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Jutta Assel | Georg Jäger

Legenden-Motive auf Postkarten

Joseph Ritter von Führich
Genoveva 

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Graf Siegfried findet seine als tot beweinte Gemahlin Genoveva wieder.

 

Kap. 17. Graf Siegfried findet seine Gemahlin:

      [...] Der Graf stieß auf ein Stück Wild, das er mit seinem Wurfspieße verfehlte. Er setzte ihm zu Pferde nach. Das Tier floh durch Dornen und Sträucher und über Felsentrümmer, und versteckte sich endlich — in Genovevas Höhle. Denn es war eben die treue Hirschkuh, von deren Milch Genoveva und ihr Sohn sich schon solange ernährten.
      Da der Graf zuletzt über die steilen Felsen nicht mehr weiterreiten konnte, stieg er ab, band sein Pferd an eine Tanne, seine Hunde verfolgten die Spur des Tieres und kamen zur Höhle. Er schaute hinein, und erblickte zu seinem Erstaunen in der Tiefe der dunklen Höhle eine abgezehrte menschliche Gestalt mit todbleichem Angesicht. Es war Genoveva, die ihre schwere Krankheit zwar überstanden hatte, aber so matt und entkräftet war, daß sie in dieser Wildnis sich nie mehr würde erholt haben. Beinahe an jedem Morgen glaubte sie, sie werde den Abend nicht mehr erleben.
      "Wenn du ein Mensch bist," rief der Graf in die Höhle hinein, "so komm heraus an das Tageslicht!" "So wirf mir deinen Mantel herein," rief Genoveva. Er tat es, da kam sie heraus, in das Schaffell eingehüllt, die Schultern von ihren langen, goldenen Haaren bedeckt, mit bloßen Armen und Füßen, zitternd vor Frost und blaß wie eine Sterbende.
      "Wer bist du, und wie kommst du hierher?" rief der Graf, indem er bestürzt einen Schritt zurückwich. Sie aber hatte ihn sogleich auf den ersten Blick erkannt.
      "Siegfried!" sagte sie mit schwacher Stimme, "ich bin deine Gemahlin Genoveva, die du zum Tode verurteilt hast. Aber Gott weiß es, ich bin unschuldig!"
      Da war es dem Grafen nicht anders, als träfe ihn ein Donnerschlag. Er wußte nicht mehr, ob er träume oder wache. Da er vor Schwermut öfter wie von Sinnen war, und sich jetzt in diesem abgelegenen, schauerlichen Tale, tief im Walde, von allen seinen Leuten weit entfernt und ganz allein sah, so meinte er, er sähe Genovevas Geist.
      [...]
      Genoveva sagte noch einmal: "Siegfried! Liebster, bester Gemahl!" und blickte ihn dabei so liebreich und freundlich an wie ein Engel des Himmels. "Kennst du denn deine Genoveva nicht mehr! Sieh, ich bin es wirklich! Sieh mich doch nur recht an! Fühle da meine Hand! Schau da den Ring an meinem Finger, den ich noch von dir habe! O komm doch zu dir selbst! O Gott, befreie du ihn von dieser seiner entsetzlichen Einbildung!"
      Endlich kam er von seinem Schrecken zurück und erwachte wie aus einem schweren Traume. "Ja, du bist es!" rief er, und fiel ihr wie vernichtet zu Füßen. Seine Augen ruhten lange auf der abgehärmten Gestalt, und er konnte kein Wort hervorbringen. Endlich brach er in heiße Tränen aus. "Du also," rief er, "du, du bist meine Gemahlin! Du bist jene lieblich blühende Genoveva! Und nun in diesem Elende! Und von mir in dieses Elend verstoßen! O, ich bin nicht wert, daß mich die Erde trage! Ich darf meine Augen nicht zu dir erheben! O, kannst du mir verzeihen?"
      Genoveva sagte weinend: "Liebster Siegfried, ich habe dir nie gezürnt! Ich liebte dich immer! Ich wußte es ja, daß du betrogen wurdest. O, steh' auf und komm' in meine Arme! Sieh, ich weine ja vor Freude, dich wiederzusehen."
      [...]
      Indem sie noch sprach, kam Schmerzenreich. Er hatte nichts als sein Rehfellchen um den Leib. Unter dem Arme trug er einige frische Kräuter, die er eben an der Quelle gepflückt hatte, und in der Hand hielt er eine Wurzel, von der er eben aß.

 

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