Inge Nunnenmacher
Wilhelm Hauff
und sein Roman Lichtenstein
Folge I
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Eingestellt: März 2013
Ergänzungen: August 2015
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Gliederung
1. Biografie Wilhelm Hauffs 2. Ein Roman als Markenzeichen: Lichtenstein 3. Der Inhalt des Romans 4. Und die „historische Wahrheit“? 5. Der Pfeifer von Hardt – eine populäre Gestalt a. Die Romanfigur b. Georg Mühlbergs Postkartenserie und der Romantext c. Kurzbiografie Georg Mühlbergs d. Eine Figur mit Identifikationspotential 6. Gustav Schwabs Der Hohlenstein in Schwaben und Hauffs Lichtenstein |
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1. Biografie Wilhelm Hauffs
Am 29. November 1802 kommt Wilhelm Hauff als zweites Kind seiner Eltern August Friedrich Hauff und Hedwig Wilhelmine geb. Elsässer in Stuttgart zur Welt. Als Friedrich Hauff 1809, erst 37 Jahre alt, stirbt, zieht die Witwe mit den vier Kindern zu ihrem Vater, Obertribunalrat Elsässer, nach Tübingen. Dort besucht Wilhelm bis 1817 die Lateinschule. Seine Schulleistungen sind mäßig; zusammen mit seinem Bruder Hermann verbringt er viel Zeit in der Bibliothek des Großvaters, liest alles, was ihm in die Hände kommt: Lessing, Wieland, Goethe, Schiller und Jean Paul, aber auch die belletristische Literatur seiner Zeit, nämlich Ritter-, Räuber- und Geschichtsromane. Bei den Geschwistern gilt Wilhelm schon früh als begabter Geschichtenerzähler.
Die finanzielle Lage der Familie erlaubt nur einem Sohn, dem fleißigeren Hermann, ein Universitätsstudium. Wilhelm soll auf Staatskosten Theologie und Philosophie studieren und evangelischer Pfarrer werden. Zur Vorbereitung darauf besucht er von 1817 bis 1820 das Seminar im Kloster Blaubeuren. Jetzt lernt er fleißig, um das ungeliebte Internatsleben schnell hinter sich zu bringen. Ab Oktober 1820 lebt er als Student im Tübinger Stift, erhält dann ab dem dritten Semester die Erlaubnis, als sogenannter Stadtstudent im Haus der Mutter zu wohnen. Einen Teil seiner freien Zeit verbringt er in der Burschenschaft Germania, knüpft Freundschaften, übt sein literarisches Talent in Gelegenheitsgedichten oder satirischen Prosatexten.
1824 veröffentlicht er bei Metzler in Stuttgart die Gedichtanthologie Kriegs- und Volks-Lieder, eine Sammlung, die seine burschenschaftlichen Kontakte erkennen lässt. Auch ein paar eigene Gedichte Hauffs sind darin abgedruckt (z.B. Reiters Morgenlied). Nach seiner Abschlussprüfung an der Universität tritt Hauff im Oktober 1824 beim Kriegsratspräsidenten von Hügel in Stuttgart eine Hauslehrerstelle an. Noch verspürt er wenig Lust auf ein Leben als Provinzpfarrer, auch wenn er zur Sicherheit im folgenden Jahr noch seine theologische Dienstprüfung ablegt und zum Dr. phil. promoviert.
Die Erziehung der beiden Söhne des Kriegsministers von Hügel lässt Wilhelm Hauff viel Zeit für seine ab 1825 verstärkt einsetzenden schriftstellerischen Aktivitäten, die er schon in seiner Tübinger Studentenzeit vorbereitet hat: Der erste Teil seiner Mittheilungen aus den Memoiren des Satans erscheint anonym bei dem kleinen Stuttgarter Verlag Franckh, ebenso sein Roman Der Mann im Mond oder der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme. Dieser Roman löst einen durchaus verkaufsfördernden Literaturskandal aus, da Hauff den Verfassernamen H. Clauren verwendet – das Pseudonym für Carl Heun, ein damals sehr bekannter und viel gelesener Autor trivialer Liebesromane. Heun verklagt den Verlag. Dies macht Hauff und seinen Roman erst richtig bekannt, vielleicht auch weil ihn viele identifikatorisch und nicht als Satire auf Heuns triviale Vorlagen lesen.
1825 veröffentlicht Hauff wieder bei Metzler seinen ersten Märchenalmanach, dem 1826 und 1827 noch zwei weitere folgen werden. Hauffs Märchen, so z.B. Der kleine Muck, Zwerg Nase oder Das kalte Herz, sind bis heute lebendig geblieben. Zu seinen Lebzeiten gehören sie nicht zu seinen wirklich populären Texten, werden von der zeitgenössischen Kritik kaum beachtet.
Seit 1826 gilt der 23-Jährige bereits als gefragter Autor, dessen Novellen, Erzählungen und satirische Skizzen in verschiedenen Zeitschriften und Verlagen veröffentlicht werden. Im April 1826 erscheint bei Franckh sein in kürzester Zeit geschriebener historischer Roman Lichtenstein in drei Bänden. Hauff wird gefeiert als „deutscher Scott“. Scotts historische Romane gehören zwischen 1815 und 1830 zu den meistgelesenen – und Hauff selbst stellt sich in der Einleitung seines Romans auf eine Stufe mit dem berühmten Vorbild, das er eifrig studiert hatte.
Das Schreiben ist inzwischen Hauffs Hauptbeschäftigung geworden. So beendet er im April 1826 seine Hauslehrertätigkeit und begibt sich auf eine längere Bildungsreise durch Frankreich, Flandern, Nord- und Mitteldeutschland. Er begegnet vielen Schriftstellerkollegen (u.a. Tieck, Alexis), er knüpft Kontakte zu wichtigen Geschäftspartnern, wird bei Gesellschaften als literarische Größe begutachtet. An seinen Studienfreund Moriz Pfaff schreibt Hauff im September 1826 aus Hamburg:
Ich weiß, daß mir die Natur ein Talent gegeben hat, das man nicht an vielen findet; das Talent, irgend einen Stoff mit einiger Leichtigkeit so zu wenden und zu behandeln, daß er für die Menge ergözlich und unterhaltend, für Viele intereßant, für Manche sogar bedeutend ist. Dabey habe ich eine gewiße Sprachfertigkeit erhalten […]
Ich habe, vierundzwanzig Jahre alt, ohne die Welt viel gesehen, ohne die Menschen lange studirt zu haben, in der kurzen Zeit von 10 Monaten drei, in sich sehr heterogene Werke herausgegeben […] Sie wurden recensirt, gekauft, gelesen, vielfach besprochen und wo ich hinkam seit ich den teutschen Boden wieder betrat, war ich kein Unbekannter; wie ein Wunderthier haben sie mich aufgesucht, angestaunt, bewundert […]
Ich hab was ich geschrieben habe in einiger Eile und nicht ohne Unverschämtheit herausgegeben. Ich werde keinen Satz bereuen den ich niederschrieb, aber bey manchem würde ich mit mehr Ruhe und Muße tiefer eingedrungen seyn. Ich fühle an mir selbst daß ich zwar noch vieles lernen muß, daß ich aber auch kein ungelehriger Schüler bin. Ich weiß nur zu gut was ich in den lezten anderthalb Jahren lernte. Als ich von Tübingen wegging hätte ich keinen Lichtenstein schreiben können, und jetzt, glaube ich sagen zu können, würde ich ihn noch ganz anders schreiben. Darum sey getrost; ich will nicht zurückschreiten, nicht stillestehn, sondern vorwärts, vorwärts schreiten und sollte mein irdischer Leib darüber früher zu Grunde gehen, als wenn ich mein Leben spießbürgerlich und behäglich fortsetzte […] (In: Pfäfflin, Friedrich: Wilhelm Hauff und der Lichtenstein. Marbacher Magazin 18/1981, S. 30f.)
Auch während dieser Reise (Mai – Dezember 1826) arbeitet er unermüdlich: Der zweite und dritte Märchenalmanach, etliche Novellen, die Controvers-Predigt über H. Clauren sowie der zweite Teil der Memoiren des Satans entstehen. In dieser Zeit wendet sich auch der Stuttgarter Verleger Cotta mehrmals an Hauff und bietet ihm eine Zusammenarbeit an. Der selbstbewusste junge Autor lässt sich umwerben. Schließlich sagt er zu und übernimmt am 1. Januar 1827 die Redaktion von Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“ – für 1400 Gulden Jahresgehalt. Nun kann Hauff in Stuttgart einen eigenen Hausstand gründen und im Februar seine Kusine Luise Hauff heiraten, mit der er seit 1824 verlobt ist.
Die Zusammenarbeit mit Cotta erweist sich für Hauff schon bald als schwierig. Ende Februar kündigt der Autor wegen Kompetenzstreitigkeiten. Diese Kündigung nimmt Hauff nach ein paar Tagen zurück: Hermann Hauff tritt in die Redaktion des "Morgenblatts" ein, um den Bruder zu entlasten. Nach Wilhelms Tod wird er die Redaktion bis 1865 leiten.
1827 veröffentlicht Wilhelm Hauff die Phantasien im Bremer Ratskeller sowie etliche Novellen, z.B. Jud Süß. Er plant wieder einen historischen Roman, dieses Mal über Andreas Hofer und den Tiroler Volksaufstand von 1809. Dafür unternimmt er im August 1827 eine Reise zu den Originalschauplätzen – eine Reise, von der er krank zurückkehrt. Die Heilungsversuche der Ärzte mit Brech- und Abführmitteln vermögen die als „Nervenfieber“ diagnostizierte Krankheit nicht zu stoppen. Am 18. November 1827, acht Tage nach der Geburt seiner Tochter Wilhelmine, stirbt Wilhelm Hauff, knapp 25 Jahre alt.
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Stuttgarter Hauff-Denkmal
Wilhelm-Hauff-Denkmal in der Stuttgarter Hasenberganlage, 1882 vom Verschönerungsverein aufgestellt. Die Büste gestaltete der Bildhauer Wilhelm Rösch (1850-1893), die Anlage entwarf Christian Friedrich von Leins (1814-1892), Stuttgarts bedeutendster Architekt des Historismus. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Büste eingeschmolzen, 1955 rekonstruiert durch den Bildhauer Hermann Wilhelm Brellochs (1899-1979). (Foto 2012)
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2. Ein Roman als Markenzeichen:
Wilhelm Hauffs Lichtenstein
Ludwig Uhland
Auf Wilhelm Hauffs frühes Hinscheiden
Dem jungen, frischen, farbenhellen Leben, Dem reichen Frühling, dem kein Herbst gegeben, Ihm lasset uns zum Totenopfer zollen Den abgeknickten Zweig, den blütenvollen!
Noch eben war von dieses Frühlings Scheine Das Vaterland beglänzt. – Auf schroffem Steine, Dem man die Burg gebrochen, hob sich neu Ein Wolkenschloß, ein zauberhaft Gebäu; Doch in der Höhle, wo die stille Kraft Des Erdgeists rätselhafte Formen schafft: Am Fackellicht der Phantasie entfaltet, Sahn wir zu Heldenbildern sie gestaltet; Und jeder Hall, in Spalt und Kluft versteckt, Ward zu beseeltem Menschenwort erweckt.
Mit Heldenfahrten und mit Festestänzen, Mit Satyrlarven und mit Blumenkränzen Umkleidete das Altertum den Sarg, Der heiter die verglühte Asche barg; So hat auch er, dem unsre Thräne taut, Aus Lebensbildern sich den Sarg erbaut.
Die Asche ruht, der Geist entfleugt auf Bahnen Des Lebens, dessen Fülle wir nur ahnen, Wo auch die Kunst ihr himmlisch Ziel erreicht Und vor dem Urbild jedes Bild erbleicht. |
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Vorlage:
Uhlands Gedichte und Dramen in zwei Bänden. Erster Band. Gedichte. Stuttgart: J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger o.J., S. 82f.
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Grab Wilhelm Hauffs auf dem Stuttgarter Hoppenlau-Friedhof (Foto 2012). Auch Hauffs 1844 verstorbene Tochter Wilhelmine sowie seine Witwe (gestorben 1867) sind dort beigesetzt.
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Nicht nur dem Dichterkollegen Ludwig Uhland ist Hauff vor allem als Verfasser des „vaterländischen“ Romans Lichtenstein, dem „Wolkenschloß auf schroffem Steine“, im Gedächtnis geblieben. Die Gestaltung von Wilhelm Hauffs Grab auf dem Stuttgarter Hoppenlau-Friedhof zeigt, dass dies auch so bleiben sollte: Der Grabstein stamme, so heißt es, von dem Felsen, auf dem Schloss Lichtenstein stand und steht. Und der aufs Grab gepflanzte Efeu sei vom Eingang der Nebelhöhle - im Roman ein wichtiger Handlungsort.
Die Hinwendung zur (spät)mittelalterlichen Geschichte im Lichtenstein, die Einbeziehung heimatlicher Sagen sowie die romantisierende Darstellung vertrauter schwäbischer Landschaft, das alles entsprach in hohem Maße dem Zeitgeist und sicherte dem Roman im 19. Jahrhundert eine treue Leserschaft.
Hauff, der in knapp drei Jahren sehr produktive Erzähler, wurde so im 19. Jahrhundert oft nur als Autor des Lichtenstein-Romans wahrgenommen. Das hat den Blick auf ihn verstellt und eine zutreffende literarische Einordung seines Gesamtwerks eher behindert: „Der Nachruhm, der sich Ende des Jahrhunderts, besonders in Württemberg, zu einem regelrechten Lichtenstein-Kult steigerte, harmonisierte das Bild Hauffs zur Legende vom romantischen Dichterjüngling. Dabei hat Hauff mit der „Schwäbischen Romantik“, was immer man darunter verstehen mag, so gut wie nichts gemein. Sein kritischer Geist und der ausgeprägte Hang zu satirischer Opposition weisen ihn als Erben der Aufklärung aus, sein Bemühen um die modernen Erzählgattungen und eine zuweilen unverblümt sachliche Sprache führen ihn an die Schwelle des literarischen Realismus.“ (Hinz, Ottmar: Wilhelm Hauff. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Rowohlts Monographien 1989, S. 136.)
Hauff war im 19. Jahrhundert als einer der Klassiker deutscher Literatur nicht nur im Südwesten hoch angesehen, wurde aber von der Germanistik im 20. Jahrhundert oft als epigonaler Vielschreiber und Unterhaltungsschriftsteller abqualifiziert. Davon unabhängig ist die Popularität seiner Märchen konstant geblieben. In den letzten Jahren hat sich auch die Bewertung des Autors in der Literaturwissenschaft gewandelt: Hauff erscheint nun als „früher Realist und Ironiker“, der mit romantischen Klischees und Topoi spiele und sie damit auch kritisch kommentiere – und dies sogar in seinem Roman Lichtenstein (Neuhaus, S.7).
Vgl. hierzu besonders die neuere Publikation von Stefan Neuhaus, der diesen Aspekt in Hauffs erzählerischem Werk detailliert nachweist:
* Neuhaus, Stefan: Das Spiel mit dem Leser. Wilhelm Hauff: Werk und Wirkung. Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2002.
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3. Der Inhalt des Romans Lichtenstein
Prachtausgabe von Hauffs Lichtenstein-Roman
K. Thienemanns Verlag, Stuttgart 1904.
Illustrationen von Fritz Bergen.
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Die Romanhandlung setzt im März 1519 ein, als das Heer des Schwäbischen Bundes sich zum Krieg gegen Herzog Ulrich von Württemberg sammelt. Dieser hatte die Reichsstadt Reutlingen unterworfen und u.a. damit die Kriegserklärung provoziert.
Georg von Sturmfeder, ein verarmter junger Adliger aus Franken, marschiert mit den Bundestruppen in die Reichsstadt Ulm ein. Er ist entschlossen, sich die geliebte Marie von Lichtenstein durch sein Schwert zu verdienen, da er Maries Vater auf der bündischen Seite vermutet. Doch Marie eröffnet dem Ritter in Ulm, dass ihr Vater treu zu Herzog Ulrich hält. Georg beschließt daraufhin, auch gedrängt von der Geliebten, auf Kriegsruhm zu verzichten.
Der Kriegsrat des Schwäbischen Bundes möchte Georg allerdings als Kundschafter gegen Herzog Ulrich einsetzen, was der junge Ritter, da gegen sein Ehrempfinden gerichtet, ablehnt.
Die darauf folgenden Beleidigungen des Truchseß von Waldburg sind für Georg ein willkommener Anlass, sich ohne Gesichtsverlust dem Bund zu entziehen. Auf Fürsprache seines väterlichen Gönners Georg von Frondsberg darf er nach Franken abreisen. Unerwartet trifft er dabei wieder auf jenen Bauern Hanns, den Pfeifer von Hardt, der ihm schon in Ulm eine Botschaft Maries überbrachte und, so weiß Georg inzwischen, ein herzoglicher Kundschafter ist. Dieser Mann bietet Georg an, ihn auf geheimen Wegen über die Schwäbische Alb nach Lichtenstein zu führen. Nur zu gern lässt sich der Verliebte umstimmen.
Wie gefährlich diese Reise ist, bekommt Georg zu spüren, noch ehe die beiden ihr Ziel erreicht haben: In Begleitung des Pfeifers wird Georg für den flüchtigen Herzog gehalten und in einem nächtlichen Überfall schwer verwundet. Bevor seine Sinne schwinden, hört er noch, wie einer der Kämpfer die Verwechslung erkennt. Damit endet der erste Teil des Romans.
Im Haus des Pfeifers von Hardt wird Georg von dessen Frau und Tochter gesundgepflegt. Doch die Sehnsucht treibt den jungen Mann zu Marie und zum Lichtenstein. Bärbele, die Tochter des Pfeifers, begleitet Georg bis nach Pfullingen. Dort erfährt Georg, dass Marie von Lichtenstein des Nachts einen Liebhaber im Schloss empfange. Der eifersüchtige junge Ritter lauert diesem auf und es kommt zum Schwertkampf. Nur weil der den nächtlichen Besucher begleitende Pfeifer von Hardt Georg erkennt, wird er nicht getötet.
Noch in der Nacht führt der Pfeifer Georg von Sturmfeder zur Nebelhöhle, dem Fluchtort des geheimnisvollen Unbekannten, dessen Identität Georg zu gerne erfahren würde. Diesem Mann, der ihn tief beeindruckt, gesteht er in dieser Höhlennacht, dass er sich zu einem Freund des Herzogs gewandelt habe.
Bei Tage nimmt der alte Herr von Lichtenstein Georg, den neuen Anhänger Ulrichs, mit großem Wohlwollen in seinem Schlosse auf. Nach einigen Tagen kommt die Nachricht, dass Tübingen, des Herzogs letzte Bastion, an die Bündischen gefallen ist. Endlich erfährt Georg nun auch, dass der edle Unbekannte aus der Nebelhöhle kein anderer als Herzog Ulrich selbst ist, der allnächtlich auf Lichtenstein mit Speis und Trank versorgt wurde.
Bevor der geächtete Herzog sich aufmacht, sein Land zu verlassen, wirbt er beim Vater für die beiden Liebenden Georg und Marie. Doch der alte Ritter will erst dann die Heirat gestatten, wenn Ulrich, den Georg jetzt begleiten wird, wieder als Landesherr in Stuttgart eingezogen ist. Mit dieser Perspektive endet der zweite Teil.
Tatsächlich gelingt es Ulrich, im Frühsommer 1519 nach Württemberg zurückzukehren und in Stuttgart einzuziehen. Unter den Bürgern und Bauern Württembergs hat sich die Stimmung zugunsten des angestammten Herrschers gewendet, vor allem da die Bündischen das Land auspressen.
Entgegen dem Rat des treuen Lichtenstein und unter dem Einfluss des diabolischen Kanzlers Volland setzt sich Ulrich über das alte Recht hinweg und lässt sich nach neuen Regeln huldigen. Ein verhängnisvoller Schritt, denn noch sind weite Teile Württembergs in bündischer Hand – und Ulrichs Popularität ist im Sinken.
Für Georg und Marie lässt der Herzog jetzt im Schloss zu Stuttgart ein glänzendes Hochzeitsfest ausrichten.
Doch schon bald danach muss Georg in die Schlacht ziehen: Die Bündischen haben bei Esslingen ein großes Heer aufgestellt. Ulrich wird geschlagen und flieht mit wenigen Getreuen, darunter Georg und der alte Lichtenstein. Während einer Nachtwache erzählt der Pfeifer Georg nun endlich auch die seltsame Geschichte, wie er als Aufständischer des „Armen Konrad“ zum Tode verurteilt wurde und von Ulrich das Leben geschenkt erhielt. Seitdem ist Hanns des Herzogs treuester Diener.
Auf der Köngener Neckarbrücke geraten die Flüchtenden in einen Hinterhalt: Der Pfeiffer kämpft todesmutig und opfert sein Leben für den Herzog. Dem gelingt mit dem Sprung seines Pferdes in den Neckar die Flucht. Noch davor hat Georg den grünen Mantel Ulrichs umgelegt. So wird er als „Herzog“ gefangen genommen und ins bündische Lager geführt.
Wieder ist es der besonnene Frondsberg, der Georg vor der Wut des Truchseß von Waldburg bewahrt, nachdem die Täuschung erkannt worden ist.
Die Strafe fällt märchenhaft milde aus: Ein Jahr lang muss Georg zusammen mit seinem Schwiegervater auf Lichtenstein die Urfehde einhalten. Und Marie, die sich im Heerlager einfindet, wird als Georgs Wächterin eingesetzt. Damit endet die fiktive Liebeshandlung des Romans.
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Die sechs hier abgebildeten Illustrationen sind eine Auswahl aus den insgesamt 60 Illustrationen der Prachtausgabe des Stuttgarter Thienemanns Verlags (1904). Sie stammen von Fritz Bergen, der den Roman nach Naturaufnahmen aus den Honauer Festspielen illustrierte. Diese Ausgabe erschien 1906 in zweiter und 1910 in dritter Auflage.
Weitere von Bergen illustrierte Ausgabe: Lichtenstein. Romantische Sage aus der württembergischen Geschichte von Wilhelm Hauff. Mit einem Bildnis des Verfassers und 8 Tondruckbildern nach Naturaufnahmen aus den Honauer Festspielen von Fritz Bergen. Anton Hoffmann, Stuttgart o.J.
Fritz Bergen, 1857 in Dessau geboren, 1941 in München gestorben. Studium an der Akademie in Leipzig (1877 – 1879) und in München (1879 – 1881). Er arbeitete für Zeitschriften (z.B. Die Gartenlaube) und für Stuttgarter und Leipziger Buchverlage, gehörte um 1900 zu den meistbeschäftigten deutschen Illustratoren.
Hans Ries: Illustration und Illustratoren des Kinder- und Jugendbuchs im deutschsprachigen Raum 1871-1914. H. Th. Wenner, Osnabrück 1992, S.426-431 mit Publikationsliste. Zur Illustration von Hauffs Lichtenstein siehe Nr. 121, zu Hauffs Märchen Nr. 97, 180 sowie Beiträge c und j.
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4. Und die „historische Wahrheit“?
Marie, Georg von Sturmfeder, der alte Lichtenstein, Hanns der Pfeifer und seine Familie – alle sind vom Dichter erfundene Figuren. Auch wenn Hauff seine romantische Liebesgeschichte dichterisch ziemlich frei in die Ereignisse des württembergischen Schicksalsjahrs 1519 einbettet, so behauptet er doch, ein „Tableau zu entrollen“, das „historische Wahrheit“ beanspruche (Reclam, S. 11). Die diversen Fußnoten im Roman, die historische Quellenstudien belegen sollen, hielten einer kritischen Nachprüfung allerdings nicht stand (siehe Literaturangabe). Hauptquelle seines Romans war ein Buch seines Dichterkollegen Gustav Schwab, Die Neckarseite der Schwäbischen Alb, 1823 bei Metzler in Stuttgart erschienen und der erste Reiseführer über die Schwäbische Alb mit vielen eingestreuten Sagenromanzen des Verfassers. Benützt hat Hauff auch Schwabs Romanzen aus dem Jugendleben Herzog Christophs von Württemberg von 1819.
Seinen Lichtenstein nennt Hauff selbst im Untertitel eine Romantische Sage aus der württembergischen Geschichte, womit er seinen Roman sehr zutreffend charakterisiert. Sagenhaft und historisch nicht belegt sind z.B. Ulrichs nächtliche Aufenthalte auf Lichtenstein sowie sein Sprung von der Neckarbrücke. Württembergische Sagen waren für Hauff ein wesentlicher Schreibimpuls, wie er in der Einleitung schreibt:
Unter den vielen Sagen, die von ihrem Lande und von der Geschichte ihrer Väter im Munde der Schwaben leben, ist wohl keine von so hohem romantischen Interesse, als die, welche sich an die Kämpfe der eben erwähnten Zeit, an das wunderbare Schicksal jenes unglücklichen Fürsten knüpft. Wir haben versucht, sie wiederzugeben, wie man sie auf den Höhen von Lichtenstein und an den Ufern des Neckars erzählen hört, wir haben es gewagt, auch auf die Gefahr hin, verkannt zu werden. Man wird uns nämlich entgegenhalten, daß sich der Charakter Ulerichs von Württemberg nicht dazu eigne, in einem historischen Romane mit milden Farben wiedergegeben zu werden. (Wilhelm Hauff: Lichtenstein. Philipp Reclam jun., Stuttgart 1988, S.6)
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Porträt Herzog Ulrichs (1487-1550 )
Holzschnitt von Hans Brosamer (1495-1554), um 1545
Übernommen aus Wikimedia Commons.
Unter der Lizenz Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5>
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Auch wenn der Erzähler immer wieder charakterliche Schwächen und kritikwürdiges Verhalten des Herrschers zeigt -- Hauff scheint geahnt zu haben, dass er sich dem Vorwurf aussetzte, Ulrich zu glorifizieren. „Letztlich liest sich Lichtenstein wie eine Auftragsarbeit des württembergischen Königs an seinen Untertanen Hauff, der mit seinem Roman die Treue zum Herrscherhaus bei seinen schwäbischen Lesern befestigen möge, vor allem aber das unangenehm negative Bild des Vorfahren Ulrich ins Positive retuschieren solle“, schreibt Lützeler im Nachwort zur Reclam-Ausgabe des Romans. (Paul Michael Lützeler: Nachwort, a.a.O., S. 444)
Doch Hauff macht in seinem Roman auch deutlich, dass diese Treue zum legitimen Herrscher von diesem ‚verdient‘ sein will. Hauffs Roman-Ulrich mag sich noch so sehr wünschen, wie sein Ahnherr Graf Eberhard sicher im Schoße eines jeden württembergischen Untertanen ruhen zu können (Reclam, S. 259f) gemäß der Sage vom „reichsten Fürsten“(die ein anderer Schwabe, Justinus Kerner, überaus populär 1818 in Gedichtform brachte). Die dauerhafte Liebe seiner Württemberger erhält Herzog Ulrich – bei Hauff - erst wieder, als er das alte, verfassungsmäßige Mitspracherecht der Landstände respektiert: Nach Jahren der Verbannung, so berichtet der Erzähler am Romanende, kehrt der Herzog „geläutert durch Unglück als ein weiser Fürst“ in sein Land zurück. Ein Herrscher nun, der „die alten Rechte ehrte und die Herzen seiner Bürger für sich gewann.“ (Reclam, S. 404)
Hauffs zeitgenössische Leser werden, so kann man annehmen, die Parallele zwischen ihrer eigenen Zeit und der Herzog Ulrichs durchaus erkannt haben: Herzog Ulrich hatte 1519 den Tübinger Vertrag gebrochen, sich über das alte, Mitsprache garantierende Recht hinweggesetzt. Ganz ähnlich hatte sich einige Jahre vor Erscheinen des Romans der neue württembergische König Friedrich verhalten, als er 1805 die altwürttembergische Verfassung aufgehoben und einen erbitterten Verfassungskampf ausgelöst hatte. Und wie Ulrich im Roman schließlich das „alte Recht“ wieder achtet, das verbindet ihn mit dem zur Zeit Hauffs regierenden König Wilhelm I., der Württemberg 1819 eine Verfassung gab, die altständische mit modernen konstitutionellen Ideen verband und damit weiten Teilen des Bürgertums entgegenkam.
Literatur:
Eine knappe und zutreffende Darstellung des historischen Ulrich:
* Friedrich Pfäfflin: Wilhelm Hauff und der Lichtenstein. Marbacher Magazin 18/1981, S. 69 -72.
Kurz nach 1900 erschienen zwei Bücher, die den Roman auf seine historische Wahrheit hin untersuchten:
* Max Schuster: Der geschichtliche Kern des Lichtenstein (Darstellungen aus der Württembergischen Landesgeschichte, Bd.1) Kohlhammer, Stuttgart 1904.
* Max Drescher: Die Quellen zu Hauffs Lichtenstein. Leipzig 1905.
Siehe auch:
* Inge Nunnenmacher: Literatur als Denkmal. Die Eberhardsgruppe im Stuttgarter Schlossgarten und zwei historische Balladen der schwäbischen Romantiker Kerner und Uhland in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext betrachtet. Online im Goethezeitportal.
Eine Einordung des Lichtenstein-Romans in den Kontext historischer Romane der Restaurationszeit sowie eine Darstellung von dessen politischer Aussage:
* Paul Michael Lützeler: Hauffs „Lichtenstein“ im literarhistorischen und zeitgeschichtlichen Kontext. Nachwort der Reclam-Ausgabe des Romans von 1988, S. 439 - 452.
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5. Der Pfeifer von Hardt
– eine populäre Gestalt in Hauffs Lichtenstein
Georg von Sturmfeder und der Pfeifer von Hardt
im Torbogen vor Schloss Lichtenstein
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Postkarte. Nicht gelaufen.
H. Sting, Tübingen 56 136
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5 a. Die Romanfigur
Hanns, genannt der Pfeifer von Hardt, hat im Roman Lichtenstein eine wichtige Rolle: Er ist für den Haupthelden Georg von Sturmfeder der Verbindungsmann zu Marie und zur Burg Lichtenstein, aber auch zu Herzog Ulrich. Er spielt diese Rolle souverän und intelligent mit einer keinesfalls volkstümelnden Bauernschläue. Als Bauer und Spielmann gehört er zum einfachen Volk, doch scheint er selbst mit dem Herzog auf Augenhöhe zu verkehren – er ist sein Kundschafter und Beschützer, das hebt ihn besonders heraus. An keiner Stelle des Romans lässt Hauff den Pfeifer, im Unterschied zu dessen Frau und dessen Tochter Bärbele, schwäbischen Dialekt sprechen. Seine Figur wird auch nie ironisch gebrochen, so wie es fast allen anderen, eher ambivalent konzipierten Romanfiguren erzählerisch widerfährt.
Manche Leser sehen im Pfeifer sogar den eigentlichen Haupthelden des Romans, der in seiner Ausgestaltung dem Dichter auch am besten gelungen sei. Schon einer der ersten Kritiker des Lichtenstein, Wolfgang Menzel (1798 – 1873), schreibt 1826: „Dieß ist eine feste plastische Gestalt, wahr und warm geschildert und ächt nationell“ (siehe Pfäfflin, S. 76-78).
Hanns, den Pfeifer, umgibt etwas Ernsthaftes, was mit seiner Vergangenheit zu tun hat. Er möchte auch nicht „Pfeifer“ genannt werden, weil „dieser Name sich mit Untat und Blut befleckt“ habe (Reclam, S. 114). Erst kurz vor seinem Tod offenbart er Georg (und damit auch dem Leser), was ihn „so ausschließlich und enge an den Herzog knüpft“ (Reclam, S. 379): Ein Erlebnis, das den Pfeifer zur Gefolgschaftstreue bis zur Selbstaufopferung treibt und ein bezeichnendes Licht auf Herzog Ulrich wirft, wenn er – ganz Willkürherrscher – mit einem Menschen grausam spielt.
Die Erzählung des Pfeifers sei hier wiedergeben. Sie beginnt damit, dass er Georg von der Verschwendungssucht am herzoglichen Hofe berichtet; wie die Bauern immer mehr ausgepresst wurden und daraus der Aufstand des „Armen Konrad“ entstand. Wie er, als einer der kühnsten Aufrührer, zusammen mit elf anderen gefangen wurde. Dann enthüllt er sein eigentliches Geheimnis, das er als „Wunder“ bezeichnet:
Wir zwölf wurden auf den Markt geführt, es sollte uns dort der Kopf abgehauen werden. Der Herzog saß vor dem Rathaus und ließ uns noch einmal vor sich führen. Jene eilfe stürzten nieder, daß ihre Ketten fürchterlich rasselten, und schrieen mit jammernder Stimme um Gnade. Er sah sie lange an und betrachtete dann mich. ‚Warum bittest du nicht auch?‘ fragte er. ‚Herr‘, antwortete ich, ‚ich weiß was ich verdient habe, Gott sei meiner Seele gnädig.‘ Noch einmal sah er auf uns, dann aber winkte er dem Scharfrichter. Sie wurden nach dem Alter gestellt, ich, als der jüngste, war der letzte. Ich weiß wenig mehr von jenen schrecklichen Augenblicken; aber nie vergesse ich den greulichen Ton, wenn die Halsknorpel krachten – (…) Neun Köpfe meiner Gesellen staken auf den Spießen, da rief der Herzog: ‚Zehn sollen bluten, zwei frei sein. Bringt Würfel her, und lasst die drei dort würfeln!‘ Man brachte Würfel, der Herzog bot sie mir zuerst; ich aber sagte: ‚Ich habe mein Leben verwirkt und würfle nicht mehr darüber!‘ Da sprach der Herzog: ‚Nun so würfle ich für dich.‘ Er bot den zwei andern die Würfel hin. Zitternd schüttelten sie in den kalten Händen die Würfel, zitternd zählten sie die Augen; der eine warf neun, der andere vierzehn; da nahm der Herzog die Würfel und schüttelte sie. Er faßte mich scharf ins Auge, ich weiß, daß ich nicht gezittert habe. Er warf – und deckte schnell die Hand darauf. ‚Bitte um Gnade‘, sagte er, ‚noch ist es Zeit.‘ ‚Ich bitte, daß Ihr mir verzeihen möget, was ich Euch Leids getan‘, antwortete ich, ‚um Gnade aber bitt ich nicht, ich habe sie nicht verdient und will sterben.‘ Da deckte er die Hand auf, und siehe er hatte achtzehn geworfen. Es war mir sonderbar zumut; es kam mir vor als habe er gerichtet an Gottes Statt. Ich stürzte auf meine Kniee nieder und gelobte fortan in seinem Dienst zu leben und zu sterben. Der zehnte ward geköpft, wir beide waren frei. (Reclam, S. 382f)
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5 b. Georg Mühlbergs Postkartenserie und der Romantext
Erstmals begegnet uns der Pfeifer im Roman, als er Georg von Sturmfeder in Ulm eine Botschaft Maries überbringt:
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Er [Georg von Sturmfeder] hatte sich unter diesen trüben Gedanken langsam dem Tore der Stadt genähert, als er sich plötzlich am Arm ergriffen fühlte; er sah sich um, ein Mann, dem Anschein nach ein Bauer, stand vor ihm.
„Was willst du“, fragte Georg etwas unwillig, in seinen Gedanken unterbrochen zu werden.
„Es kommt darauf an, ob Ihr auch der Rechte seid“, antwortete der Mann. „Sagt einmal, was gehört zu Licht und Sturm?“
Georg wunderte sich ob der sonderbaren Frage und betrachtete jenen genauer. Er war nicht groß aber kräftig; seine Brust war breit, seine Gestalt gedrungen. Das Gesicht von der Sonne braun gefärbt, wäre flach und unbedeutend gewesen, wenn nicht ein eigener Zug von List und Schlauheit um den Mund, und aus den grauen Augen Mut und Verwegenheit geleuchtet hätten. Sein Haar und Bart war dunkelgelb und gerollt; er trug einen langen Dolch im ledernen Gurt, in der einen Hand hielt er eine Axt, in der andern eine runde, niedere Mütze von Leder, wie man sie noch heute bei dem schwäbischen Landvolk sieht.
Während Georg diese flüchtigen Bemerkungen machte, wurden auch seine Züge lauernd beobachtet.
„Ihr habt mich vielleicht nicht recht verstanden, Herr Ritter“, fuhr jener nach kurzem Stillschweigen fort; „was passt zu Licht und Sturm, daß es zwei gute Namen gibt?“
„Feder und Stein!“ antwortete der junge Mann, dem es auf einmal klar wurde, was unter jener Frage verstanden sei; „was willst du damit?“
„So seid Ihr Georg von Sturmfeder“, sagte jener, „und ich komme von Marien von…“
„Um Gottes willen, sei still Freund, und nenne keine Namen“, fiel Georg ein, „sage schnell, was du mir bringst.“
„Ein Brieflein, Junker!“ sprach der Bauer, indem er die breiten, schwarzen Kniegürtel, womit er seine ledernen Beinkleider umwunden hatte, auflöste, und einen Streifen Pergament hervorzog. (Reclam, S. 79f)
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Auf der Heimreise nach Franken trifft Georg wieder auf Hanns den Pfeifer, der ihn über die Schwäbische Alb nach Lichtenstein führen will. Als die beiden den Albtrauf erreichen und vom Beurener Felsen aus ins Land schauen, begeistert sich der junge Ritter für die Schönheit Württembergs:
Ein herrliches Land, dieses Württemberg“, rief Georg, indem sein Auge von Hügel zu Hügel schweifte; „wie kühn, wie erhaben diese Gipfel und Bergwände, diese Felsen und ihre Burgen; und wenn ich mich dorthin wende gegen die Täler des Neckars wie lieblich jene sanften Hügel, jene Berge mit Obst und Wein besetzt, jene fruchtbaren Täler mit schönen Bächen und Flüssen, dazu ein milder Himmel und ein guter, kräftiger Schlag von Menschen. (Reclam S. 124)
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Der Pfeifer ist zwar ein ortskundiger und umsichtiger Führer; dennoch werden die beiden von bündischen Reitern überfallen, die glauben, in Georg den flüchtigen Herzog Ulrich vor sich zu haben. Der schwer verletzte Georg liegt am Boden, ein Reiter beugt sich über ihn und erkennt die Verwechslung.
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Sie wollten eben am Ausgang des Hohlweges in das Tal einbiegen, da rief eine Stimme im Gebüsch: „Das ist der Pfeifer von Hardt, drauf Gesellen, der dort auf dem Roß muß der Rechte sein.“
„Fliehet, Junker, fliehet“, rief sein treuer Führer, und stellte sich mit seiner Axt zum Kampf bereit; doch Georg zog sein Schwert, und in demselben Augenblick sah er sich von fünf Männern überfallen, während sein Gefährte schon mit drei andern im Handgemenge war.
Der enge Hohlweg hinderte ihn, sich seiner Vorteile zu bedienen, und auf die Seiten auszubiegen. Einer packte die Zügel seines Rosses, doch in demselben Augenblick traf ihn Georgs Klinge auf die Stirne, daß er ohne Laut niedersank; doch die andern, wütend gemacht durch den Fall ihres Genossen, drangen noch stärker auf ihn ein und riefen ihm zu, sich zu ergeben; aber Georg, obgleich er schon am Arm und Fuß aus mehreren Wunden blutete, antwortete nur durch Schwerthiebe.
„Lebendig oder tot“, rief einer der Kämpfenden, „wenn der Herr Herzog nicht anders will, so mag er’s haben.“ Er rief’s, und in demselben Augenblick sank Georg von Sturmfeder, von einem schweren Hieb über den Kopf getroffen, nieder. In tödlicher Ermattung schloß er die Augen, er fühlte sich aufgehoben und weggetragen, und hörte nur das grimmige Lachen seiner Mörder, die über ihren Fang zu triumphieren schienen.
Nach einer kleinen Weile ließ man ihn auf den Boden nieder, ein Reiter sprengte heran, saß ab und trat zu denen, die ihn getragen hatten. Georg raffte seine letzte Kraft zusammen, um die Augen noch einmal zu öffnen. Er sah ein unbekanntes Gesicht, das sich über ihn herabbeugte. „Was habt ihr gemacht?“ hörte er rufen, „dieser ist es nicht, ihr habt den falschen getroffen. Macht, daß ihr fortkommt, die von Neuffen sind uns auf den Fersen.“ Matt zum Tode schloß Georg sein Auge, nur sein Ohr vernahm wilde Stimmen und das Geräusch von Streitenden, doch auch dieses zog sich ferne; feuchte Kälte drang aus dem Boden des Wiesentales, und machte seine Glieder erstarren, aber ein süßer Schlummer senkte sich auf den Verwundeten herab, und mit dem letzten Gedanken an die Geliebte entschwanden seine Sinne. (Reclam, S. 130f)
Den Schwerverletzten hat der Pfeifer in sein Haus nach Hardt gebracht, wo Frau und Tochter den Ritter gesundpflegen. Als Georg nach neun Tagen aus seinem Genesungsschlaf erwacht, bietet sich ihm das folgende Bild.
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Die Tochter aber öffnete das Fenster der frischen erquickenden Morgenluft, sie streute Futter auf den breiten Sims, viele Tauben und Sperlinge flogen heran, und verzehrten mit Gurren und Zwitschern ihr Frühstück; die Lerchen in den Bäumen vor den Fenstern antworteten in einem vielstimmigen Chorus, und das schöne Mädchen sah, von der Morgensonne umstrahlt, lächelnd ihren kleinen Kostgängern zu.
In diesem Augenblick öffneten sich die Gardinen des Bettes, der Kopf eines schönen jungen Mannes sah heraus; wir kennen ihn, es ist Georg.
Ein leichtes Rot, der erste Bote wiederkehrender Gesundheit, lag auf seinen Wangen; sein Blick war wieder glänzend, wie sonst; sein Arm stemmte sich kräftig auf das Lager. Erstaunt blickte er auf seine Umgebungen; dieses Zimmer, diese Geräte waren ihm fremd; er selbst, seine ganze Lage kam ihm ungewohnt vor. Wer hatte ihm diese Binde um das Haupt gebunden? Wer hatte ihn in dieses Bett gelegt; es war ihm wie einem, der mit fröhlichen Brüdern eine Nacht durchjubelt, die Besinnung endlich verloren hat, und auf einem fremden Lager aufwacht.
Lange sah er dem Mädchen am Fenster zu; dieses Bild, das erste, das ihm bei seinem Erwachen aus langem Schlafe entgegentrat, war so freundlich, daß er das Auge nicht davon abwenden konnte; endlich siegte die Neugierde, über das, was mit ihm vorgegangen war, gewisser zu werden; er machte ein Geräusch, indem er die Gardinen des Bettes noch weiter zurückschlug. (Reclam, S. 137f)
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Nachdem Herzog Ulrich siegreich in Stuttgart eingezogen ist, darf Georg seine Marie ehelichen. Unter den Zuschauern des Hochzeitszuges sind Frau und Tochter des Pfeifers. Das Bärbele (auf der linken Seite der Postkarte) kann seinen Liebesschmerz nur schwer verbergen: Hatte es sich doch in den jungen, schönen Ritter verliebt, als es ihn gesundpflegte.
So ging der Zug aus dem Tore des Schlosses nach der Kirche, die nur durch einen breiten Platz von ihm getrennt war. Kopf an Kopf standen die schönen Mädchen und die redseligen Frauen, sie musterten die Anzüge der Fräulein, strengten die Blicke an, als die schöne Braut vorbeiging, und waren voll Lobes über den Bräutigam.
Unter den zahlreichen Zuschauern sah man auch eine rüstige, runde Bauersfrau mit ihrem Töchterlein stehen. Diese Frau verneigte sich immerwährend zu großer Belustigung der Städtler umher, die nur der Braut und dem Herzog diese Aufmerksamkeit bewiesen. Sie unterhielt sich dabei eifrig mit ihrer Tochter. Das schöne Kind an ihrer Seite schien aber wenig auf ihre Reden zu achten; sie übersah den glänzenden Zug der Fräulein, ihre hellen Augen waren nur immer auf die nahende Braut gerichtet. Je näher diese kam, desto röter färbten sich die Wangen des Mädchens, das rote Mieder hob und senkte sich ungestüm, und das pochende Herz schien die silbernen Ketten, womit es eingeschnürt war, zersprengen zu wollen. Sie sah Marien fest und durchdringend an, die hohe Schönheit der jungen Braut schien sie zu überraschen, ein wehmütiges Lächeln zuckte um ihren kleinen Mund: „Sie ist‘s!“ rief sie unwillkürlich aus, und verbarg dann schnell ihr Gesicht hinter dem Rücken ihrer Mutter, denn die Umstehenden sahen verwundert nach ihr hin. (Reclam, S. 337)
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Immer wenn er gebraucht wird, ist Hanns der Pfeifer zur Stelle. Als der Herzog nach verlorener Schlacht mit wenigen Getreuen flieht und in Bedrängnis gerät, kämpft Hanns auf der Köngener Neckarbrücke an vorderster Stelle. Er wehrt die Schläge ab, die seinem Herrn gelten, und wird schließlich getötet. Zuletzt kämpft noch allein Georg von Sturmfeder, der sich den grünen Herzogsmantel umgelegt hat, damit Ulrich sich durch den Sprung seines Pferds in den Neckar retten kann.
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Die Knechte hatten die Speere vorgestreckt und drangen vor; der Pfeifer stand noch immer, obgleich aus mehreren Wunden blutend, und schlug mit der Axt ihre Speere nieder. Seine Augen blitzten, seine kühnen Züge trugen den Ausdruck von freudiger Begeisterung, und das Lächeln, das um seinen Mund zog, war nicht das der Verzweiflung, nein, seine mutige Seele erbebte nicht vor dem nahenden Tod, er blickte ihm mit stolzer Freude entgegen, als sei er der Kampfpreis, um den er so viele Sorgen und Gefahren auf sich genommen habe. Noch einen schlug er mit seiner starken Rechten zu Boden, da stieß ihm einer der Knechte von der Seite her die Hellebarde in die Brust, in diese treue Brust, die noch im Tod ein Schild für den unglücklichen Fürsten war, dem nie ein treueres Herz geschlagen hatte. Er wankte, er sank zusammen, er heftete das brechende Auge auf seinen Herrn: „Herr Herzog, wir sind quitt!“ rief er freudig aus, und senkte sein Haupt zum Sterben.
An ihm vorüber ging der Weg der Knechte, die mit Freudengeschrei näher zudrangen – da warf sich Georg von Sturmfeder in die Mitte; seine Klinge schwirrte in der Luft, und sooft sie niederfiel, zuckte einer der Feinde am Boden. Er war der letzte Schild Herzog Ulerichs von Württemberg; sank dieser, so war Gefangenschaft oder Tod unvermeidlich. Drum wandte er sich zum letzten Mittel; er warf noch einen tränenschweren Blick auf die Leiche jenes Mannes, der seine Treue mit dem Tod besiegelt hatte; dann riß er sein mächtiges Streitroß zur Seite, spornte es, daß es sich hoch aufbäumte, wandte es mit einem starken Druck rechts, und – mit einem majestätischen Sprung, setzte es über die Brüstung der Brücke, und trug seinen fürstlichen Reiter hinab in die Wogen des Neckars. (Reclam, S. 391f)
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5 c. Kurzbiografie Georg Mühlbergs
1863 in Nürnberg geboren, 1925 in München gestorben. Maler, Zeichner und Illustrator vor allem von Kinder- und Jugendliteratur. Populäre Postkartenserien mit Volkstrachten, zu Märchen (Tischlein deck dich, Die sieben Schwaben), Sagen (Tristan) und Romanen der Eugenie Marlitt (z.B. Goldelse). Sehr verbreitet waren seine Couleurpostkarten mit Szenen aus dem studentischen Leben. Er zeichnete auch für die Fliegenden Blätter.
Die sechsteilige Postkartenserie Der Pfeifer von Hardt nach W. Hauff ist bei "Uvachrom Gesellschaft für Farbenphotographie m.b.H., München-Stuttgart" (Signet: F Ph G im Dreieck) erschienen (Serie 227, Nr. 4307-4312). Auf den Adressseiten findet sich eine Zusammenfassung des Romangeschehens.
Siehe auch im Goethezeitportal die Postkartenserien von Georg Mühlberg zu den beiden Märchen Tischlein deck dich und Die sieben Schwaben.
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5 d. Der Pfeifer von Hardt – eine Figur mit Identifikationspotential
Der Pfeifer von Hardt gehört zu den von Hauff erfundenen Figuren. Die Postkartenserie Georg Mühlbergs verweist darauf, wie überaus bekannt und beliebt gerade diese Figur aus Hauffs Lichtenstein war.
Ein schwäbischer Pfarrer formulierte 1907, sicher stellvertretend für viele württembergische Leser, was diese „markige Gestalt volkstümlichster Art“ so populär werden ließ, auch wenn sie ‚nur‘ erfunden war. Der Pfeifer verkörpere nämlich
„jenes württembergische Volk, wie es leibte und lebte, litt und stritt in den bitterschweren Zeiten Ulrichs, zuerst aufrührerisch und verzweifelt das Aeußerste wagend, hernach alle Unbill vergessend und für Gnade dankbar, anhänglich an das angestammte Fürstenhaus und ihm ergeben bis in den Tod. Besonders das Landvolk zeigt sich in dieser Hinsicht im schönsten Licht. Bei den höheren Ständen hört die Opferfreudigkeit für den Herzog auf in dem Augenblick, wo neben dem Interesse des Landes auch ihre Rechte in Frage kommen. Das Volk aber geht wie der Pfeifer mit seinem Herzog durch dick und dünn, dasselbe Volk, das dem Armen Konrad in hellen Haufen zuströmt, ist in ebenso dichten Haufen auf den letzten Hilferuf seines Fürsten an dessen Seite und bildet nach dem Verlust aller festen Plätze sein einziges Bollwerk, seine letzte Zuflucht und nicht bloß ein Hans, sondern hunderte haben für ihn geblutet.“ (Zitat nach Pfarrer Rauscher: Der Pfeifer von Hardt. In: Blätter des Schwäbischen Albvereins. XIX. Jg. 1907, Nr. 3, S. 75-84. Online in Wikisource.)
Recht viele Württemberger konnten sich in der Anhänglichkeit des Pfeifers an das „angestammte Fürstenhaus“ offensichtlich wiederfinden. Hanns, der Pfeifer, gehört – mit seiner spezifischen Form von württembergischem Patriotismus – zu den literarischen Figuren, auf die man in den Geschichtsromanzen des schwäbischen Dichterkreises (Kerner, Uhland, Schwab) häufig trifft. So z.B. auch in Ludwig Uhlands Gedicht Graf Eberhard im Bart. Dort ist es ein Schwarzwaldhirte, ebenfalls ein Mann aus dem einfachen Volk, der seinem gräflichen Herrn das Leben rettet. Wobei Uhland, noch viel deutlicher als Hauff in seinem Lichtenstein, den zeitgenössischen Lesern eine politische Botschaft mit auf den Weg gibt (Literatur als Denkmal):
In Fährden und in Nöten, Zeigt erst das Volk sich echt, Drum soll man nie zertreten Sein altes gutes Recht. |
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Die Figur des Pfeifers hielt noch in anderer Hinsicht ein hohes Identifikationspotential für die württembergischen Leser bereit: seine Nähe und Liebe zur schwäbischen Landschaft. Als Georgs ortskundiger Führer über die Schwäbische Alb öffnet der Pfeifer dem jungen Ritter die Augen für die Schönheit des Landes:
„Ein herrliches Land, dieses Württemberg“, rief Georg, indem sein Auge von Hügel zu Hügel schweifte; „wie kühn, wie erhaben diese Gipfel und Bergwände, diese Felsen und ihre Burgen; und wenn ich mich dorthin wende gegen die Täler des Neckars, wie lieblich jene sanften Hügel, jene Berge mit Obst und Wein besetzt, jene fruchtbaren Täler mit schönen Bächen und Flüssen, dazu ein milder Himmel und ein guter, kräftiger Schlag von Menschen.“ „Ja“, fiel der Bauer ein, „es ist ein schönes Land; doch hier oben will es noch nicht viel sagen, aber was so unter Stuttgart ist, das wahre Unterland, Herr! da ist es eine Freude im Sommer oder Herbst, am Neckar hinabzuwandeln; wie da die Felder so schön und reich stehen, wie der Weinstock so dicht und grün die Berge überzieht, und wie Nachen und Flöße den Neckar hinauf- und hinabfahren, wie die Leute so fröhlich an der Arbeit sind, und die schönen Mädchen singen wie die jungen Lerchen.“ (Reclam, S. 124f)
Zur Beliebtheit dieser Romanfigur trug sicher auch bei, dass Hanns der Pfeifer nicht nur die schwäbische Landschaft genau kennt, sondern auch viele Sagen, die sich mit dieser Landschaft verbinden. Und dass er sie Georg erzählt, z.B. die Sage vom Reißenstein (Reclam, S. 127-29). Hauff selbst verweist in Anmerkung 20 auf seine Quelle: Gustav Schwab mit seiner Romanze Der Bau des Reissensteins (1823). Der Stuttgarter Gymnasiallehrer, Pfarrer und Schriftsteller Schwab hatte sich ein paar Jahre nach den Brüdern Grimm auf die Suche nach heimischen Sagen gemacht und sie – wie bei den schwäbischen Romantikern üblich – in Gedichtform veröffentlicht. Schwab stützte sich dabei weniger auf mündliche, als vielmehr schriftliche Überlieferung dieser Sagen, ganz besonders auf die Annales Suevici des Martin Crusius von 1596.
(Das Foto zeigt die Büste von Gustav Schwab (1792–1850) am Haus Hasenbergsteige 20 über dem Stuttgarter Schwabtunnel.)
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6. Gustav Schwabs Der Hohlenstein in Schwaben
und Hauffs Lichtenstein
Ein Sagengedicht Schwabs ist es wohl auch gewesen, das Hauff dazu inspirierte, seine – wie gesagt erfundene – Pfeiferfigur aus dem kleinen Weiler Hardt (bei Nürtingen) stammen zu lassen: Die beiden Hardter Bauern in Schwabs Der Hohlenstein in Schwaben sind in ihrer Direktheit und Hilfsbereitschaft nahe ‚Verwandte‘ des Hauffschen Pfeifers.
Noch einprägsamer aber war für Hauff wohl das in dieser Geschichtsromanze gestaltete Motiv der inneren Einkehr Ulrichs, die er ja auch seinem Ulrich am Romanende attestiert. Und was bei Schwab nur angedeutet wird, nämlich Ulrichs Hinwendung zur Reformation, wenn er in der Bauernstube sich in „das neue deutsche Bibelwort“ vertieft, ist für Hauff die entscheidende historische Leistung des Herzogs (Reclam, S. 404), der Württemberg 1535 lutherisch machte.
Gustav Schwab
Der Hohlenstein in Schwaben (1815) (1)
Hoch droben bei dem Dörflein Hart Man noch ein Felsenloch gewahrt, Es ist im tiefen Wald gelegen Ab von den Feldern und den Wegen. Es trennt der Stein sich in zwei Falten, Als hätt ihn Sturm und Blitz gespalten. Er scheint für Fuchs und Eul allein Ein trüb unheimlich Haus zu sein. Doch ist es bald dreihundert Jahr, Da ward zum Fürstenschloß es gar; Da stand in ihm, das Haupt gebückt, Den Rücken an die Wand gedrückt, Die Arme knapp ins Kreuz geschlagen, Schon seit zwei Nächten und zwei Tagen Ulrich der Herr vom ganzen Land, Hatt nichts, als diese Felsenwand. Die Bündler hatten ihn vertrieben, Sind auf den Fersen ihm geblieben: Und hätt ihn nicht der Felsenspalt Und der verwachsne Buchenwald In seine dunkle Hut genommen, Er wär ums Leben auch gekommen. So aber zogen mit Geschrei Und wildem Fluchen sie vorbei. Und als es nun den müden Fürsten Begann zu hungern und zu dürsten, Fing er zu klagen an und beten, Ob ihn der Herr nicht gnug zertreten; Hätt es der schmale Raum erlaubt, Er wär gekniet mit bloßem Haupt. Da rauscht es in den nahen Zweigen, Zwei Männer sieht er niedersteigen. Nicht Feinde sind es, wild erbost, ´s ist guter Unterthanen Trost; Sie kommen nicht zu fahn, zu lauern, Es sind vom alten Schlage Bauern, Von denen Eberhard im Bart Gerühmt die echte Landesart, Daß ihrem Schoß allnacht ohn Grauen Sein fürstlich Haupt er wollt vertrauen. Wie die den Herzog hier erkunden, Sie wissen nicht, wen sie gefunden, Ins Dörflein führen sie ihn gern Als einen arm verirrten Herrn. Sie kosen traulich mancherhande, Wie’s gute Sitt im Schwabenlande, Sie klagen von den harten Tagen, Und wie das Land sei schwer geschlagen, Der Herzog flüchtig und verbannt, - Doch der wohl hätt’s verdient ums Land! Mit Steuern und mit wildem Jagen Thät er es unaufhörlich plagen, Bis endlich Gott der Herr ihn lehrt, Daß ihm’s nicht also ganz gehört. Der Herzog, schamrot, sah zur Erden, Er sprach: Das soll schon anders werden; Sie aber sagen drauf mit Lachen: Er wird es doch nicht besser machen, Und wenn er’s in der Not verspricht, Kommt er nur wieder, hält er’s nicht. Derweil sind sie ins Dorf gekommen, Und haben ihn ins Haus genommen. Er drückt und bückt sich durch die Thür, Doch kommt ihm alles köstlich für; Wie schmeckt die harte Bank ihm; hei! Wie mundet ihm der schwarze Brei! Er nimmt vom alten Schranke dort Das neue, deutsche Bibelwort, Er liest in Andacht die Propheten Von Fürstenstraf und Volkesnöten; Und wie er drauf sich macht davon, Spricht er: Gott euch für jetzt belohn, Daß ihr den Ulrich mochtet speisen Und ihm sein Regiment verweisen! Er eilt hinaus, sie glauben’s kaum, Und war es ihnen lang ein Traum; Doch als das Land ward wiederbracht, Sind sie gar fröhlich aufgewacht; Mit Kriegsdienst, Steuern, bösen Frohnen Hieß er das ganze Dorf verschonen, Doch ward der Türk im Reich erblickt, Da hat es Einen Mann geschickt, Und gegen die Franzosen neulich, Da schickt‘ es mehr als Einen treulich.
Also hat seit dreihundert Jahren Das Dörflein Hart es wohl erfahren, Daß es den Herzog auf der Flucht Gerettet aus der Felsenschlucht. |
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(1) Bei Nürtingen, im nahen Angesichte der Alb
Vorlage:
Gustav Schwabs Gedichte. Hrg. von Gotthold Klee. Gütersloh 1882, S. 187-189.
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August Seyffer (1774 -1845):
Der Ulrichstein bei Hardt. Ätzdruck um 1814
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unter Creative Commons-Lizenz
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Der „Hohlenstein“, schon zu Hauffs Zeiten und bis heute die „Ulrichshöhle“ oder der „Ulrichstein“ genannt, spielt als Ort auch im Roman Lichtenstein eine ganz zentrale Rolle.
Wie bei Schwab hat sich der Herzog auch vor den bündischen Verfolgern in dieser Waldschlucht versteckt. In Hauffs Version des Geschehens ist Ulrich in diesem Versteck aber nicht allein, sondern von seinen wenigen Getreuen umgeben. Und der Treueste unter ihnen, der Pfeifer von Hardt, hat sie dorthin geführt und in Sicherheit gebracht. An diesem „geschichtsträchtigen“ Ort offenbart dieser treue Mann nicht nur das Geheimnis seiner Verbundenheit mit dem Herzog. Hier hat der verfolgte Herzog auch jenen Traum, der eine glänzende und friedvolle Zukunft Württembergs antizipiert und ihm prophezeit, ein König aus seinem Stamm werde einmal Württemberg regieren. (Reclam, S. 385-88)
An dieser Stelle des Romans musste – für den zeitgenössischen Leser - württembergische Geschichte so zur Erfüllung göttlicher Vorsehung werden: Denn 1806 war ja Württemberg tatsächlich ein Königreich geworden.
Und der „Hohlenstein“ wurde, dank Schwab und Hauff, zu einem Ort, an dem vaterländische Geschichte via Literatur lebendig und greifbar war.
Wie die meisten Ulrichs-Sagen, die im 18. und 19. Jahrhundert kursierten, versucht auch diese vom Hohlenstein historische Ereignisse mit gängigen Sagenmotiven zu verknüpfen, um vaterländische, sprich württembergische Geschichte im ‚Volk‘ zu verankern. Solche Sagen wirkten bei vielen Menschen geschichtsbildend und trugen zur Popularisierung württembergischer Geschichte bei. Und ganz besonders Hauffs Romantische Sage aus der württembergischen Geschichte, der viel gelesene Roman Lichtenstein.
Literatur:
* Klaus Graf: Sagen-kritische Gedanken zu Erzählungen aus dem Raum Kirchheim/Teck. 1997. Online.
*Frank Vögele: „Hie gut Württemberg allezeit”. Eine Untersuchung zum politischen Gehalt von Wilhelm Hauffs Roman „Lichtenstein“. In: Wilhelm Hauff. Aufsätze zu seinem poetischen Werk. St. Ingbert 2002, S. 83-112.
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Hardt, der kleine Ortsteil von Nürtingen, hält mit dieser Brunnenfigur die Erinnerung an Hauffs Romanfigur lebendig.
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Besuchen Sie auch die weiteren Seiten zu Hauffs Lichtenstein
Folge II
Ein Märchenschloss wird Wirklichkeit
http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=6650
Folge III
"Wer kennt nicht Wilhelm Hauff, den schwäbischen Walter Scott?
Wer hat nicht seinen Lichtenstein gelesen?" (Griesinger)
Ein Beitrag zur Rezeption von Hauffs "Lichtenstein"
http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=6715
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