehnsucht. Leipzig 1927.
(4) Christiane Schenk: Venedig im Spiegel der Décadence-Literatur des Fin de siècle. Frankfurt am Main, Bern, New York 1987.
(5) Reisebriefe aus den Jahren 1830 bis 1832 von Felix Mendelssohn Bartholdy.  Band 1. Leipzig 1864, S. 172.
(6) Karl Frey: Wilhelm Waiblinger. Sein Leben und seine Werke. Diss. Aarau 1903. S. 204.
(7) August von Platen: Italien im Frühling 1831. In: August Graf von Platens sämtliche Werke in zwölf Bänden. Historisch-kritische Ausgabe mit Einschluss des handschriftlichen Nachlasses. Hrsg. von Max Koch und Erich Petzet. Zweiter Band. Gedichte. Erster Teil. Leipzig o.J. S. 210.
(8) Franz Grillparzer: Werke in vier Bänden. Hrsg. von Friedrich Schreyvogel. Bd. 1. München 1984, S. 351.
(9) Ebd., S. 386.
(10) Ebd., S. 385.
(11) Ebd., S. 385ff.
(12) Heinrich Leutholds Gedichte. Nach den Handschriften wiederhergestellt. Leipzig 1910. S. 160.
(13) Hugo von Hofmannsthal: C.F. Meyers Gedichte. In: Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze III 1925-1929. Frankfurt am Main 1980. S. 61f.
(14) Scheffel in Italien. Briefe an das Elternhaus 1852-1853. Hrsg. von Wilhelm Zentner. Karlsruhe 1929. S. 85.

 

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