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Goethe, Schiller und die Goethezeit auf Google+

Goethes Italienische Reise, Rom

Gunter E. Grimm

Einleitendes zur Italienwahrnehmung

Deutsche Schriftsteller in Rom

Stand: April 2007

 

Noch lange Jahre nach seiner Rückkehr von der italienischen Reise bekannte Goethe, er könne sagen, nur in Rom habe er empfunden, „was eigentlich ein Mensch sei“. Und er fuhr fort:

 Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen; ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh geworden.

 

Was Goethe hier, rund dreißig Jahre danach, seinem Adlatus Eckermann gestand, ist freilich eine Erfahrung, die an eine bestimmte Epoche und eine individuelle Verfasstheit gebunden war und sich nicht beliebig wiederholen ließ. Gleichwohl: Rom galt Jahrhunderte lang als Inbegriff weltlicher und christlicher Geschichte, als Caput mundi, als Ewige Stadt, als Kosmos im kleinen. Wer immer nach Italien reiste, der mußte der Hauptstadt der Welt den obligatorischen Besuch abstatten - von den Pilgern bis zu den Kavalieren, von den Künstlern bis zu den Dichtern und dem Troß der Wissenschaftler.

 

Paradigmen der Italien-Reisen

Romreisen lassen sich in unterschiedliche historische Typen einteilen:

 

Mittelalter Pilgerreisen   Seelenheil
16./17./18. JahrhundertGelehrte Reisen  Antiquitäten und Bibliotheken 
16./17. Jahrhundert Grand Tour, Kavaliersreisen Weltkenntnis
2. Hälfte des 18. Jahrhundert Kunst-Reisen (Winckelmann)
Empfindsame Reisen 
Ästhetischer Genuss
Subjektive Spiegelungen
 
19. Jahrhundert - Idealistische „Bildungsreisen“
(auf Goethes Spuren)
- Romantische Reisen
- „Empirische“ Reisen
 
Selbst-Findung
Kunst- und Naturschwärmerei,
Volksleben
Entdeckung der sozialen und
politischen Gegenwart;
Kritik an Gesellschaft und Kirche
20. Jahrhundert
 
Moderner Massen-TourismusErholung, Sightseeing

 

 

 

Für die Pilger des Mittelalters besaß Rom ausschließlich religiöse Bedeutung, als Sitz von Christi Nachfolger. Politisch spielte Rom als obligatorischer Ort für Kaiserkrönungen seine unheilvolle Rolle.

Während Kreuzfahrer und Pilger, die im ganzen Mittelalter nach Rom zogen, wenig von den Schönheiten des Landes oder von der antiken Kunst wahrnahmen, wandelt sich im 17. Jahrhundert die Motivation. Epochenüblich wurde die Kavalierstour, auf der ein jugendlicher Adeliger fremde Länder und Sitten kennenlernen sollte; welterfahren zurückgekehrt, trat er ein wohldotiertes Amt an. Die Kavaliere interessierten sich im allgemeinen für weltliche Angelegenheiten, für italienische Gesellschaft und Sprache, für sportliche Ereignisse, für erotische Erlebnisse und ein wenig für die römische Vergangenheit. Ihr Hauptaugenmerk richtete sich jedoch auf Kuriositäten: galt doch Italien als Raritätenkammer par excellence, als Eldorado mirakulöser Sehenswürdigkeiten.

In der Frühzeit begegnen Rom-Gedichte selten, und selbst in der Barockepoche, in der die Quantität poetischer Zeugnisse ein wenig zunimmt, gleichen die einschlägigen Gedichte doch eher Kuriositätenkabinetten. Von einem spezifischen Italienerlebnis kann hier guten Gewissens noch nicht gesprochen werden, auch wenn einige Reisende ihre Eindrücke festgehalten haben. So verfaßte etwa der Fürst Ludwig zu Anhalt-Köthen eine gereimte „Reisebeschreibung“. Seine Italienreise dauerte drei Jahre: von 1598 bis 1601, und er besichtigte Florenz und Rom, fuhr über Neapel sogar nach Malte und kam auf dem Rückweg über Palermo, Neapel und Venedig. Heimgekehrt, ließ er Schloß und Garten im „welschen“ Stil modernisieren. Der Fürst machte sich jedoch auch um die deutsche Literatur verdient. Nach dem berühmten Vorbild der Florentiner Accademia della Crusca gründete er 1617 in Weimar die „Fruchtbringende Gesellschaft“, die bald die bedeutendste deutsche Sprachgesellschaft wurde. Ein Beispiel aus seiner poetischen Reisebeschreibung, und zwar die akribische Beschreibung des Pantheon, das
damals ja noch eine christliche Kirche war:

Die runde Marjen Kirch erbauet ist gewesen
Im finstern Heidentum den Göttern, wie gelesen
In alten Büchern wird. Sie oben hat ein loch
Nauf in die luft gebaut, hat keine Seul und stütze:
Die solten drunter auch dar werden gar nichts nütze:
Der oben runde bau die kirche höchlich ziert,
Und kein unförmlichkeit an ihme wird gespürt.
Gleich im eingange stehn gar schön’ und ehrne Seulen,
Dran statlich arbeit ist, man hat sie müssen feilen
Zu schärfen ihren glanz, hier sich viel baukunst find,
Wie das gewölbe sich recht in ein ander bind.


Andreas Gryphius und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, die Rom in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts besuchten, betrachteten die Metropole als Exemplum für den Verfall irdischer Größe, als Sinnbild der Vanitas. Um so erstaunlicher, daß gerade der vergänglichkeitssüchtige Gryphius die bleibende Herrlichkeit der ewigen Stadt gefeiert hat.

Ade begriff der welt, Stadt, der nichts gleich gewesen,
und nichts zu gleichen hat, in der man alles sieht,
was zwischen Ost und West, und Nord und Süden blüht.
Was die Natur erdacht, was je ein Mensch gelesen.

Du / derer Aschen mannur nicht vorhin mit Bäsen
Auff einen Hauffen kährt / in der man sich bemüht
Zu suchen wo dein Grauß / (fliht trüben Jahre! fliht /)
Bist nach dem Fall erhöht / nach langem Asch / genäsen.

Ihr wunder der Gemäld, ihr prächtigen Paläst,
ob den die Kunst erstarrt, du stark bewehrte Fest,
Du herrlichs Vatican, dem man nichts gleich kann bauen,

Ihr Bücher, Gärten, Grüft, ihr Bilder, Nadeln, Stein,
Ihr, die dies und noch mehr schließt in die Sinnen ein,
Ade! man kann euch nicht satt mit zwei Augen schauen.

 

Die Melancholie, die hinter der barocken Todesmanie, dem Vergänglichkeitskult, steckte, wich im 18. Jahrhundert einem optimistischeren Lebensgefühl. Man wandte sich konkret dem Anschaubaren, dem Erfahrbaren zu.

Johann Caspar Goethe hat seine 1740 absolvierte Italienreise in fiktiven Briefen beschrieben; er liefert eine exakte Auflistung aller römischen Sehenswürdigkeiten, beschreibt akribisch alle Inschriften an Tempeln, Säulen und Kirchen und mischt unter die empirische Bestandserfassung Zitate von klassischen Autoritäten. So pedantisch sich dies alles liest, es liefert natürlich für den Historiker eine Fundgrube an Fakten und Details.

Eine Wende in der Wahrnehmung der Antike setzte mit dem Auftreten Johann Joachim Winckelmanns ein. Sein Werk „Geschichte der Kunst des Altertums“ von 1764 vermittelte dem Reisenden ein neues Sehen: die üblichen Raritäten, die Kabinette, Kirchen und Katakomben, ließ er links liegen und lenkt den Blick auf die antike Kunst. Aus dem Eldorado verschrobener Gelehrter wurde das gelobte Land für Ästheten. Da es viel schwerer war, in das unter osmanischer Herrschaft stehende Griechenland zu gelangen, wurde Italien und insbesondere Rom die Stätte, wo der Kunstfreund seine heiligen Reliquien fand und noch in der Gegenwart Reste antiker Schönheit erblickte. Das Schöne trat als neues Ideal neben die traditionellen religiösen und gelehrten Werte. Die „Nachahmung der antiken Kunst“ avancierte zum künstlerischen Leitprinzip. Winckelmann, der seit 1755 in Rom weilte, seit 1763 als päpstlicher Kommissar für alle Altertümer des Kirchenstaats, notierte bereits 1756 sein künstlerisch-weltanschauliches Credo:

Ich glaube, ich bin nach Rom gekommen, denenjenigen, die Rom nach mir sehen werden, die Augen ein wenig zu öffnen: ich rede nur von Künstlern: denn alle Cavalier kommen als Narren hier und gehen als Esel wieder weg.

 

Kein Wunder, daß die Archäologie, die Suche nach antiken Kunstwerken, einen Aufschwung sondersgleichen erlebte und daß die neueren Künste ganz ins Fahrwasser dieser klassizistischen Anschauungen gerieten. Winckelmann war der erste in einer langen Reihe deutscher Gelehrter und Künstler, die sich ein Leben außerhalb Roms nicht mehr vorstellen konnten, ja, denen Rom zum persönlichkeitsbildenden Erlebnis wurde. Für ihn wurde Rom zum Zentrum seiner italienischen Studienorte, nicht nur der antiken Statuen und Bildwerke wegen, auch die „himmlischen Villen“ übten einen lyrisch-sentimentalen Reiz auf den kunstbesessenen Mann aus. „Izo ist die Zeit“, so schreibt er 1756, „die Gärten in und um Rom zu besuchen. Mein Freund! es ist nicht zu beschreiben, wie schön die Natur in diesem Lande ist. Man gehet in schattichten Lorbeerwäldern und in Alleen von hohen Cypressen, und an Gatterwerken von Orangerien, an eine Viertelmeile weit in etlichen Villen, sonderlich in der Villa Borghese. Je mehr man Rom kennen lernet, je besser gefällt es. Ich wünschte, beständig hier bleiben zu können.“

Die eigentliche literarische Italienerfahrung setzte erst nach Winckelmann ein. Jetzt rückte die Kunst ins Zentrum des Interesses der Italienfahrer. Natürlich gibt es selten reine Typen. Lessings mißglückte Italienreise von 1775 etwa ist ein Beispiel für eine Gelehrte Reise eines Antiquars, der trotz seiner Kenntnis der Winckelmannschen Schriften doch eher mit rationalistischem Geist an die Betrachtung der Kunstwerke heranging. So nennt Lessing zwar die Peterskirche „das schönste Gebäude der Welt“, aber unter den Statuen, die er dort sah, erwähnt er nicht Michelangelos Pietà, er spricht auch nicht über die Sixtinische Kapelle, und ¬was gerade bei Lessing, dem Verfasser der kunsttheoretischen Abhandlung „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“ verwunderlich ist -er verliert kein Wort über die Laokoongruppe. Lessings Kunsturteile bewegen sich auf der Ebene eines „gut“ oder „schön“. Den größten Umfang nehmen die Notizen aus der Welt der Bücher ein, also Titellisten oder gelehrte Exzerpte. Diese Kargheit kommt nicht von ungefähr. Für Winckelmann und Heinse, für Goethe und Herder war die sinnliche Anschauung ein Bedürfnis, bedeutete eine Komplettierung der früher aus Büchern geschöpften Erkenntnisse. Lessing brauchte dieses sinnliche Moment offenbar nicht. Ob er seine Erkenntnisse vor einem Original oder einer Kopie fand, spielte für ihn keine Rolle. So hat er den Mannheimer Antikensaal denn auch den „Originalien“ in Rom vorgezogen. Aus einem einfachen Grund: in Rom stünden die Kunstwerke entweder im Dunkeln oder zu hoch oder sie seien unfindbar unter schlechten Stücken versteckt.

Von anderem Zuschnitt war der dionysische Italienzug Wilhelm Heinses. Als er 1781 in Rom eintrifft, wird er von der prächtigen, mitten aus der öden Campagna sich erhebenden Stadt überwältigt. Wörtlich:

Es geht doch nichts über eine Stadt, wo man jeden Schritt etwas schönes sieht, und man so mitten in den edelsten Gefühlen der ersten seines gleichen lebt. Es erhebt uns immer, und wir werden wie auf Fittigen getragen. Der Geist regt sich in doppelter Urkraft, und das Herz schlägt frischer. Heiliges Rom, so wandl ich unter deinen Trümmern! (VIII, 499)

 

Während andere Städte, wie Florenz oder Bologna, Padua oder Neapel, ein geschlossenes Stadtbild besäßen, dessen Anlage sich nach kurzer Zeit erschließe, berge Rom so viele verborgene Schätze, die man selbst bei wochenlangem Durchstreifen erst langsam entdecke. „Es ist ein unaufhörliches Vergnügen, in Rom zu sein“, heißt es in Heinses Hauptwerk, dem Roman „Ardinghello“.

Man findet immer Neues, was von der Gewalt und Herrlichkeit des alten Volkes zeugt und oft einen entzückt oder erschüttert. Es ist eine wahre Tiefe von Menschheit. Die andern Städte sind dagegen wie erst angepflanzt. (vgl. VIII, 470)

 

Italien avancierte nach Winckelmanns zum Idealbild der Bildungseliten. Insbesondere Rom als Metropole abendländischer Kultur, einstiger politischer Bedeutung und Zentrum der katholischen Kirche entwickelte für die historisch und ästhetisch eingestimmten Reisenden eine emphatische symbolische Qualität. Roma eterna, „Rom -die ewige Stadt“ wurde zum geflügelten Wort. In Rom fand die Apotheose des Abendlands ihren konzentriertesten Ausdruck, als organisch gewachsene Synthese aus antiker und christlicher Tradition.

Goethe reiste in den Fußtapfen Winckelmanns nach Rom. Natur und Kunst standen bei ihm in einem Komplementärverhältnis; an der Natur orientierte sich der Dichter und der Zeichenschüler. Goethe hat sein Italienerleben absichtsvoll stilisiert – als „Wiedergeburt“, und er hat alle Begegnungen und Einsichten mit dem Anspruch auf Bedeutsamkeit dargestellt. Der Romaufenthalt stand für ihn an der Spitze der italienischen Eindrücke.

Deutsche Künstler bevölkerten damals die kleine Kolonie, etwa Friedrich Bury, Johann Georg Schütz, Alexander Trippel, aber auch der Schriftsteller Karl Philipp Moritz und der Kunsthistoriker Johann Heinrich Meyer. Der Maler Tischbein malt den Dichter. Goethe in langem weißem Mantel und mit dem schwungvollen Künstlerhut auf antiken Ruinen in der Campagna. 

Johann Heinrich Tischbein: Goethe in der Campagna

 

Trotz aller Vielseitigkeit seiner Interessen blieb Goethe im Rahmen des durch Winckelmann geprägten klassizistischen Kunstgeschmacks. Für die Kunst des Barock hatte er keinen Sinn, von der Renaissance ließ er nur Raffael und Michelangelo gelten. Begeistert äußerte er sich über die Sixtinische Kapelle (in der er übrigens einmal zu Mittag speiste und auf dem Papstthron seine Mittagsruhe hielt) und den Petersdom, den er „größer und kühner als einen der alten Tempel“ fand. Freilich im Zentrum seiner Kunstinteressen standen die antiken Statuen. Den riesigen Gipsabdruck der Juno Ludovisi stellte er sich in Rom auf sein Zimmer und später ebenso in sein Haus am Weimarer Frauenplan. 

Aber Goethes Italien-und Romerlebnis ging doch über das Winckelmanns hinaus. Neben den Kunstwerken Roms und der südländischen Landschaft ließ sich Goethe von der Lebensart des italienischen Volkes mitreißen, von dem In-den-Tag-hinein-Leben und dem Daseinsgenuß. Ein wenig von diesem Behagen ist in einer Skizze Tischbeins festgehalten. Goethe lehnt dort behaglich aus dem Fenster seines Zimmers hinaus, mit Zopf und Pantoffeln. 

Goethe am Fenster seiner römischen Wohnung, Corso Nr. 20

 

Sicherlich hat Goethes Italienerlebnis die Italienwahrnehmung aller deutschen Italienreisenden des 19. Jahrhunderts am nachhaltigsten geprägt. Auch für deutsche Italiendichtung war Goethes Italienlyrik maßstabsetzend. Gegenüber der trübsinnigen Betrachtungsweise barocker Dichter, die am Beispiel Roms auf die Vergänglichkeit der Welt hinweisen, bedeutet Goethes Italien-Dichtung geradezu eine kopernikanische Wende. Jetzt heißt die oberste Maxime nicht mehr „Memento mori“, sondern „carpe diem“, und der Dichter malt die Freuden des Diesseits in hellen und üppigen Farben. Im Unterschied zum trockenen Ludwig von Anhalt-Köthen, der die Bauwerke pedantisch auflistet und beschreibt, kommt es Goethe gar nicht aufs liebevolle Detail an; seine große lyrische Tat ist die Beseelung des Seelenlosen, die Vermenschlichung des Raritätenmuseums Rom:

 Ja, es ist alles beseelt in deinen heiligen Mauern, / Ewige Roma

 

heißt es in den „Römischen Elegien“ (I, 3f.). Und daß es die Liebe ist, die solche Beseelung vollbringt, macht den noch heute nachvollziehbaren Reiz, die Lebendigkeit dieser antikisch nachempfundenen Lyrik aus.

Auf Winckelmanns und Goethes Spuren erlebten die Reisenden Italien freilich nicht ausschließlich der äußeren Reize wegen; eigentliches Ziel war die Bildung ihres Selbst-Ausbildung des Kunstverstandes, Intensivierung des Fühlens, Distanzierung von den Alltagssorgen und Erhöhung des eigenen Lebens; alles Aspekte einer Konfession, deren geläufiges Etikett „Wiedergeburt“ hieß. Oft erlagen die Goethe-Epigonen dem Missverständnis, die Stilisierung der „Italienischen Reise“ mit der Wirklichkeit zu verwechseln.

Im 19. Jahrhundert gehörte es zum Habitus bürgerlicher Kreise, wenigstens einmal im Leben eine größere Italienreise unternommen zu haben, und zwar auf den Spuren Goethes. Goethe hat wie kein zweiter Maßstäbe für das Erleben Italiens gesetzt, Maßstäbe, die jeder Italienreisende von geistigem Rang für sich reklamierte und in deren Umsetzung er versuchte – oft auf fast skurril anmutende Art –, Goethes angebliches Erleben nachzuempfinden, es für seine eigene Person nachzuerleben, zu wiederholen, ohne Rücksicht auf die veränderten Zeitumstände. Zumal bei Schriftstellern lag die Orientierung an Goethe nahe. Fast das ganze 19. Jahrhundert bis zu Thomas Mann und Gerhart Hauptmann gab er das Leitbild ab, dem man nachstrebte oder gegenüber dem man sich abgrenzte -er lieferte gewissermaßen die Worte und Bilder, um das Italien-und Rom-Erlebnis angemessen künstlerisch verarbeiten zu können.

Und dies, obwohl sich das „Objekt Rom“ selbst von der Goethezeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gehörig verändert hat. Heute zählt Rom knapp 3 Millionen Einwohner, doch im Lauf seiner Geschichte war die Bevölkerungszahl großen Schwankungen unterworfen.

 

Zeitenwende  750 000 – 1 500 000
Anfang 6. Jahrhundert 30 000
1420  17 000
1526  52 000
1600  110 000
1700  142 000
1790 145 000
1812  118 000
1871  205 000
1901  422 000
1931  931 000
1941  1 360 000
1951  1 450 000
1961  2 180 000
1974  2 870 000
2000  2 650 000

 

Heute zählt Rom knapp 3 Millionen Einwohner, doch im Lauf seiner Geschichte war die Bevölkerungszahl großen Schwankungen unterworfen.

Zur Zeit Goethes besaß Rom also eine Bevölkerung von knapp 150000 Einwohnern. Dementsprechend idyllisch sah es dort aus – wie einige Bilder zeigen. Die erste Skizze zeigt den Blick auf die Peterskirche von der Villa Pamfili aus und stammt von Goethe selbst.

Goethe: Blick auf die Peterskirche von der Villa Pamfili aus

 


Die folgenden Bilder stammen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zunächst von Georg von Dillis der Blick auf Sankt Peter vom Monte Mario aus; 

Georg von Dillis der Blick auf Sankt Peter vom Monte Mario aus

 

dann von Franz Ludwig Catel der Blick auf Engelsburg und Vatikan vom Monte Pincio aus;

Franz Ludwig Catel der Blick auf Engelsburg und Vatikan vom Monte Pincio

 

dann von Samuel Parker das Forum Romanum und die Piazza del Popolo. 

Samuel Parker: Forum Romanum

 

Samuel Parker: Piazza del Popolo

 

 

Aber auch die politische Landschaft Italiens hat sich seit der Goethezeit gravierend verändert. Man muß nur einmal einen historischen Atlas aufschlagen. Hier eine Karte aus dem frühen 18. Jahrhundert.


 
Im späten achtzehnten Jahrhundert gliedert sich Italien in neun größere Territorien. Die auf dem Wiener Kongreß von 1815 getroffene Neuordnung Italiens kennt dagegen nur noch sechs selbständige Staaten: das Königreich beider Sizilien, den Kirchenstaat, das Großherzogtum Toskana, die drei Herzogtümer Parma, Modena und Lucca, sowie das Königreich Piemont, das jetzt Königreich Sardinien heißt. Mailand und Mantua wurden wie auch Venedig vom Kaiserreich Österreich annektiert, Genua kam an Sardinien-Piemont.


 
Erst das Jahr 1861 brachte, unter der Führung Piemonts, Italien die Einigung, 1866 fiel auch Venetien an das neue Königreich. Daß der Italienreisende früherer Jahrhunderte durch eine Reihe von Staaten reisen mußte, ist heute nicht mehr gegenwärtig.

Welche Schwierigkeiten es beim Grenzübertritt oft gab, und welche gewaltigen Unterschiede zwischen den Teilstaaten herrschten, hat Johann Gottfried Seume in seinem kritischen Italienbuch „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1801“ mit erbittertem Engagement festgehalten. Er trifft auf das durch Napoleon geordnete Italien, in dem er durchweg restaurativen Geist erkennt. An der sozialen Misere gibt er ausschließlich der feudalistischen Verfassung, der korrupten Regierung und dem „Religionsunwesen“ die Schuld. So gerät seine Schilderung der ins „Riesenmäßige“ gesteigerten Peterskirche zur Kritik am Herrschafts¬anspruch der katholischen Kirche. Wenn er das antike Pantheon gegenüber der bombastischen Peterskirche feiert, so heißt das nicht, dass er generell die Antike verherrlicht; der römische Staat etwa gilt ihm als Produkt aus „Raub“ und „Sklaverei“. Neu an Seumes Betrachtung ist die Veränderung der Perspektive. der Blick auf die soziale und politische Realität. Nicht mehr das kunstgenießende Subjekt steht im Mittelpunkt, sondern das Staatswesen und die Gesellschaft.

Auch die Romantiker besangen Rom. Ihnen bedeutete die antike Kunst weniger als den Klassizisten, sie interessierten sich mehr für das christliche Mittelalter und für die altitalienische Malerei. Rom bildete für Klassizisten und Romantiker das natürliche Zentrum: Kapitale der heidnisch-antiken Welt und Metropole des Christentums. Rom zog die deutschen Künstler fast magisch an: Die Nazarener, eine an Raffael, Perugino und Dürer orientierte Kunstbewegung, schlugen 1810 im ehemaligen Kloster San Isidoro ihr Domizil auf. Klassizisten und Romantiker reisten nicht aus politischen, sondern aus ästhetischen Motiven nach Italien. Zur Gruppe der Italienhymniker, die Italien vor allem ästhetisch wahrnehmen, gehören August von Platen und der Tübinger Stiftler Wilhelm Waiblinger – beides zwei radikale Deutschland-Aussteiger, Deutschland-Flüchtlinge aus Überzeugung.

Was trieb Platen nach Italien? Als negative Motive lassen sich nennen: Deutschlandüberdruß, persönliche Enttäuschungen, Probleme mit seiner homoerotischen Veranlagung, literarische Mißerfolge; positive Motive: die Komplementärerfahrung des heiteren Lebensstils, die dem melancholischen Grafen gut tat, am wichtigsten aber wohl sein Schönheitsdurst, also ein ästhetisches Phänomen – das sich keineswegs auf Kunstobjekte beschränkte. Italien war damals das „bevorzugte Auswanderungsland für Homosexuelle“, weil die italienische Gesetzgebung die gleichgeschlechtliche Liebe nicht unter Strafe stellte. Platen war nicht begütert, er durchquerte (seit 1826) auf Schusters Rappen Italien mit fanatischer Unermüdlichkeit, Fußmärsche von 50 bis 60 km am Tag waren keine Seltenheit. Er hat seine Reiseeindrücke akribisch im Tagebuch festgehalten. Anfangs durcheilt er sämtliche Kirchen und Paläste, Museen und Galerien und listet die Kunstwerke pedantisch auf, seitenlang und ohne Gnade. Wie Goethe erhoffte auch er sich in Italien eine Art künstlerisch-psychischer Runderneuerung. Nach den schrecklichen Berichten, die er über die Unreinlichkeit gehört hatte, war Platen von Rom zunächst angenehm überrascht. Immerhin gibt er zu, man müsse sich in Nebenstraßen vor dem Kot in acht nehmen, der auf die Fußgänger herabprassle. Von Roms Kulturschätzen ist er begeistert; unerschöpflich scheinen dem Betrachter die Herrlichkeiten an Kunst und Architektur. Allerdings zu dichterischen Werken inspiriert ihn Rom nicht. Nach der Rückkehr aus dem lebensfrohen und bunten Neapel wächst seine Distanz; Rom „affiziere“ ihn nicht besonders, er sehnt sich zurück nach dem sonnigen Neapel. An den befreundeten Dichter-Maler August Kopisch schreibt er sogar: „Rom schien mir unbeschreiblich öde und melancholisch“. Platens Romerlebnis ist ambivalent: als Kunst-und Geschichtsstadt hält er Rom für unvergleichbar; atmosphärisch sprechen ihn Venedig und Neapel stärker an.

Im ganzen 19. Jahrhundert halten sich die beiden Grundtendenzen die Waage: auf der einen die idealistisch-ästhetischen Italienreisenden, auf der anderen die realistisch-kritischen. Platens Gegenspieler Heinrich Heine hielt die Versuche, auf Goethes Spuren durch Italien zu reisen, für verfehlt. In seinen Reiseberichten „Reise von München nach Genua“ und „Die Bäder von Lucca“ (1828) verspottete er die philiströsen und kleingeistigen Italien-und Rom-Schwärmer; Flucht in den schönen Schein warf er ihnen vor und Blindheit gegenüber der Wirklichkeit. Franz Grillparzer hat 1819 Italien bereist, die Reise liegt zeitlich also vor den Italienfahrten Platens und Waiblingers. Seine Berichte und Gedichte sind jedoch so eindeutig gesellschafts¬und herrschaftskritisch angelegt, daß sie als Reflex auf die politisch verfestigte Situation zu deuten sind, anders als die auf Zeitlosigkeit angelegte Italienpanegyrik Platens und Wilhelm Waiblingers. Die Reise wurde ihm von den Ärzten geradezu verordnet, um ihn auf hellere Gedanken zu bringen: die Reise in den Süden als Therapie. Venedig bezauberte ihn; in Rom dagegen packte ihn der Weltschmerz, jenes barocke Denken an Vergänglichkeit und Untergang. Dem Tagebuch vertraute er an:

So verlaß ich dich denn vielleicht auf immer, du stolze Weltgebieterin, zu der es mich von meiner Kindheit mit so magischem Stolz hertrieb, das ich mir so überirdisch herrlich ausgemalt hatte, daß ich jetzt, da die Wirklichkeit mich abkühlt, kaum noch das Phantasiebild in der Erinnerung hervorrufen kann, das mich lockend umschwebte. Nicht als ob ich Rom nicht bewunderungswürdig gefunden hätte, aber wann hat die Wirklichkeit gehalten, was die Phantasie versprochen?

 

Bemerkenswert für den Katholiken Grillparzer ist seine harsche Kritik an der gegenwärtigen Situation Italiens, für die er die Institution Kirche verantwortlich machte. Italien war in einen Zustand der kulturellen und politischen Erstarrung geraten. Von der „riesigen Vergangenheit“ spürte er in der Gegenwart keine Spur mehr: „Auf flachem Boden“ gehe „die neue, flache Zeit“ dahin, lautete sein desillusionierter Befund. Zeitkritik schiebt sich auch in den Gedichten der Schriftsteller des Vormärz in den Vordergrund: Kritik an den politischen und sozialen Zuständen Italiens und Kritik an der durch Goethe geprägten Italienverherrlichung. Die 1844 entstandenen Gedichte von August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens sind dafür ein beredter Beleg. Die Kritik am Papsttum bildet ein zentrales Motiv seiner Italiendichtung. In dem Gedicht „Römisches Helldunkel“ wettert er:

Wenn ich die vielen Pfaffen sehe Zu Rom in ihrer schwarzen Tracht, Dann wird's am hellen, lichten Tage Vor meinen Augen dunkle Nacht.

 

Seine Angriffe beschränken sich jedoch nicht auf die Kirche; Italien gilt ihm als „Land des Stillstands, der Erhaltung“, als Inbegriff der Restauration, „ohne Fortschritt, ohn' Entwicklung“, in dem „alles bleibet, was es war“.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm der Trend zur Ästhetisierung und zur Historisierung zu. Jacob Burckhardt, Ferdinand Gregorovius und Conrad Ferdinand Meyer sind dafür gewichtige Kronzeugen. Kein Zufall, dass jetzt die großen Gestalten aus der italienischen Geschichte und Kunst das rege Interesse der Dichter fanden. Dante, der exilierte Begründer italienischer Dichtung, wurde zur Symbolgestalt in Gedichten Geibels, Schacks und Burckhardts. Die großen Renaissancekünstler Michelangelo, Raffael und Tizian, aber auch bedeutende historische Figuren wie Spartacus und Cola di Rienzo fanden Eingang in die historisierende Dichtung.

Nicht verwunderlich ist es auch, daß im 19. Jahrhundert eine Nationalisierungswelle das Interesse an germanischer Kraft und mittelalterlicher Kaiserherrlichkeit hochschwemmte; es verdichtete sich im tragischen Schicksal der Hohenstaufen; man beweinte, reichlich verspätet, das traurige Ende Conradins; der Schweizer Dichter Heinrich Leuthold verfaßte eine Ode „Gegen Rom“, die martialisch anhebt:

Einst am Felsen Petri zerschellte unsrer Hohenstaufen Kraft und noch heut den deutschen Kaiserpurpur schändet die ungesühnte Schmach von Canossa.

 

Distanziert gegenüber dem Zauber Italiens und insbesondere Roms verhielten sich Friedrich Hebbel, Joseph Viktor von Scheffel und Theodor Fontane. Ich will hier nur – auch um dem genius loci zu huldigen – auf Scheffel näher eingehen, der 1826 in Karlsruhe geboren wurde.

Scheffel hat insgesamt viermal Italien bereist. Die literarisch ergiebigste Italienreise dauerte vom Mai 1852 bis zum Mai 1853. Enttäuscht vom Scheitern der 48er Revolution und obendrein seines Juristenalltags am Bruchsaler Hofgericht überdrüssig, mutet Scheffels Flucht in den Süden wie ein Ausbruch aus der philiströsen Enge Deutschlands an. Wie Goethe wollte auch Scheffel das Malerhandwerk erlernen. Über Genua und Florenz fuhr er nach Rom; dessen Zauber schlägt ihn trotz der „schmutzigen Straßen und des uncomfortablen Aeußeren“ in Bann. Er schließt sich den deutschen Malern an und nimmt selbst im Malen und Zeichnen Unterricht. Begeistert berichtet er den Eltern und den Heidelberger Freunden (in den lesenswerten „Römischen Episteln“) von den „deutschen Abenden zu Albano“, vom „vergnüglichen Zechen“ und vom lautstarken Absingen deutscher Volkslieder. Die Maler ziehen von Osteria zu Osteria, „eyn scharfes Trinken“ bildet fast immer Auftakt und Abschluß der geselligen Aktivitäten.

Die anfangs gerühmte Geschichtsmonumentalität des alten Rom enthüllt sich bald als übermächtige Belastung, das imaginäre Historienmuseum wird zum monströsen „Gräberfrieden“: Die „Masse von alter und mittelalterlicher Kunst“ habe „fast etwas erdrückendes“, schreibt er dem Vater; „die Besichtigung der unendlich vielen antiquitas“ -so in burschikosen Ton an die Heidelberger Freunde – mache den Menschen „müde als wie eyn Lasttier“. Über Italien sei „alles schon so ausgeschaut, ausgeschrieben, ausbewundert“, klagt der von melancholischen Anwandlungen erfasste Dichter. Hier äußert sich ein „Geschichtsüberdruß“, der nicht untypisch für die zweite Jahrhunderthälfte ist, als Gegenbewegung nämlich zum Historismus. Nach der „römischen Grabeinsamkeit“ empfindet er Neapel wie eine Befreiung. Wie Goethe erkennt auch Scheffel die Grenzen seiner malerischen Befähigung; dagegen fühlte er sich zum Schriftsteller berufen. Auf Capri übrigens, wo Scheffel mit dem Dichterfreund Paul Heyse ein „insulanisches Stilleben“ führte, entstand innerhalb von sieben Wochen das Werk, das seinen späteren Ruhm begründet hat, „Der Trompeter von Säckingen“.

Um die Jahrhundertwende rückt Venedig ins Zentrum des poetischen Interesses. Bei Hugo von Hofmannsthal und bei Rainer Maria Rilke nimmt Venedig den ersten Platz ein. Ist es der morbide Reiz des Untergangs, der diese Stadt so verführerisch machte, dass sie geradezu zum Symbol des Fin de Siècle und des Todes avancierte? Rilke, der sich nach seinen Rußlandreisen von 1899 und 1900 dem östlichen Geist stärker verbunden fühlte, empfand Rom geradezu als „vollgestellte“ Stadt, als traditionsüberfrachteten Ort voller Symbole.

Auch bei den modernen, nach 1945 wirkenden Dichtern finden sich spezifische Rom-Erfahrungen. Ingeborg Bachmann wurde durch ihren tragischen Tod (1973) immer wieder mit Rom in Verbindung gebracht. Bereits mit 27 Jahren zog sie nach Italien: zunächst auf die Insel Ischia, danach für ein Jahr nach Neapel, für weitere drei Jahre nach Rom. Dort traf sie in den Jahren 1954 bis 1957 auch mehrmals mit Marie Luise Kaschnitz zusammen. Ihr Essay „Was ich in Rom sah und hörte“ von 1955 ist ein Musterbeispiel ihres lyrischen Verfahrens. Die poetische Beschwörung Roms erweckt mit Hilfe der allesamt aufgeführten Kennzeichen römischer Topographie -Tiber, Peterskirche, Campo de Fiori, Fontana di Trevi -ein utopisches Reich, in dem sich die Zeiten der Geschichte symbolisch vereinigen und dadurch wieder ins Leben gerufen werden. Ihr spezifisches „Sehen“ führt in eine nahezu mystische Welt der erfüllten Gegenwart, in der das reale Rom nur als Zeichen und Wegweiser fungiert: Der italienische Junge, der des Nachts in den mit Geldmünzen gefüllten Brunnen steigt, bekommt das „Aussehen eines Gottes“, die Namen der alten römischen Adelsgeschlechter bleiben bestehen, auch wenn längst die „Obdachlosen ihre Eisenbetten aufstellen und ihre Wasserbehälter auf den Sarkophagen stapeln“. Selbst der profane Bahnhof wird zum poetischen Signal:

Auf dem Bahnhof Termini sah ich, daß in Rom die Abschiede leichter genommen werden als anderswo. Denn die fortfahren, lassen denen, die bleiben, einen Gepäckschein auf Sehnsucht zurück.

 

Nach drei Jahren ging Ingeborg Bachmann 1957 zurück in den Norden, zunächst nach München; danach lebte sie einige Jahre wechselweise in Zürich und Rom, schließlich drei Jahre in Berlin. Im Jahre 1965 jedoch übersiedelte sie endgültig nach Rom -ein Entschluß, den sie später allerdings von allen deutschen Emigrationssehnsüchten wieder abgrenzt:

Man hat mich so oft gefragt, warum ich nach Rom gegangen bin, und ich habe es nie gut erklären können. Denn Rom ist für mich eine selbstverständliche Stadt, man pilgert heute nicht mehr nach Italien. Ich habe kein Italienerlebnis, nichts dergleichen, ich lebe sehr gerne hier.

 

Italien wird allenfalls zur Metapher eines Niemandslandes, in dem die Zeit stillsteht, die existentielle Ziellosigkeit zum Programm erhoben wird. Es ist und bleibt auch ein poetisches Programm, das Ingeborg Bachmann ihrer Wahlheimat verdankt, und aller Lakonie zum Trotz trägt Italien zu einer geschärften poetischen Wahrnehmung bei:

In Italien, könnte ich sagen, bin ich froher geworden, hier habe ich gelernt, Gebrauch von meinen Augen zu machen, habe schauen gelernt. In Italien esse ich gern, gehe ich gern über eine Straße, sehe ich gerne Menschen an.

 

Das klingt entfernt an Goethe an. So wenig jedoch das Italien-Motiv in Ingeborg Bachmanns Dichtung noch seine traditionellen Formen beibehält, so wenig hat ihr eigenes Italien-Bild mit der arkadischen Emigrationserfahrung deutscher Dichter und Dichterinnen zu tun.

Die andere deutsche Romdichterin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Marie Luise Kaschnitz. Ihr erster, bereits sehr lang dauernder Romaufenthalt, fiel in die Jahre zwischen 1924 und 1932, ab 1925 als Frau des Archäologen Guido von Kaschnitz-Weinberg. Zum zweitenmal lebte sie von 1953 bis 1956 in Rom, zusammen mit ihrem Mann, der als Nachfolger von Ludwig Curtius das Deutsche Archäologische Institut leitete. Nach dem Tod ihres Mannes 1958) wohnte sie abwechselnd in Frankfurt, Bollschweil/Breisgau und Rom. Dort ist sie 1974 auch gestorben. Im Zentrum ihres Italienerlebens stand Rom, dem auch die meisten ihrer Essays, Skizzen und Gedichte galten; intensiv hat sie sich auch mit Süditalien, dem Erbe griechisch-hellenischer Kultur, beschäftigt; Norditalien lag außerhalb ihres Gesichtskreises.

In ihrem Werk gibt es eine deutlich bemerkbare Entwicklung: die beiden Frühgedichte „Rom“ (1936) und „Amalfi“ (1940) stehen fest in der rühmend-hymnischen, sprachlich konservativen, metrisch gebundenen bzw. reimenden Tradition. Das Rom-Gedicht liest sich wie ein Panoptikum klassisch-romantischer Rom-Symbole: Rom als Ort der Sehnsüchte und Verlockungen, der Gefahren und Grausamkeiten, kein gegenwärtig-gesellschaftlicher Ort, eher ein überzeitliches geistig-seelisches Sinnbild, Schauplatz des Ewig-Menschlichen. Erst seit der 1952 publizierten Sammlung „Ewige Stadt. Rom-Gedichte“ fand sie zum eigenen, unverwechselbaren Ton. Auch die Inhalte und der Wahrnehmungsmodus veränderten sich: Bildungserlebnisse werden vorausgesetzt, die überlieferten Topoi bilden nur die Kulisse des selbst Gesehenen; Armut, Krankheit und Zerfall bleiben nicht mehr ausgeschlossen. Beides kommt in den Blick: Roma aeterna und moderne Großstadt.

Ihre erste große Prosa-Arbeit zum Thema Italien, „Engelsbrücke, Römische Betrachtungen“ wurde mit dem Georg Büchner-Preis geehrt. Diese Sammlung tagebuchartiger Essays sollte zuerst den Untertitel „Zehn Jahre nach dem großen Krieg“ tragen, steht also ganz bewusst unter dem Eindruck von Krieg und Nachkriegszeit. Kaschnitz unternimmt hier den keineswegs neuen Versuch, den Sinn menschlicher Existenz und das Wesen Roms zu durchdringen, muß jedoch am Ende feststellen, dass die Integrität des eigenen Lebens nicht mehr in harmonisch-ganzheitlichem Zusammenhang mit dem Erleben der südlichen Metropole steht. In „Engelsbrücke“ verbindet sich häufig Visuelles mit Visionärem, die sichtbare Gegenwart mit der Vergangenheit. Meist steckt in einer Zufallsbeobachtung der Keim für eine Geschichte. Ein zunächst harmloses Erlebnis wird plötzlich tragisch oder gespenstisch, der banale Alltag offenbart seine extremen und irrealen Dimensionen oder wird ins Mythische gewendet. Auch wenn sie den Armen und Bedürftigen große Aufmerksamkeit widmet, entgeht ihre Synthese zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht immer der Gefahr des Ästhetisierens und des Verklärens. Bei den unterprivilegierten Schichten erblickt sie etwa „ein wenig Märchenglanz und große Würde der Armen“. Die Bettler Roms avancieren geradezu zu „Aristokraten der Gosse“.

Sie nimmt auch die zerstörerischen Auswirkungen touristischer Expansion wahr, so wenn sie die Vor-und Nachteile des Massentourismus abwägt. Welchen Nutzen ziehen die unvorbereiteten Besucher aus dem endlosen Gang durch die römischen Bildungstempel? Verursacht ihre überwältigende Fülle nicht Minderwertigkeitskomplexe, Einsamkeitsgefühle, Verzweiflung und Zorn? Und haben die „wirklich Genießenden“, die Gebildeten, das Recht, die Massen auszuschließen, um ihrem Kunstgenuß den entsprechenden Raum und die nötige Stille zu verschaffen? Gerade im „Erlebnis der Einsamkeit“ und in den ehrwürdigen Gegenständen ungemäßen Gefühlen sieht Marie Luise Kaschnitz die Chance eines Ertrags.

Trotz aller Sympathien für Italien bleibt sie sich ihrer Gastrolle bewußt. Ähnlich Hermann Hesse gewinnt sie seitab der Touristen-Heerstraße ihre tiefsten und dauerhaftesten Eindrücke: Erträge fürs Leben, nicht für die Bildung. Man ist im 20. Jahrhundert offenbar bescheidener geworden und erwartet keine „Wiedergeburt“; aber die Begegnung mit Kunst, Geschichte und Gegenwart Italiens kann auch heute noch Denken und Leben beeinflussen. Nicht pompös, eher in kleinen Schritten, halb unbewußt, etwa durch – in den Worten von Kaschnitz –

[...] gar nichts tun, bei einem Espresso oder einem Glas Wein herumsitzen und mit den Römern sprechen, den Kindern des Hauses, denen all das von uns Gepriesene so herrlich selbstverständlich ist und die dieselben Sorgen haben wie alle Leute in allen großen Städten der Welt.

 

Auch Marie Luise Kaschnitz hielt sich 1961 als Stipendiatin in der Villa Massimo auf. Aber für sie, die Rom aus acht verschiedenen Wohnungen erkunden konnte, bedeutete dieser Aufenthalt nicht die Konfrontation mit dem schlechthin Neuen. Just das ist aber bei den meisten Gästen der Villa Massimo der Fall. Das Verzeichnis der Stipendiaten und Ehrengäste der Deutschen Akademie nach der Wiedereröffnung der Villa Massimo weist eine stattliche Zahl von Schriftstellern auf; darunter finden sich auch heute noch bekannte Namen wie Rudolf Hagelstange (1957), Luise Rinser (1958), Hans Magnus Enzensberger (1959), Wilhelm Lehmann (1959), Heinrich Böll (1961), Tankred Dorst (1962), Uwe Johnson (1962). Der Aufenthalt in der Villa Massimo hat viele Autoren zu Romgedichten inspiriert. Ein sonderbarer Aspekt moderner Poesie: man entlockt den Lyrikern durch staatliche Stipendien das fast obligatorische Romgedicht..

Wie sehr dieses Wunschdenken einer völkerverbindenden ‚Kulturmobilisierung’ auch schief gehen kann, dafür steht der Aufenthalt Rolf Dieter Brinkmanns in der Villa Massimo. Brinkmann, vor allem als Lyriker der Pop-und Protestgeneration angetreten, weitet das Einzugsgebiet der „Poesie“ bewußt auf Trivialmythen aus: auf Werbung, Comicstrips, Fotos,
  Rockmusik und sogar Pornografie. Das Gedicht soll, einem snapshot vergleichbar, Wahrnehmungen und Empfindungen spontan festhalten, unmittelbar und ohne Rückversicherung bei einer belastenden Tradition. Dem selben Zweck dienen seine minutiös geführten Tagebücher, die alles, „was wirklich alltäglich abfällt“, verzeichnen, Wirklichkeitspartikel, deren einziges Auswahlkriterium die keineswegs ressentimentfreie Subjektivität des Beobachters ist. Im Gegenteil, Brinkmann, der sich als Paria der Wohlstandsgesellschaft empfand, setzte seiner Erbitterung und Wut keine Grenzen. Diese negative Einstellung prägt auch die unter dem Titel „Rom, Blicke“ posthum veröffentlichte Collage aus Texten und Bildern, die seinen vom 14. Oktober 1972 bis zum 9. Januar 1973 dauernden Romaufenthalt dokumentiert. Hinter Brinkmanns Romerleben stand keines der traditionellen positiven Motive: weder inneres Bedürfnis noch Drang in den Süden, weder Begeisterung für Antike und Kunst noch Sehnsucht nach ungebundenem Leben. Brinkmann nahm das Angebot des Villa Massimo-Aufenthaltes nur an, weil er ihm die finanzielle Not überbrücken half -ein reichlich unfreiwilliger Grund. Zwei Kostproben seiner mimetischen Vivisektion des Verfallsobjektes Rom:

Als ich aus dem Zug gestiegen war und an der langen Reihe Wagen entlangging zur Halle hin, verlängerte sich wieder der Eindruck einer schmutzigen Verwahrlosung beträchtlich, wieder überall Zerfall, eine latente Verwahrlosung des Lebens, der sich in der riesigen Menge der winzigen Einzelheiten zeigt – und vielleicht hatte ich immer noch Reste einer alten Vorstellung in mir, dass eine Weltstadt wie Rom funkelnd sein würde, bizarr, blendend und auch gefährlich für die Sinne – eben ein wirbelnder Tagtraum [...] ‚Auch ich in Arkadien!’ hat Göthe geschrieben, als er nach Italien fuhr. Inzwischen ist dieses Arkadien ganz schön runtergekommen und zu einer Art Vorhölle geworden.“ (S. 16)

„:gegenüber der Villa d’Este (heute geschlossen, auch morgen geschlossen): ein leerstehendes Haus, Unkrautbüsche, die aus den Fensterhöhlen des 3. Stocks in das Licht wuchern, aus Mauerlöchern brechen sich Bündel gelber Hundsblumen, grüne feuchte moosige Schicht über einer verzogenen schiefen Tür – und zartblauer Anstrich gegen verblaßten grünen Holzanstrich – schiefe Fenster, schiefe Türen, schiefe Torbogen: schwarze Wandstücke, Nr. 74, früher Nr. 128 auf einer geborstenen alten Kachel daneben -Gras und dürres, trockenes Reisig wächst auf den vorstehenden Fenstersimsen, dazu eine rotverwaschene Tür -ein Blick über das Eisengitter in den Park: schimmelig-grün überzogene pflanzenhaft-pelzige Steinmasken am Boden, aus denen Wasser sickert, skrofulöse Steingestalten – ein durchgehendes ansteigendes Bild allgemeiner Zerfallenheit, in dem einzelne blasse Farben auftauchen, abgelagertes, fast verkarstetes Leben in Form gebückter Gestalten, die aus den zusammengebauten Häusern her¬vorkommen und wieder in einer [!] der schmalen, gewundenen Torwege verschwinden – eine Wellblechwand um einen Neubau, der voll Papierfetzen ist, zerrissene Plakate“. (S. 226)

 

Die Beispiele zeigen, mit welcher geradezu fanatischen Verbissenheit Brinkmann seine desillusionierenden Beobachtungen zu einer Schutthalde des Zerfalls und der Verwerfung auftürmte. „Dieses Buch ist“ – so stellte Eduard Beaucamp in der FAZ fest – „in der schmucken Kette der hochgemuten, schwärmenden und immer bildungssatten Rom-Poesie der Deutschen ein grimmiges Intermezzo, es ist ein Haßgesang auf Rom als modernde Kapitale aus Tod und Sex und auf jene staatliche Kulturidylle, die mittendrin, arglos, ohne jedes preußisches Reglement und Erfolgskalkül nur den uralten Bildungsglauben und die schönsten Träume der Deutschen konserviert.“ Die Gedichte, die zum Teil in dem von Brinkmann noch selbst autorisierten Band „Westwärts 1 & 2“, abgedruckt sind, demonstrieren, wie Brinkmann mit diesen Rohmaterialsammlungen verfuhr. Sein Werk ist sicher die konsequenteste Ausbildung einer Ästhetik der Negativität, die aus Unlust an der rühmenden Tradition die krude Realität einfängt und das Häßliche zum Richtmaß der Wahrheit erhebt. Rom fungiert nur als höchst konkretes Sinnbild für den allgemein wahrgenommenen Weltzustand und Wertzerfall.

Die Villa Massimo als Paradies oder als Gefängnis? Sicherlich bildet Brinkmanns Buch eine Ausnahme. Dennoch ist das großzügige Stipendienwesen eine Überlegung wert, ob dadurch nicht eine zur Gleichförmigkeit tendierende Vereinheitlichung des Italienerlebens in die Wege geleitet wird, eine Institutionalisierung der Italienpoesie. Hat Italien und besonders das vielbesungene Rom seinen alten Zauber eingebüßt? Wie die meisten der neueren Texte belegen, kann davon keine Rede sein. Wohl aber orientieren sich die Schriftsteller immer ausschließlicher an der Gegenwart. Vergangenheit tritt allenfalls als Folie, als Zitat ins Blickfeld, hat nicht mehr leitende Funktion. Verständlich von daher, daß der preisende Duktus früherer Epochen heutzutage nicht mehr angebracht ist. Neben und vor dem Glanz des ewigen Rom existiert der Alltag des heutigen Rom: neben dem Symbol weltlicher und kirchlicher Herrschaft die Wohn-und Arbeitsstätte der über zwei Millionen Menschen. Der Trend zur Umkehrung traditioneller Klischees ist in moderner Dichtung allgemein konstatierbar. Daß dieses Infragestellen nicht notwendig in die totale Negation münden muß, belegen die Gedichte von Jürgen Theobaldy, Rainer Malkowski und Wolf Biermann zur Genüge. Die alten Ideale der Kunst, der Schönheit und der Sehnsucht nach einem freien, weniger reglementierten und zweckbestimmten Leben sind auch aus dem modernen Italien-Bild nicht wegzudenken. Zweifellos präsentiert sich die Italien-Dichtung der Gegenwart formal und gehaltlich vielfäl¬tiger als die Dichtung vergangener Epochen. Goethe, der im Bildungsbürgertum das Italienerleben vorprägte, fällt als Übervater weg; die literarische Form zehrt nicht mehr vom klassischen Ballast, den jeder Italienpoet seit Goethe mit sich herumschleppen mußte: der antiken Bildung und den antikisierenden Versen. Die Chance moderner Italienpoesie liegt gerade darin, sich von starrer Traditionsverhaftung und blindem Abbildungsanspruch freizuhalten.

Was macht die Faszination von Rom aus? Ingeborg Bachmann hat dies in ihrem Diktum von Rom als einer offenen Stadt angedeutet:

Die Faszination: Rom als offene Stadt, keine ihrer Schichten kann als abgeschlossen betrachtet werden, sie spielt alle Zeiten aus gegeneinander, miteinander, das Alte kann morgen neu sein und das Neueste morgen schon alt. [...] Sie ist historisch nicht abgeschlossen, sie hat sich nicht in diesem oder jenem Jahrhundert ausschließlich manifestiert. Das Kommen und Gehen und Wiederkommen – die Utopie in Permanenz, das geistige Heimatgefühl, das man hier empfindet, tritt an die Stelle des Gefühls von physischer Heimatlosigkeit, das in der Welt zunimmt.

(Mein erstgeborenes Land, 23)

 

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