Italiensehnsucht in der Goethezeit
Goethes »Italienische Reise«
Gunter E. Grimm | Danica Krunic
Einleitendes zur Italienwahrnehmung
Italien – das Land deutscher Sehnsucht
In den letzten Jahrhunderten ist Italien von den deutschen Dichtern, Künstlern und Denkern immer wieder mit unterschiedlichen Zielen und Vorstellungen bereist und neu entdeckt worden. Hierbei interessierten sich die Italienbesucher immer wieder für dieselben Gegenstände: das Land mit seinen Naturschönheiten, die von der Antike über die Renaissance bis zur Gegenwart reichende Kultur und schließlich die Bewohner der verschiedenen italienischen Regionen. Das Hauptinteresse der Italienfahrer konzentrierte sich auf die drei Städte Rom, Florenz und Venedig.
Rom galt jahrhundertelang als Inbegriff weltlicher und christlicher Geschichte, als Caput Mundi, als ewige Stadt, als Kosmos im kleinen. Während andere Städte, wie Florenz oder Bologna, Padua oder Neapel, ein geschlossenes Stadtbild besitzen, birgt Rom so viele verborgene Schätze, die selbst ein wochenlanges Durchstreifen erst langsam erschließt. In Rom haben Antike, Mittelalter, Renaissance und Barock ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen, hier umweht den Besucher mächtig der Geist der Geschichte, das Bewußtsein, auf demselben Boden zu wandeln wie Cäsar und Augustus, wie Apostel Paulus und Volkstribun Rienzi, wie Michelangelo und Raffael. Auch für Goethe stand der Romaufenthalt an der Spitze der italienischen Eindrücke. Hier fand er nach eigenem Bekenntnis zu sich selbst, hier sei er, »übereinstimmend« mit sich selbst, »glücklich und vernünftig« geworden.
Florenz stand lange Zeit im Schatten Roms. Wer von Florenz nach Rom fuhr, der vergaß alsbald die Stadt am Arno; wer die Städte in umgekehrter Reihenfolge besuchte, dem wollte Florenz nach der römischen Vielfalt und Monumentalität auch nicht recht schmecken. Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, als die Vorliebe für Geschichte und Kunst der Renaissance geweckt war, erhielt Florenz einen eigenen Rang in der Perlenkette städtischer Attraktionen.
Venedig, die dritte Stadtattraktion Italiens, besticht durch seine eigentümliche geographische Lage und mußte noch nie den Vergleich mit Rom scheuen. Schon immer galt es als exotische Perle des Mittelmeers, als Märchenstadt, wo Orient und Okzident einander die Hand reichen, Meer und Land sich begegnen. Eine Stadt für Träumer, die schon immer Künstler, Maler, Dichter und Komponisten inspiriert hat. Freilich blieben die Gefühle der meisten Reisenden zwiespältig gegenüber Venedig; die einen empfanden den Zauber, die andern sahen den Schmutz, die einen rochen den Duft des salzigen Meers, die andern witterten Verfall.
Bedeutungswandel des Italienmythos
Je nach dem, welche Städte der Reisende besuchte, erhielt er eine differenzierte kulturelle Ansicht Italiens, und schuf somit regional bedingt voneinander abweichende Italienbilder. Doch auch jede Epoche hatte die ihr eigenen Wahrnehmungsparadigmen und entwarf eigene Italienbilder, die den jeweils vorhergehenden polemisch, meist kontrovers gegenübergestellt wurden.
Wie die Geschichte des Reisens, die Apodemik, lehrt, hat es im Laufe der Jahrhunderte sehr unterschiedliche Arten des Reisens gegeben. Im Mittelalter waren es Pilger und Ritter, die aus religiösen oder politischen Gründen die beschwerliche und gefahrvolle Romfahrt auf sich nahmen und sich den Teufel um Kunst und Land und Leute scherten.
Erst im 17. Jahrhundert wandelte sich die Motivation. Epochenüblich wurde die »Grande Tour«. Auf diesen »Kavaliersreisen« der Barockzeit, sollte der jugendliche Adelige fremde Länder und Sitten kennenlernen, um, welterfahren zurückgekehrt, ein wohldotiertes Amt antreten zu können. Bis dahin reiste man sehr zweckhaft. Im Hintergrund stand entweder das Seelenheil oder der berufliche Aufstieg, die wissenschaftliche Laufbahn oder die Beamtenkarriere.
Nach den Pilgern und den Kavalieren kamen die wohlsituierten Bürgersleute. Als diese in hochrädrigen Kutschen über die Alpenstraßen gen Süden rumpelten, setzte die systematische Italien-Panegyrik ein. Die Bürger achteten nun auf den Bildungs- und Nutzwert ihrer Reise. Auf diesen »Bildungsreisen« durch`s sonnige Italien absolvierte man ein obligatorisches Ausbildungsprogramm, das zu den klassisch antiken Städten, Kunstschätzen und Denkmälern führte. Obligatorisch waren etwa die Stationen Rom, Neapel, Pompeji, Vesuvio und Paestum. An ihnen sollte man sein Wissen erweitern und Weltkenntnis erwerben. Als Schlüsseltext dieser Zeit galt Johann Caspar Goethes in italienischer Sprache geschriebenes »Viaggio in Italia« (1740).
In dieser Zeit fand eine enzyklopädische Italienreise statt, die ein humanistisch vermitteltes Italienbild mit realistisch-konkreten Impressionen konfrontieren, ergänzen und verlebendigen sollte. Die Berichte dieser Italienreisenden signalisieren bereits den Siegeszug eines neuen Kunstideals. An die Stelle der barocken Vorliebe für üppige Formen und pathetisch-theatralische Gesten traten die klare Linie und der edle Ausdruck. Es war die Epoche der wiederentdeckten Antike, die Epoche Johann Joachim Winckelmanns, der mit seiner »Geschichte der Kunst des Altertums« (1764) einen Markstein in der Geschichte der Italienwahrnehmung setzte. Mit dieser epochemachenden Monographie begann nicht nur die Entdeckung der griechisch-römischen Antike, hier lagen die Anfänge für historisches Verstehen von Kunst und Kultur, die Anfänge der modernen Kunstgeschichtsschreibung. Zugleich traf fortan das Schöne als neues ästhetisches Ideal neben die traditionellen religiösen und gelehrten Werte. Die Nachahmung der antiken Kunst avancierte zum künstlerischen Leitprinzip dieser von Winckelmann geführten Künstlergeneration. Dabei war Italiens klassische Antike anfangs nur ein Surrogat: Sie empfahl sich Winckelmann, da Italien leichter zugänglich war als Griechenland.
Aber auch Johann Jakob Volkmann, der Verfasser eines vielkonsultierten Italienhandbuchs »Historisch-Kritische Nachrichten aus Italien« (1770/71), lenkte mit seinen einfühlsamen Schilderungen eine ganze Generation:
Ein Reisender, der feine Empfindung genug hat, um durch die Schönheiten, woran die Natur in Italien so reich ist und welche die Kunst weit übertreffen, gerührt zu werden, der trifft in diesem Lande eine Menge von Szenen an, welche ihm die größte Abwechslung darbieten.
Der Glanz der schönen Künste, das »schöne fruchtbare Land«, der freundlich-sorglose Charakter der Einwohner gehörten zu den stärksten Eindrücken, die Volkmann in Italien aufnahm. Noch Goethe reiste mit diesem Handbuch nach Italien.
Ein nicht minder wirkungsmächtiges Ereignis war Jean-Jacques Rousseaus Roman »Julie ou La nouvelle Héloise« (1761), der ein ganz neues Verständnis für Natur erweckt hat. Erst jetzt nahm der Reisende, schwärmerisch und sentimental, Landschaft in ihrer eigentümlichen Schönheit wahr, und zwar ohne Ansehen ihres Nutzwerts. Zu den neuen künstlerischen Idealen gesellte sich die Vorliebe für die malerischen Reize südlicher Natur. Das Ideal der freien, wild gewachsenen Natur verdrängte die gepflegten und geometrisch gezirkelten Parkanlagen. Die Ästhetisierung der Natur gipfelte in der Apotheose der sentimentalen »Landschaft mit Ruine«.
Den Übergang vom Naturenthusiasmus zur Kunstschwärmerei beschritt Wilhelm Heinse, der in den Jahren von 1780 bis 1783 durch Italien reiste, und die italienische Landschaft, Kunst der Antike und die Renaissance mit enthusiastischen Worten schilderte. Sein Italienerlebnis, das ihn als Schriftsteller entscheidend prägte, hat er in dem von Sinnlichkeit überschäumenden Roman »Ardinghello oder Die glückseligen Inseln« (1787) künstlerisch gestaltet, in seiner Apotheose der Kunst und der Vitalität ein Vorläufer Jakob Burckhardts und Friedrich Nietzsches. Mit Heinse setzt auch die Tradition ein, »Italien« als ein Wunsch- und Gegenbild zur Enge deutscher Verhältnisse zu sehen. Denn bisher galten Deutschland und Italien als zueinander analoge Länder, die sich komplementär ergänzten. Man erkannte Italiens eigene Identität nicht an, da es nur als Ersatz für das schwerer zugängliche Griechenland fungierte.
Noch deutlicher zeigt sich der deutsch-italienische Kulturgegensatz bei Johann Wolfgang von Goethe. Goethe setzt dem kalten engstirnigen Norden (= Deutschland) den sonnigen paradiesischen Süden (= Italien) entgegen:
Hier, wo sich schöne Natur paart mit antiker Kultur.
Seit Goethes klassischem Werk »Die italienische Reise« (1786) datiert das Ideal der modernen Bildungsreise. Denn Goethes Italienerlebnis vereinigte beide Strömungen, die Liebe zur Natur und zur antiken Kunst. Goethe überhöhte sie jedoch im Credo der großen Persönlichkeit, die sich am Reiseerlebnis bilden und – frei von den Zwängen des Berufslebens – die angeborenen Anlagen entfalten und entwickeln wollte. Also eine Bildungsreise, die nicht bloß dem Kennenlernen historischer und künstlerischer Sehenswürdigkeiten, sondern vor allem der Selbstbildung, der Kultivierung der Persönlichkeit des Reisenden zugute kommt. Das heißt, er differenzierte die klassische enzyklopädische Italienreise zur individuelleren sensualistischen Italienreise. Und gab den normativ kritischen Blick der Aufklärer auf, um ein ästhetisiertes Italienbild zu schaffen. Winckelmanns und Rousseaus gegenständliche Wahrnehmung, also dem alleinigen Erwerb und Verarbeitung von Fakten und Wissen, erschien nun durch eine innengeleitete Zweckbestimmung ergänzt und vertieft. Natur- und Kunststudium dienten Goethe der Persönlichkeitsbildung, der Vervollkommnung des Ichs. In der Hoffnung, seine Weimarer Konflikte im Süden überwinden zu können und hier die harmonische Übereinstimmung von Kunst und Leben in Italien zu finden, entfloh er den Zwängen der Heimat. Das Schlagwort von der »geistigen Wiedergeburt« durchzog seitdem zahlreiche Reiseberichte, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen deutscher Italienfahrer.
Während das deutsche Italienbild mit Goethe eine starke Ästhetisierung erlebte, überwog bei seinem Zeitgenossen Johann Gottfried Seume hingegen die kritische Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Aspekten. Seume lehnte es sogar explizit ab, in die vorherrschende Tradition der Kunst und Bildungsreisen eingefügt zu werden. So zeichnete er in seinem Werk »Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802« ein völlig diverses Italienbild, eine Art Gegenbildungsreise zu Goethe. Seume suchte in Italien nicht wie Goethe das Ideal der Antike oder wie Heinse das freie sinnliche Leben, sondern den unmittelbaren Zugang zur italienischen Lebenswirklichkeit. Zentrales Thema war die kritische Gegenüberstellung von Antike und Gegenwart und die damit verbundene Konfrontation mit den aktuellen politisch-sozialen Missständen in Europa. So beschrieb er die unmittelbare Lebenswirklichkeit der unteren Klassen außerordentlich detailliert und machte die katholische Kirche für das vorherrschende Elend verantwortlich.
Während es bisher dem Adel und dem wohlhabenden Bürgertum vorbehalten war nach Italien zu reisen, so erweiterte sich im 19. Jahrhundert der Kreis der Italienreisenden durch den Ausbau der Verkehrsmittel und Wege beträchtlich. Auch gab es Veränderungen in der gewohnten Reiseroute: Suchte man bisher die normierten klassischen Städte und Orte auf, so bestimmte nun das neu erwachte Interesse an mittelalterlicher Kunst die neue Reiseroute durch Italien. Man besuchte die Zentren altitalienischer Malerei in der Toskana und Umbrien: Florenz, Siena, Pisa, Assisi, San Gimignano, Perugia, Orvieto etc.
Das romantische Italienbild ist nicht mehr ausgestattet mit den tradierten Winckelmannschen Zügen, sondern artikuliert sich in Naturdarstellungen, italienischen Volksleben und Volkskultur, Mystik, Katholizismus, schwärmerischen Liebesgenüssen etc. Während die Romantiker wie Eichendorff das schwärmerisch-christliche Motiv in den Vordergrund stellten, etablierte Heine wieder eine deutlich politisch geprägte Sichtweise.