Inhalt

 

Goethe, Schiller und die Goethezeit auf Google+

Goethes Italienische Reise, Rom

Gunter E. Grimm

Einleitendes zur Italienwahrnehmung

Von der Kunst zum Leben.
Zum Paradigmenwandel in der deutschen Italienwahrnehmung des 18. Jahrhunderts.
Lessing  - Herder - Heinse - Seume

Stand: Juli 2007

 

Mit „Inbrunst im Herzen“ reiste Richard Wagners Tannhäuser nach Rom. Jedoch „verschlossnen Augs, ihr Wunder nicht zu schauen, durchzog <er> blind Italiens holde Auen.“ Der Pilger Tannhäuser folgte langbewährter Sitte. Wie die Geschichte des Reisens, die Apodemik, lehrt, hat es im Laufe der Jahrhunderte sehr unterschiedliche Arten des Reisens gegeben. Im Mittelalter waren es Pilger und Ritter, die aus religiösen oder politischen Gründen die beschwerliche und gefahrvolle Romfahrt auf sich nahmen und sich den Teufel um Kunst und Land und Leute scherten. Erst im 17. Jahrhundert wandelte sich die Motivation.

Epochenüblich wurde die Kavalierstour, auf der ein jugendlicher Adeliger fremde Länder und Sitten kennenlernen sollte, um, welterfahren zurückgekehrt, ein wohldotiertes Amt antreten zu können. Man reiste sehr zweckhaft. Im Hintergrund stand entweder das Seelenheil oder der berufliche Aufstieg, die wissenschaftliche Laufbahn oder die Beamtenkarriere.

 

Paradigmen der Italien-Reisen

Mittelalter Pilgerreisen   Seelenheil
16./17./18. JahrhundertGelehrte Reisen  Antiquitäten und Bibliotheken 
16./17. Jahrhundert Grand Tour, Kavaliersreisen Weltkenntnis
2. Hälfte des 18. Jahrhundert Kunst-Reisen (Winckelmann)
Empfindsame Reisen 
Ästhetischer Genuss
Subjektive Spiegelungen
 
19. Jahrhundert - Idealistische „Bildungsreisen“
(auf Goethes Spuren)
- Romantische Reisen
- „Empirische“ Reisen
 
Selbst-Findung
Kunst- und Naturschwärmerei,
Volksleben
Entdeckung der sozialen und
politischen Gegenwart;
Kritik an Gesellschaft und Kirche
20. Jahrhundert
 
Moderner Massen-TourismusErholung, Sightseeing

 

 

 

Nach den Pilgern und den Kavalieren kamen die Bürger. Sie achteten auf den Bildungs- und den Nutzwert. Ihre Berichte signalisieren bereits den Siegeszug eines neuen Kunstideals. An die Stelle der barocken Vorliebe für üppige Formen und pathetisch theatralische Gesten trat die klare Linie und der edle Ausdruck   es war die Epoche Johann Joachim Winckelmanns, die Epoche der wiederentdeckten Antike. Das Schöne trat als neues, ästhetisches Ideal neben die religiösen und die gelehrten Werte. Die Nachahmung der antiken Kunst wurde zum künstlerischen Leitprinzip dieser von Winckelmann geführten Künstlergeneration. Das 18. Jahrhundert ist dennoch alles andere als einheitlich. Ich will im folgenden an vier Beispielen die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen aufzeigen, mit denen sich deutsche Reisende Italien genähert haben: an den Reisen Lessings, Herders, Heinses und Seumes.

 



 

 

Gotthold Ephraim Lessing

Zunächst zu Lessing. Betrachtet man seine geistigen Voraussetzungen, so schien er bestens gerüstet zu sein. Er war ausgebildet als klassischer Philologe, wohlbeschlagen in allen Fragen der Altertumswissenschaft und der bildenden Kunst, Verfasser so bedeutender Werke wie „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“ (1766), der Sammlung „Briefe antiquarischen Inhalts“ und der Abhandlung „Wie die Alten den Tod gebildet“.

Die einzigen Quellen für Lessings Italienerlebnis sind die Briefe, die er an seine Verlobte Eva König geschrieben hat, sowie ein fragmentarisch geführtes Tagebuch, das von der siebenmonatigen Reise nur sechs Wochen festhält. Zum Verständnis der besonderen Situation, in der Lessing seine Italienreise antrat, sind einige Vorbemerkungen unerläßlich.

Lessing hatte schon in früheren Jahren eine Italienfahrt geplant. Ein konkretes Angebot erhielt er 1775, als der zweiundzwanzigjährige Prinz Leopold von Braunschweig, der zweite Sohn von Lessings Dienstherrn, Lessing bat, ihn doch nach Italien zu begleiten. Lessing glaubte, er könne sich dem fürstlichen Ansinnen nicht entziehen.

 

Lessings Reiseroute

Für eine vergrößerte Ansicht klicken Sie bitte auf die Karte!

 

Die Reiseroute Lessings war von der fürstlichen Willkür abhängig, eine Tatsache, die ihm natürlich selbst am wenigsten zusagte. Ende April reiste man über Mailand nach Venedig. Gesundheitlich geht es Lessing nicht besonders; er muß sich zur Ader lassen. Der Prinz entschließt sich, nach Florenz weiterzureisen. Lessing muß wohl oder übel mit. „Das hat man nun davon“, so bricht er unmutig aus, „wenn man sich mit Prinzen abgibt! Man kann niemals auf etwas gewisses mit ihnen rechnen.“ Anfang Juni verläßt die Gesellschaft Venedig und gelangt über Bologna nach Florenz. Lessing empfindet alles andere als Begeisterung: „Wahrhaftig“, so lautet abermals sein Seufzer, „ich sehne mich herzlich wieder nach Deutschland. Denn in dieser Hitze in Italien herum reisen, um sich zu besehen, ist eine Sache, die mich gewaltig mitnimmt.“ Die Reisenden gelangen über Pisa, Livorno und einem Abstecher nach Korsika schließlich Anfang August in Genua an. Ein rund einmonatiger Aufenthalt in Turin folgt. Dort besucht Lessing das Museum und die Bibliothek, er macht die Bekanntschaft mehrerer Universitätsprofessoren. Dann geht es über Pavia und Piacenza nach Parma; dort besichtigt der Reisetroß die Malerakademie, die Bibliothek und die beiden Theater. Weitere Stationen sind Reggio, Modena und Bologna. Im September trifft man in Rom ein. Lessing hat in der Locanda Stuart am Spanischen Platz gewohnt, dem damaligen Zentrum des Fremdenviertels. Der Romaufenthalt, der nur von verschiedenen Abstechern nach Frascati, nach Albano und nach Neapel unterbrochen wird und insgesamt bis Ende Oktober dauert, steht im Zentrum von Lessings Notizen. Im übrigen muß er bald die Lust an der Tagebuchschreiberei verloren haben, denn die anfangs exakt datierten Eintragungen gehen unversehens in allgemeine Betrachtungen und gelehrte Notizen und Verzeichnisse über. Das Tagebuch löst sich in eine gelehrtenübliche Kladde auf, die nichts mehr von persönlichen Eindrücken verrät. Ende Dezember 1775 endete die Reise in Wien.

Trotz der ungünstigen Voraussetzungen dieser Reise ist es von Interesse, sich die Aufzeichnungen näher zu betrachten. Drei Gesichtspunkte standen für Lessing offenbar im Vordergrund: der Einblick in das italienische Leben der Gegenwart, die Beschäftigung mit allen möglichen Wissenschaften und die Kunstbetrachtung. Das von Lessing gewählte Verfahren ist gelehrten typisch. Er vergleicht seine Beobachtung mit den Berichten seiner Reiseführer Volkmann und Baretti. Beispielsweise erörtert er den Charakter der Piemonteser, ob sie lustigen Gemüts seien oder nicht. „Auf ihrem Markte, der mit Liedersängern, Gauklern, Improvisatoren angefüllt ist, versammeln sie sich zwar um sie, aber ohne die Teilnehmung, die man anderwärts in Italien findet.“ Freilich sind solche ausführlichen Beobachtungen die Ausnahme. Das Sprachproblem interessiert den Gelehrten; er stellt fest, daß die meisten Piemonteser „nicht einmal Italienisch verstehen“, sie sprechen entweder Französisch oder Dialekt. Seine besondere Verwunderung erregt die merkwürdige akademische Sitte, immer einen frisch promovierten Doktor zum Universitätsrektor zu wählen, und zwar allemal „den reichsten und vornehmsten“. Denn des Rektors Gehalt allein reichte zu den verschiedenen „Ehrenausgaben“ nicht aus. Undatiert sind noch einige Bemerkungen „Zu den Sitten der Italiener überhaupt“, ein paar Notizen über „Speisen der Italiener und Weine“. Hier hält er die „Gnocchi“, eine „Art von Mehlknöteln“ für besonders erwähnenswert   aber weniger wegen der darin steckenden Kochkunst, sondern, um allerlei gelehrte Bemerkungen anzubringen. Ein andermal verzeichnet er ein geflügeltes Wort: „Gli inglesi lo vogliono cosi, sagen die italienischen Wirte, wenn sie falsche Dinge auf ihre Rechnung setzen.“ Mehr als beiläufige Streiflichter, anekdotenhafte Kuriositäten sind das nicht. Systematisch hat sich Lessing jedenfalls der Beobachtung des Gegenwartslebens nicht gewidmet.

Im Grunde hätte man das gerade von Lessing auch nicht erwartet. Ein „Mehr“ schon eher vom Kunstenthusiasten wie das beim Verfasser des „Laokoon“ ja auf der Hand lag! Gleichwohl enthalten die Tagebuchaufzeichnungen gerade über die Laokoongruppe kein Wort! Wohl aber äußert sich Lessing über andere Kunstwerke, über Architektur und Malerei. Den Höhepunkt für den Kunstfreund bildete zweifellos der Romaufenthalt. Doch nach hingebungsvoller Kunstbegeisterung klingt seine nüchterne Inventur zweitklassiger Kunstwerke nicht gerade. Weder erwähnt er Michelangelos Pieta, noch spricht er von der Sixtinischen Kapelle, wohl aber von der Mosaikenfabrik hinter dem Dom. Ergiebiger sind die Aufzeichnungen über rein wissenschaftliche Interessen, über Antiquitäten, Bibliotheken und Gelehrte.

Der undatierte Teil der Aufzeichnungen bietet nur Kollektaneen, Aufschriebe zu Merkzwecken, Exzerpte einer italienischen Zeitschrift, gelegentliche Reflexionen, so etwa im Abschnitt „Von der italienischen Literatur überhaupt“, wo Lessing das Problem des „reinen“ Italienisch und das Verhältnis der Italiener zur neueren deutschen Literatur anspricht. Dann folgt eine seitenlange Rubrizierung zeitgenössischer italienischer Gelehrter: Mathematiker, Physiker und Philosophen, Historiker und Dichter. Hier schiebt Lessing einen Exkurs „zur Geschichte des italienischen Theaters überhaupt“ ein; Titel diverser italienischer Schauspiele und Opern vermitteln einen Eindruck vom Spielplan der damaligen Theatertruppen. Mit Antiquaren, Philologen und Stilisten schließt die Aufzählung. Ein weiteres Appendix nennt „Bücher, die ich noch zu haben suchen muß“, vor allem poetische Werke. Erich Schmidt, von dem nach wie vor die maßgebliche Lessingbiographie stammt, hat nicht zu Unrecht die „Armut“, die erkältende und drückende Wirkung dieses Tagebuchs betont.

Die Kargheit der Lessingschen Aufzeichnungen kommt nicht von ungefähr. Für ihn war die sinnliche Anschauung kein Bedürfnis. Das geht bereits aus seiner Auseinandersetzung mit der Winckelmannschen Interpretation des Borghesischen Fechters im 13. „Antiquarischen Brief“ mit ernüchternder Deutlichkeit hervor. Fast programmatisch klingt es, wenn Lessing hier erwidert: „Denn ich, ich bin nicht in Italien gewesen; ich habe den Fechter nicht selbst gesehen!   Was tut das? Was kömmt hier auf das selbst Sehen an?“

Auch die brisante Frage, ob es sich beim betrachteten Kunstwerk um ein Original oder nur um eine Kopie gehandelt habe, war für ihn letzten Endes sekundär. Die von Schiller in der „Thalia“ überlieferte Anekdote von Lessings Besuch im Mannheimer Antikensaal scheint hier repräsentativ zu sein. Lessing stellte nämlich die einigermaßen ketzerische Behauptung auf, ein Aufenthalt in diesem Antikensaal gewähre dem studierenden Künstler mehr Vorteile als eine „Wallfahrt zu ihren Originalien nach Rom“. Dort stünden die Kunstwerke entweder im Dunkeln oder zu hoch oder sie seien gar unter schlechteren Stücken versteckt, erlaubten also dem Kenner keine eingehende Betrachtung oder Befühlung. Die Dürftigkeit von Lessings Italienerlebnis ist paradigmenbedingt. Lessings Wahrnehmungsweise war durchaus „vorwinckelmannisch“, war polymathisch und antiquarisch. Lessing sieht alles – Kunst, Kuriositäten, Museen und Bibliotheken, ja sogar Menschen – durch die Brille des Bibliothekars und Büchergelehrten.

 

 

Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried Herder trat die Italien-Reise als Jünger Winckelmanns an, mit Goethe verband ihn der dringende Wunsch, den unerquicklichen Weimarer Verhältnissen zu entfliehen. Doch von Anfang an stand seine Reise unter dem Schatten von Goethes Italienaufenthalt. Im Juni 1788 war Goethe aus Italien zurückgekehrt, Anfang August brach Herder auf. Die Reise führte über Innsbruck und Bozen nach Verona und Ancona, dann ziemlich rasch nach Rom, wo Herder vom September bis Mai 1789 blieb. Unterbrochen wurde der Romaufenthalt durch eine Reise nach Neapel. Die Heimreise führte Herder über Florenz, Ferrara und Venedig. Im Juli 1789 traf er wieder in Weimar ein.

Auch Herder erhoffte sich vom Italienaufenthalt eine „geistige Wiedergeburt“, wie Goethe sie erlebt hatte. Aber anders als Goethe war Herder auf seiner Reise innerlich nicht frei, persönliche und finanzielle Belastungen drückten schwer auf sein hypochondrisches Gemüt. In Gedanken fortwährend bei der Familie in Weimar, bedrängt von beruflichen Problemen, kommt er selten zum ungetrübten Genuß der Gegenwart. Insbesondere Rom wirkt auf Herder abschreckend: als Mausoleum, als „Grab“, als „totes Meer“. Die Abneigung gegen Rom nimmt nach dem Besuch Neapels, dessen herrliche Lage ihn zu enthusiastischen Worten bewegt, geradezu idiosynkratische Formen an: traurig, tot, lästig und wüst sind die Attribute, mit denen er die Heilige Stadt bedenkt. Das auffallende soziale Elend, die Diskrepanz zwischen Arm und Reich registriert er nur beiläufig. Stärker befremdet den sittenstrengen Geistlichen die ungezügelte und unverhohlene Sinnlichkeit der Südländer. Nicht nur, daß der südliche Himmel den Geist erschlaffe und an den Müßiggang gewöhne, das sinnliche Leben halte geradezu vom Denken und vom Erwerbstrieb ab. Edlere Gefühle wie Liebe finden sich nur in Form des „sinnlichen Genusses“, und Herder ekelt sich schließlich vor dem „Troß der Buhlereien“.

In der Abgrenzung von Goethes Kunstverständnis wird der positive Ertrag von Herders Italienreise erkennbar. Nach dem Italienaufenthalt spielte die Kunst für Goethes Denken eine zentrale Rolle, er erblickte in der Kunst das „Ziel aller menschlichen Erhöhung“. Herder distanzierte sich vom selbstzweckhaften Künstler, dem alles, Natur und Menschen, nur zum Material der eigenen Produktion werde.

Im Unterschied zur Sehweise des schaffenden Künstlers Goethe reklamiert er für sich eine um Verstehen und Einfühlen bemühte Sicht. Herder sieht die Kunst – und bezeichnenderweise geht es vorwiegend um antike Kunst – mit anderen Augen an. Statuen und Kunstwerke, so bekennt er seiner Frau, schlössen ihm eine „ganz andre Welt“ auf und gewährten ihm „die schönste Philosophie“. Sie gelten ihm geradezu als „Kodex der Humanität in den reinsten und ausgesuchtesten, harmonischen Formen“.

Herders Zugang zur Kunst geht nicht über die Malerei, sondern eindeutig und ausschließlich über die Plastik, speziell über die antike Skulptur. So bezeichnet er gegenüber Herzog Karl August die Skulpturen als „das reizendste, was Rom“ habe – „alle Zeichen und Wunder Raffaels selbst nicht ausgenommen“. Und gleichlautend an Goethe: Die Gemäldegalerien jagten ihn immer zu seinen „geliebten Statuen“ zurück, von denen er sogar schon träume, sie seien im Grunde sein „liebstes und wahres Heiligtum“. Seine Wahrnehmung liegt ganz auf der Linie von Winckelmanns klassizistischer Ästhetik. Unter den Skulpturen bekomme die Seele „Formen der Wahrheit und Schönheit, des Anstandes und der Bildung allgemeiner Begriffe“, die sie vorher nicht gehabt habe und sonst nirgends in der Welt erlangen könne; unter den antiken Göttergestalten lerne man, „was in menschlichen Formen und Charakteren alles verborgen sei“, man werde „gar rein und vornehm, wenn man unter diesen Anschauungen“ lebe.

In seinen erst 1980 aufgefundenen Aufzeichnungen beschreibt Herder die antiken Götter als Verkörperung des reinen Menschentums. Das signalisieren die Epitheta „edel“ und „rein“, „groß“ und „hoch“, lauter ethisch-menschliche Attribute, mit ihrem unübersehbaren Hang zum Harmonisch-Idealisierenden. Diesem einseitigen ästhetischen Ideal entspricht die partielle Wahrnehmung: Herder fühlt sich nur in die Gruppe der apollinischen Schönheiten ein; die vitalistisch-dionysische Sicht eines Wilhelm Heinse bleibt ihm gänzlich verschlossen. Winckelmann, in dessen Fußtapfen Herder hier tritt, hatte vom vollkommenen Kunstwerk Ideengehalt, Schönheit und Anmut verlangt. Die bekannte Charakterisierung Winckelmanns mit den Schlagworten „edle Einfalt“ und „stille Größe“ klingt in Herders Beschreibungskategorien unüberhörbar nach.

Sechs Jahre später hat Herder die römischen Kunsteindrücke in den „Briefen zu Beförderung der Humanität“ (1795) verarbeitet. Die sechste Sammlung beginnt mit einem für die spätere Kunstphilosophie Herders bezeichnenden und daher gesperrt gedruckten Satz: „Auch die Griechische Kunst ist eine Schule der Humanität; unglücklich ist, wer sie anders betrachtet.“ Galt ihm früher nur die Geschichte als „Schule der Humanität“, so nimmt jetzt die Kunst mit ihren „ewigen Charakteren“ einen gleichberechtigten Platz ein. Die Kunst, die den Betrachter an „Seele und Körper“ besitzen soll, wird zum Teilbereich des humanistischen Bildungsauftrags. In der Nachfolge des antiken Kalokagathie-Ideals, der Vereinigung des Schönen und des Guten, begreift Herder das Sinnlich-Schöne als ein Sittlich-Schönes, als einen Verbund von Tugend, moralischem Anstand und sinnlich-reiner Schönheit.

Fast könnte man Lessing und Herder unter einem lebenspraktischen Gesichtspunkt zusammenbündeln – wie es in einem bekannten Gedicht  Eichendorffs heißt: „Wer in die Fremde will wandern, der muss mit der Liebsten gehn.“ Lessing und Herder haben ihre Liebsten zu Hause gelassen, unter Schmerzen, und das beeinflusst ihre Wahrnehmungen ziemlich negativ. Abgesehen von dieser Tatsache waren beide Autoren vom Typus her unsinnlich, tendierten zum abstrakten und zum spekulativen Denken. Entsprechend fallen ihre Wahrnehmungen aus, wobei Lessing dem antiquarischen, Herder dem klassizistischen Paradigma zuzuordnen ist.

 

Herders Reiseroute

Für eine vergrößerte Ansicht klicken Sie bitte auf die Karte!

 

 

Johann Jacob Wilhelm Heinse

Ganz anders die beiden nun folgenden Autoren, Heinse und Seume, die beide Konkretisten sind, jeglicher Spekulation und Abstraktion abhold. Entsprechend sinnlich und konkret wird dann ihre Italienwahrnehmung. Nebenbei waren beide Singles, und dementsprechend mit weniger Rücksichten belastet.

Steht der Name Winckelmanns für das „neue Sehen“ in der Kunst, so repräsentiert Rousseau die neue Wahrnehmung der Natur. Mit seinem Roman „Julie ou la nouvelle Héloise“ von 1761 hat Rousseau ein ganz neues Verständnis für Natur erweckt; erst jetzt nahm der Reisende Landschaft in ihrer eigentümlichen Schönheit wahr. Während der Reisende früherer Jahrhunderte beim Anblick etwa einer Wassermühle nüchtern nach dem Nutzwert fragte, erfreute man sich auf Rousseaus Spuren schwärmerisch und sentimental ausschließlich an der Schönheit, ohne Ansehen der Verwendbarkeit.

Die Hinwendung zur Natur war dem Barockzeitalter ganz fremd gewesen. „Die Kavaliere, Gelehrten und Diplomaten priesen das angebaute und von menschlicher Hand gepflegte Italien: sie liebten die Po-Ebene, die gartenähnlichen Gegenden um Lucca und an der Brenta.“ (Waetzoldt, S. 18f.) Das wilde und unbebaute Land erschien ihnen dagegen barbarisch und reizlos; kein Kavalier dachte daran, querwaldein durch den Appennin zu wandern.

Die sentimentalen Reisenden entdecken neue Landschaften; sie begeistern sich  für idyllische und erhabene Natur, etwa den Lago Maggiore mit seinen steil aufragenden Bergen, die verlassene heroische Campagna, die einsamen Sabiner Berge oder die ligurische Küste.

Zu den neuen künstlerischen Idealen gesellte sich die Vorliebe für die malerischen Reize südlicher Natur - nicht von ungefähr stellt das Epitheton „malerisch“ in den einschlägigen Reiseberichten ein besonders hohes Lob dar. Die Ästhetisierung der Natur gipfelte in der Apotheose der sentimentalen „Landschaft mit Ruine“. „Die römische Ruine wird zum klassischen Symbol solcher Stimmungen, in denen die Neigung zum Sentimentalen mit dem Sinn für das Pittoreske, die Natursehnsucht mit dem Vergänglichkeitsgefühl verschmilzt.“ (Waetzoldt, S. 19). Kennzeichnend für die empfindsame Reise ist das „subjektive Stimmungsbekenntnis“.

Dieses neue Sehen, das Kunst und Natur als organische Einheit wahrzunehmen versucht, läßt sich an den Tagebüchern Wilhelm Heinses exemplarisch nachvollziehen. Sie geben einen unmittelbaren Eindruck seiner italienischen Erlebnisse. Heinses Italienreise bildet, bei aller individuellen Eigenart, ein Paradebeispiel für den empfindsamen Reisenden.   

1746 geboren, gehört Heinse einer späteren Generation als Lessing an. Früh erwacht in ihm der Wunsch, nach Italien zu reisen, und er lernt eifrig Italienisch. Mitte Juni 1780 bricht er auf, in der Absicht, zwei Jahre in Italien zu verbringen. Stationen der Reise sind: Venedig, Ferrara, Bologna, Florenz, wo er im Juli 1781 eintrifft. Von Florenz wandert er nach Rom. Diese Wanderungen haben für den perfekt italienisch Sprechenden einen ganz eigentümlichen Reiz - verschaffen sie ihm doch in ganz anderem Maß als die langweilenden Kutschenfahrten Kenntnis von Land und Leuten. Seinen Wohnsitz schlug auch er in Rom auf. Sein Aufenthalt, der von Mitte 1781 bis Mitte 83 dauerte, wurde nur durch eine zweimonatige Neapelreise unterbrochen.

In Rom kauft er sich sogleich einen Stadtplan, um die Stadt für sich selbst zu erkunden, und zwar auf typisch empfindsame Art und Weise: Im Abenddämmern gelangt er zur Rotunda, die ihn tief beeindruckt; bei Mondenschein besucht er das Kapitol, das Kolosseum und den Spanischen Platz, wo er sein Domizil aufgeschlagen hat. Lebendige Eindrücke von Heinses römischem Aufenthalt vermitteln die Briefe und die Tagebücher. Kunst und Landschaft interessieren ihn besonders.

Was alles hatte Heinse in diesen drei Jahren gesehen? Heinse ist durch und durch Sensualist, die Wahrnehmung geht bei ihm mit allen Sinnen vor sich. Heinse konzentriert sich ganz auf Kunst und Natur. Heinse kennt zwar die gängigen Kunsttheorien, die Ansichten von Lessing, Winckelmann und Mengs, aber er betet diese Autoritäten nirgendwo nach. Gerade diese Selbständigkeit im Urteil, die theoretische Unvoreingenommenheit macht ihn heute interessant, weil sie späteren Maßstäben vorgriff, in ihrer antiklassizistischen, ihrer vitalistischen, ja dionysischen Sichtweise.
Drei Aspekte dieser Reise will ich hier besonders hervorheben und mit Beispielen illustrieren: (1) Heinses sentimentalische Naturwahrnehmung, (2) seine Beschäftigung mit Bildender Kunst und (3) Heinses Aufgeschlossenheit gegenüber den Italienern selbst.

1. Heinse ist in erster Linie Augenmensch. Seine Naturdeskriptionen weisen auf den Impressionismus voraus. Ich gebe ein Beispiel für seine Wortmalerei, die Beschreibung eines Sonnenuntergangs bei Rom:
„Ich habe noch keinen süßern Uebergang von Tag in Nacht gesehen. Die Harmonie der Lichttöne vom Saffranröthlichen in milchweißen Schimmer. Jetzt reines sanftes stilles Blau, gelöscht, und den Aschgrauen Saum der Wolken, die sich dunkel leicht auswölben, und unten sich alles in der Fluth wiederspiegelt, die hernach wie frische Quellentiefe fortströmt, und die grüne Nacht der Berge am Fuß, Abendstern vor mir, beynah Vollmond hinter mir, Nachtigallengesang, Grillenzirpen um mich, und aufschlipfende Fische, ist unbeschreiblich, nebst freudigen Menschenkindern in der Ferne.“ (III 2, 35)

Die Beschreibung zeigt, wie Heinse mit Farbnuancen arbeitet, mit dem Handwerkszeug des Malers also, daß er aber auch musikalische Momente einbaut. Heinse war ja ein ausgesprochener Musik- experte und hat selbst verschiedene Instrumente gespielt. Die Wortsympho- nie wirkt synästhetisch; verschiedene Sinneseindrücke werden durch Sprache erzeugt und miteinander verschmolzen. Der Endzweck dieser Farborgien ist es, in der Sprache einen analogen Eindruck zu erzeugen: die Verzauberung des Lesers. Nicht von ungefähr taucht deshalb das Wort „verzaubernd“ oder „zauberisch“ sehr oft im Zusammenhang mit Landschaftsbeschreibungen auf.

Heinse anthropomorphisiert mit einzelnen Adjektiven das Naturbild, belebt es mit menschlichen Sinnen. Diese Anthropomorphisierung geht bei Heinse immer in die Richtung sexueller Affekte - die beiden Wörter „wollüstig“ und „Schoß der Erde“ sind für diese Tendenz einigermaßen typisch. Heinse nennt die beschriebene Landschaft oft „malerisch“ oder „pittoresk“. Er rühmt den „allerpittoreskesten Anblick“ der Gegend um Civita Castellana. Dieses „Zaubertal“ (98) und die Berge - ein „ächtes Mahlermusäum“ (100) - erwecken in ihm den unwiderstehlichen Wunsch, im Fluß ein Bad zu nehmen - gleichsam symbolisch, um mit der Natur eins zu werden, oder, in Heinses eigenen Worten: „Wahre eigentliche Begattung mit der schönsten zauberischen Gegend.“ (97). Die Landschaft wird ihm zum „großen, in immer wechselnden Formen vollzogenen Liebesfest.“ (Mohr, S. 90ff.)

2. Nun zu Heinses Kunsturteilen. Einmal nennt er Winckelmann einen „Fantasten“ (VII, 219). Dieses Urteil bezeichnet die Distanz, die zwischen der Kunstanschauung beider Autoren herrschte (vgl. auch VIII 1, 460f.). Für Winckelmann stand die absolute Vorbildhaftigkeit der Antike außer Zweifel; der neuere Künstler komme nur über den Weg der Nachahmung zu eigener Größe.

Für Heinse - wie für Herder – sind Natur und Kunst gleichermaßen dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Heinse leugnet jede überzeitliche Norm. Kunst ist für ihn nur als „Abbild der Natur möglich“. Natur steht über der Kunst. So rühmt er einerseits Tizians Gemälde „Martyrium des hl. Petrus“ in der Venezianischen Kirche San Giovanni e Paolo als „das höchste“, das er geschaffen habe: das Stück sei „voll Natur und Schönheit“, relativiert diese Einschätzung jedoch umgehend: „Und doch wie wirft Natur alle Kunst über den Haufen! gleich daneben kniete eins der schönsten Venezianischen Mädchen, eine wahre Laura, nur reizender und heitrer und natürlicher. Welche Freyheit und reine Süßigkeit in ihrem Blick! und welch ein Geist im Zug ihrer netten festen Nase hervor, und welch ein Zauber Götterbeglückendes Wesen in ihrem Mund! Die Brüste wie zart empor schwellend! ihr Leib wie schlank zur seeligen Umarmung! So ein Geschöpf wirft bey einem Natursohn Römische Göttinnen auf die Seite.“ (VII, 195)

Wie die Beschreibungen von Statuen und von Bildwerken dartun, stellt „Leben“ für Heinse die oberste Kategorie auch für die Bewertung von Kunst dar. Die Verbindung von Kunst und Leben wird besonders in den hautnahen, dem Sexualbereich entnommenen Epitheta deutlich. Ungewöhnlich, aber noch recht harmlos die Bemerkung über eine Madonna Dominichos, sie habe „ein süßes Kußmäulchen voll welschem Aberwitz“ (VII, 78), an Michelangelos Eva in der Sixtina vermerkt er „einen vollen wollüstigen Hintern“ (VII, 81) - überhaupt ist „wollüstig“ eines seiner Lieblingsworte, wenn es gilt, anmutig-aufreizende Weiblichkeit zu beschreiben (VII, 157ff., 164f., 254, 260; VIII 1, 185, 189, 190, 195, 272, 284, 354). Dabei scheut sich Heinse auch nicht vor vulgärer Überdeutlichkeit, die zuweilen fast in Blasphemie ausartet. Das Wort „vögeln“ avanciert zu einem Lieblingswort, in dem sich ein pubertärer Befreiungsakt manifestiert. Überall sieht Heinse Kopulationen vor sich gehen. Die Venus Tizians erscheint ihm  als „ein rechtes Wollustferkel von den Hüften bis zu den Kniekehlen“. (VII, 164)

3. Noch ein paar Worte zu Heinses Erleben der italienischen Gegenwart. An den Italienern bewundert er Schönheit, Lebendigkeit und eine gewisse anmutvolle Natürlichkeit. Heinse erkennt völkerspezifische Unterschiede zwischen Deutschen und Italienern. Die Italiener leben kaum zielorientiert; ihr Ideal heißt „Gemächlichkeit“. Haben sie ihren täglichen Unterhalt, so lassen sie es genug sein und streben nicht nach weiterem, mit Unrast verbundenem Gewinn. Zweifellos stellt sich als Kehrseite dann ein gewisser Schlendrian ein. (VII, 239)

Die Italiener, ganz anders als die verstandesbetonten Deutschen, leben ganz aus der Empfindung, und dies bedeutet wieder die Verabsolutierung der Gegenwart: „Die Welschen sind wie die giftigen Thiere“, notiert Heinse kritisch. „Ihr Zorn ist Messerstich. Sie sind meist bloße Empfindung, ein tiefer Gedanke, oder Empfindung mit umgreifenden Gedanken kann nicht bey ihnen hausen. Und so leben sie immer für den Moment.“ (VII, 148; vgl. VIII 1, 403). Hauptgrund sind natürlich die Begünstigung durch schöne Natur und sonniges Klima. Für Heinse leben Menschen in den schönsten Landschaften am glücklichsten - selbst wenn sie blind gegenüber diesem Glück sind.

Über all der Begeisterung für die Schönheiten von Land, Kunst und Leuten entgehen Heinse nicht die krassen sozialen Gegensätze. Überall nimmt er Elend und Armut wahr. Einmal referiert er den Ausspruch, „die Bettler brächen ihren Kindern oft die Beine, und sagten alsdenn: der ist versorgt.“ (237) Er läßt es jedoch nicht bei der Bestandsaufnahme beruhen. Dieser mißliche Zustand dauere seit dem Beginn der päpstlichen Herrschaft. Heinse macht ohne alle Umschweife die Herrschaftsform für die Wohlfahrt des Staatswesens verantwortlich. Mit der Ablehnung des verweltlichten Papsttums geht das Loblied auf die republikanische Staatsform einher. Sie erst ermögliche die Freiheit des einzelnen und motiviere zu selbsttätiger Arbeit; Druck und Kontrolle dagegen ersticken jede Initiative im Keim. Heinses soziales und politisches Ideal war die Überwindung der alten Gesellschaftsformen. Die fressenden und saufenden Mönche sind für ihn der Inbegriff des sozialen Drohnentums.

Heinse grenzte Deutschland und Italien nicht ungerecht voneinander ab. Kaum in deutschen Regionen, im oberen Etschtal, empfindet er hautnah die nahrhaftere, frischere und rauhere Natur. Deutschland erscheint ihm als Verkörperung des Saftig-frischen, des Steifen und Plumpen, aber auch des Starken und „Freynackichten“, während die romanischen Länder das Trockene, Zarte, Feste und Feine repräsentieren. Deutschland ist das Land der Phantasie, Italien das des Genusses. Mit diesem fundamentalen Mentalitätsunterschied hängt es auch zusammen, daß die Deutschen sich mit ihrer Region, ihrem Klima nicht identifizieren können und die Halbzeit ihres Lebens in Sehnsucht und Traum verbringen, während die Italiener zur völligen Identifikation mit ihrer Umgebung und sich selbst finden. Der Deutsche, der Welt der Imagination und der Gedanken zugeordnet, lebt immer halb in der Zukunft; der Italiener, ganz dem Diesseits zugewandt, kennt nur die Gegenwart.

 

Heinses Reiseroute

Für eine vergrößerte Ansicht klicken Sie bitte auf die Karte!

 

 

Johann Gottfried Seume

Der Blick auf die italienische Realität verstärkt sich beim vierten Reisenden, dem großen Fußwanderer Johann Gottfried Seume. Nachdrücklich erklärt er in seinem Reisebericht, dem 1803 erschienenen „Spaziergang nach Syrakus“, er sei nicht nach Italien gegangen, „um vorzüglich Kabinette und Gallerien zu sehen“ oder um gelehrte Studien zu treiben (SS, S. 97). Er trat die Reise als freier Mann an, nicht eingezwängt durch Rücksichtnahmen auf Adel und Klerus, oder eine Familie. Der achtunddreißigjährige war noch Junggeselle. Im Dezember 1801 brach er auf und wanderte in nur neun Monaten von Wien über Triest, Venedig, Bologna und Rom bis Neapel – von hier ging es dann mit dem Schiff nach Palermo – dann weiter zu Fuß rund um Sizilien herum; zurück nach Neapel, Rom, Florenz, Mailand, Zürich, Basel, Paris, Nancy, Straßburg, Frankfurt am Main, Weimar und schließlich nach Leipzig.

Auf den ersten Blick weicht auch Seumes Reise nicht von der üblichen Besichtigungsroute vornehmer Italienfahrer ab: sie führt zu bekannten Kunstwerken und Naturwundern, zu den Originalschauplätzen antiker Literatur und großer Geschichte, zu Denk- und Grabmälern berühmter Männer. In der konkreten Ausführung aber unterscheidet sich Seume gravierend von seinen Vorgängern. Er reist gewissermaßen „alternativ“ – zu Fuß nämlich, was sicher die billigste, zugleich aber die unbequemste und gefährlichste Reiseart war. Er begründet den Verzicht auf Reisekomfort finanziell und weltanschaulich: „Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt <...> Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt“ (MS, S. 638).

Mit seiner Fußwanderung protestiert er gegen das Reiseprivileg des begüterten Italienfahrers, gegen die ständische Beschränkung der spätfeudalen Gesellschaft. Seumes eigene soziale Außenseiterposition und die Fußgängerperspektive garantieren den Blick „von unten“; anders als die Bildungsreisenden kommt er hauptsächlich mit den unteren Bevölkerungsschichten in Berührung. Die engagierte Beobachtung des gegenwärtigen Lebens, die Parteinahme für die Entrechteten und sozial Gedrückten verdrängen zunehmend die vagen bildungsbürgerlichen Motive.

Als Fußgänger lernt Seume ein zerrüttetes Land kennen, dessen Bewohner moralisch und meist auch physisch am Ende sind. Die ernüchternde Gegenwart Italiens verdrängt die Zeugen der großen Vergangenheit. Roma aeterna, für Goethe und viele seiner Zeitgenossen das künstlerische Mekka, der Ort geistiger Wiedergeburt, erscheint Seume als „Kloake der Menschheit“ (SS, S. 217).

Wörtlich: „Die Straßen sind nicht allein mit Bettlern bedeckt, sondern diese Bettler sterben wirklich daselbst vor Hunger und Elend. <...> Ich selbst habe einige niederfallen und sterben sehen (SS, S. 217). <...> Man kann hier sein und sich wohl befinden, nur muß man die Humanität zu Hause lassen.“ (SS, S. 219).

Fußgängerperspektive, persönliche Leidensbiographie und aktuelle Geschichte schärfen Seumes Blick für die Kehrseite des offiziellen Italienbildes; Schritt für Schritt wird der „Mythos Arkadien“ entzaubert. Die Faktizität wird ihm zum erklärten Maßstab des Reiseberichts. Dies führt zu einer bisweilen pedantisch anmutenden Auflistung des Handfesten – man findet die Preise für Unterkünfte und Maultiere ebenso verzeichnet wie die Qualität landesüblicher Mahlzeiten oder der italienischen Straßenverhältnisse. „Faktizität“ heißt für Seume, daß Italien nicht zur Chiffre für südliche Harmonie, für große Kunst und Geschichte verkommt, sondern daß die politischen und sozialen Verhältnisse im Zentrum stehen.

Seume unterscheidet strikt zwischen Volk und Regierung; die Italiener gelten ihm als brave, ja als edle Nation. Er gibt der feudalistischen Verfassung, der korrupten Regierung und dem „Religionsunwesen“ die ausschließliche Schuld an der Misere, der Vergrößerung der sozialen Kluft zwischen Arm und Reich, der Unsicherheit auf den Straßen und der intellektuellen Unterdrückung (SS, S. 213). Insbesondere auf Mönche und Klöster hat Seume einen ausgesprochenen Pik; er sieht in ihnen, diesem „geistlichen Mastheer“, diesem „Ungeziefer des Staats“, nur abergläubische Heuchler und Schmarotzer, einen Ausbund an Unvernunft und Nutzlosigkeit (SS, S. 217 und S. 162). Weltliches und geistliches System stützen einander auf Kosten des Volkes. Fortwährend begegnen Ausfälle gegen Kirche und orthodoxen Glauben. Im napoleonisch geordneten Italien erkennt er den restaurativen Charakter kirchlicher Lehren, die – entgegen der christlichen Intention – die soziale Ungerechtigkeit nicht beseitigen, als sie vielmehr zementieren.

berall erblickt er die „Nebelkappe der Vorurteile, der Privilegien, des eisernen Gewissenszwanges“ (SS, S. 214). Das christliche Kreuzeszeichen symbolisiert ihm „knechtische Geduld“ und „subalterne Tugend“ – also Eigenschaften, die gerade in einem so unterjochten und korrupten Land fehl am Platze sind (SS, S. 236/237). Das Dogma von der „Vergebung der Sünden“ scheint ihm in der Praxis nur der Vermehrung der Bösewichter zu dienen, indem es ja präsumptiv Straffreiheit zusichert (SS, S. 203). Gegen den orthodoxen Katholizismus reklamiert er für sich selbst einen „Katholizismus der Vernunft, der allgemeinen Gerechtigkeit, der Freiheit und der Humanität“ (SS, S. 214).

Hinter der stark politisch-zeitgeschichtlichen Akzentuierung seines Reiseberichts tritt die Auseinandersetzung mit der italienischen Vergangenheit und Kunst zurück. Auffallend jedenfalls und nicht allein als Banausentum erklärbar ist Seumes prononciertes Desinteresse an Kunstschätzen. Daß er „gegen den an Kunstwerken orientierten Begriff einer ästhetischen Kultur“ ein praxisbezogenes Kulturverständnis setzt, belegt den symptomatischen Wechsel von der Ästhetik zur Politik. Die Plastiken, in denen Herder den Gipfel einer humanistisch geprägten Antike erblickt, besitzen für Seume keinen Wert an sich. Auch Bauwerke bewertet er unter dem Aspekt der gegenwartsbezogenen Nützlichkeit; ihr Nutzwert versöhnt sogar mit der kirchlichen Herkunft: „Eine Wasserleitung halte ich überall für eins der wichtigsten Werke und für eine der größten Wohltaten <...> Wenn ein Papst eine recht schöne wohltätige Wasserleitung baut, kann man ihm fast vergeben, daß er Papst ist“ (SS, S. 75).

Ähnlich wie in der Kunstbetrachtung folgt Seume auch in seiner Einschätzung von Geschichte pragmatischen Gesichtspunkten: Wenn ihm die Geschichte letztlich nur Belegmaterial für richtiges und falsches Handeln liefert, so vertritt Seume hierin zwar einen vorherderschen Standpunkt. Das Neue und Zukunftsweisende seiner Betrachtung ist jedoch die Verlagerung vom Individuum auf den Staat. Statt von einem ethisch-humanistischen Persönlichkeitsideal auszugehen, fragt er nach der ungeschminkten sozialen und politischen Realität. Erst sie ermöglicht seiner Meinung nach die Ausbildung, die Selbstfindung und Verwirklichung des Einzelnen. So zielen Verfassung und Politik konsequenterweise nicht auf das große Individuum und dessen Glück, sondern auf die Gemeinschaft und das Gemeinwohl. Begründet sieht er die Sklavenhalter- Gesellschaft in der Unzulänglichkeit antiker Freiheits- und Gerechtigkeitsbegriffe.

Die Opposition gegen die „Anbeter der griechischen Humanität“ prägt auch Seumes Naturwahrnehmung. Die ästhetische ist der pragmatischen Dimension durchweg untergeordnet, detaillierte Beschreibungen finden sich kaum. Entsprechend dem einseitigen agrarischen Wirtschaftsideal der Aufklärung zieht Seume Kulturlandschaften der wilden und erhabenen Natur vor. Landschaft gewinnt, ähnlich wie das Geschichtsmaterial, erst in ihrer Verwendbarkeit Wert für die Menschen. Als Ausdruck menschlichen Fortschritts dokumentiert sie zugleich deren politische Verfaßtheit – der Zustand der Kulturlandschaft wird zur Anklage oder zur Legitimation des Herrschaftssystems, das über sie verfügt. Der faktische Widerspruch, daß ein „wahrer Hesperidengarten“ „von elenden Bettlern“ wimmelt, lenkt den Leser, ohne moralischen Zeigefinger, auf die politische Ursache (SS, S. 126).

Das empirisch aufgehäufte Material, alle beobachteten und niedergeschriebenen Fakten, erhält eine politische Funktion: es soll die Überlegenheit einer freien Gesellschaft über eine feudale Gesellschaft erweisen. Konsequenterweise spielen bei seinen Beobachtungen Kategorien wie Rasse und Nationalcharakter keine Rolle. Wo er Freundlichkeit und sittliches Verhalten vermißt, führt er den Mangel auf soziale und politische Gründe zurück. Das Gesetz, dem Seumes Empirismus und dessen regimekritischer Einsatz sich verpflichtet weiß, ist der Humanitätsglaube. „Rauhe Schale, edler Kern“ – die Inschrift auf Seumes Gedenktafel verweist trotz ihrer banalen Vordergründigkeit auf dieses organisierende Humanitäts-Postulat.

 

Seumes Reiseroute

Für eine vergrößerte Ansicht klicken Sie bitte auf die Karte!

 

 

Vier Reisende – vier Italienbilder

Vier Reisende – vier Italienbilder. Schon Goethe hatte dem mißlaunigen Herder von Weimar aus zugerufen „Wie der Mensch ist, muss es ihm werden“. Goethe hatte in Italien bekanntlich eine geistige „Wiedergeburt“ erlebt, in Wahrheit eine klassizistische Wendung genommen, die ihn aus einer Schaffenskrise erlöst hatte. Davon kann weder bei Lessing noch bei Herder die Rede sein, wohl aber bei Wilhelm Heinse, der ähnlich Goethe, in Italien ungeheure künstlerische Eindrücke erhält, die er dann in seinem berühmten Roman „Ardinghello“ verarbeitet und damit ein neues Renaissancebild kreiert. Die Ich-Zentriertheit Goethe verhindert auch eine unvoreingenommene Wahrnehmung der italienischen Wirklichkeit: sie wird verklärt. Alles Negative, Dunkle und Hässliche, Armut und Elend bleiben ausgeschlossen. Heinses Italienbild ist durchaus ambivalent. Neben den Lichtseiten kommen auch die Schattenseiten zu Wort: die miserablen sozialen und ökonomischen Zustände unter dem weltlichen und dem geistlichen Regiment. Seume verstärkt insbesondere die Kritik an der Herrschaft der Kirche. Seumes Betrachtungsweise ist realistisch und kritisch, statt Verklärung findet man zorniges Engagement. Die Perspektive hat sich geändert. Nicht mehr die Höfe, die Kirche und die Kunst stehen im Zentrum des Interesses, sondern das einfache Volk und dessen Nöte. Das individualistische Ideal des Künstlers, wie es ja für die Goethezeit und für die Nazarenerphase bezeichnend ist, wird hier abgelöst durch eine demokratische Sichtweise, die sich auf Regierungsformen und soziale Zustände konzentriert. Nur wo die Verhältnisse stimmen, kann es auch dem Volk wohl ergehen. Seume, ein radikaler Demokrat, nimmt die großen sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts vorweg. Die kunstorientierte Wahrnehmung wird abgelöst durch eine soziale Sicht der Dinge. Das Zeitalter der großen sozialen Kämpfe hat begonnen.


(Vortrag an der Universität Duisburg, 18.6.2003)

 

 

 

Literaturangaben:

Beller, Manfred: Le Metamorfosi di Mignon – L’immigrazione poetica dei tedeschi in Italia da Goethe ad oggi. Brescia/Mailand 1985.

Ders.: Geschichtserfahrung und Selbstbespiegelung im Deutschland-Bild der italienischen und im Italien-Bild der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Arcadia 17 (1982) S. 154-170.

Černohous, Hildegard: Das Gesicht Italiens in den deutschen Briefen, Reisebeschreibungen und Novellen des 19. Jahrhunderts, ge¬zeigt an einer Auswahl von Dichtern, Diss. Wien 1937. [ Masch.]

Emrich, Wilhelm: Das Bild Italiens in der deutschen Dichtung. In: Studien zur deutsch-italienischen Geistesgeschichte. Köln 1959. S. 21-45. Wiederabdr. in: W. E.: Geist und Widergeist. Wahrheit und Lüge der Literatur. Frankfurt a. M. 1965. S. 258-286.

Erné, Nino: Deutsche Künstler in Italien. In: N. E.: Italien süß und sauer. Wiesbaden/München 1975. S. 236-247.

Friedländer, Ludwig: Reisen in Italien in den letzten vier Jahrhunder¬ten. In: 1.. F.: Erinnerungen, Reden und Studien. Bd: 2. Straßburg 1905. S. 448-497.

Graevenitz, Gerhart von: Deutsche in Rom. Studien und Skizzen aus elf Jahrhunderten. Leipzig 1912.

Grimm, Gunter E., Ursula Breymayer, Walter Erhart: „Ein Gefühl von freierem Leben“. Deutsche Dichter in Italien. Stuttgart 1990.

Häusler, Regina: Das Bild Italiens in der deutschen Romantik. Bern/ Leipzig 1939.

Harnack, Otto: Deutsches Kunstleben in Rom im Zeitalter der Klas¬sik. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. Weimar 1896.

Hinterhauser, Hans: L’Italia e gli italiani nella letteratura tedesca contemporanea. In: Teilnahme und Spiegelung. Festschrift für Horst Rudiger. Berlin / New York 1975. S. 531-547.

Ipser, Karl: Venedig und die Deutschen. Deutsche, Osterreicher und Schweizer am Rialto. München 1976.

Jedin, Hubert: Die deutsche Romfahrt von Bonifatius bis Winckel¬mann. Krefeld 1951.

Jung-Inglessis, E. M.: Romfahrt durch zwei Jahrtausende in Wort und Bild. Bozen 1976. 1982.

Kapp, Volker: Der historische Standort der neueren italienischen Literatur und das derzeitige deutsche Italienbild. In: Germanisch¬romanische Monatsschrift. N.F. 32 (1982) S. 60-73.

Klenze, Camillo von: The Interpretation of Italy during the last two centuries. Chicago 1907.

Lesser, Jonas: Deutsche Südsehnsucht. In: Deutsche Rundschau 89 (1963) H. 8. S. 37-50.

Link, Manfred: Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine. Diss. Köln 1963.

Maugham, H. Neville: The book of Italien Travel (1580-1900). Lon¬don / New York 1903.

Mead, William Edward: The Grand Tour in the eighteenth century. Boston / New York 1914.

Noack, Friedrich: Das deutsche Rom. Rom 1912.

Ders.: Das Deutschtum in Rom seit dem Ausgang des Mittelalters. 2 Bde. Berlin/Leipzig 1927.

Oswald, Stefan: Italienbilder. Beiträge zur Wandlung der deutschen Italienauffassung 1770-1840. Heidelberg 1985.

Rehm, Walter: Europäische Romdichtung. München 1939. 2. Aufl. 1960.

Requadt, Paul: Die Bildersprache der deutschen Italiendichtung. Von Goethe bis Benn. Bern 1962.

Rüdiger, Horst: Literarisches Klischee und lebendige Erfahrung. Über das Bild des Deutschen in der italienischen Literatur und des Italieners in der deutschen Literatur. Düsseldorf o. J.

Ders.: L’immagine dell’Italia nello sviluppo della civiltà tedesca della con¬troriforma all’ultimo Romanticismo. In: Acme. Annali delle Facol¬tà di Filosofia e Ledere dell’Università Statale di Milano. Bd. 3 (1950) S. 355-381.

Schenck, Christiane: Venedig im Spiegel der Decadence-Literatur des Fin de siècle. Frankfurt a. M. / New York 1987.

Schudt, Ludwig: Italienreisen im 17. und 18. Jahrhundert. Wien / München 1959.
Bohrmann, Alfred: Das Tramontane oder die Reise nach dem gelobten Lande. Deutsche Schriftsteller in Italien 1755-1808. Heidelberg: Uni-Verlag 1998.


Die Zitate sind folgenden Ausgaben entnommen:

Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Bd. 6. Kunsttheoretische Schriften und kunsthistorische Schriften . Hrsg. von Albert von Schirnding. München 1974, S. 831 f.

Wilhelm Heinse: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Carl Schüddekopf. Bd. 10, 2. Teil. Leipzig 1910, S. 139-141.

Johann Gottfried Herder: Italienische Reise. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen 1788 – 1789. Hrsg., komm. und mit e. Nachwort versehen von Albert Meier und Heide Hollmer. München 1988.

Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Mit einer Einleitung von Werner Kraft. Darmstadt 1974, S 483-487.

Das Fach- und Kulturportal der Goethezeit