goethe


Jutta Assel | Georg Jäger

Illustrationen von Rudolf Schiestl
Eine Auswahl aus dem "Deutschen Spielmann"

Optimiert für Firefox
Stand: Juni 2015

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Gliederung

1. Texte und Illustrationen
2. Vorlage: Der deutsche Spielmann
3. Kurzbiographie zu Rudolf Schiestl
4. Rechtlicher Hinweis und Kontaktanschrift

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Illustrierte Texte

Brüder Grimm, König Drosselbart | Brüder Grimm, Die hagere Liese | Brüder Grimm, Der Meisterdieb | Friedrich Hebbel, Der Heideknabe | Theodor Storm, Die Kinder | Emanuel Geibel, Rühret nicht daran | Ludwig Uhland, Wanderlieder, 7. Abreise | Martin Greif, Das Würfelspiel | Eduard Mörike, Schön-Rohtraut | Adelbert von Chamisso, Die Sonne bringt es an den Tag

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1. Texte und Illustrationen

Brüder Grimm
König Drosselbart

Ein König hatte eine Tochter, die war über alle Maßen schön, aber dabei so stolz und übermütig, dass ihr kein Freier gut genug war. Sie wies einen nach dem andern ab und trieb noch dazu Spott mit ihnen. Einmal ließ der König ein großes Fest anstellen und ladete dazu aus der Nähe und Ferne die heiratslustigen Männer ein.

Sie wurden alle in eine Reihe nach Rang und Stand geordnet; erst kamen die Könige, dann die Herzöge, die Fürsten, Grafen und Freiherrn, zuletzt die Edelleute. Nun ward die Königstochter durch die Reihen geführt, aber an jedem hatte sie etwas auszusetzen. Der eine war ihr zu dick: "Das Weinfass!" sprach sie. Der andere zu lang: "Lang und schwank hat keinen Gang." Der dritte zu kurz: "Kurz und dick hat kein Geschick." Der vierte zu blass: "Der bleiche Tod!" Der fünfte zu rot: "Der Zinshahn!" Der sechste war nicht gerad genug: "Grünes Holz, hinterm Ofen getrocknet!" Und so hatte sie an einem jeden etwas auszusetzen, besonders aber machte sie sich über einen guten König lustig, der ganz oben stand und dem das Kinn ein wenig krumm gewachsen war. "Ei", rief sie und lachte, "der hat ein Kinn wie die Drossel einen Schnabel"; und seit der Zeit bekam er den Namen Drosselbart. Der alte König aber, als er sah, dass seine Tochter nichts tat als über die Leute spotten und alle Freier, die da versammelt waren, verschmähte, ward er zornig und schwur, sie sollte den ersten besten Bettler zum Manne nehmen, der vor seine Türe käme.

Ein paar Tage darauf hub ein Spielmann an, unter dem Fenster zu singen, um damit ein geringes Almosen zu verdienen. Als es der König hörte, sprach er: "Lasst ihn heraufkommen." Da trat der Spielmann in seinen schmutzigen, verlumpten Kleidern herein, sang vor dem König und seiner Tochter und bat, als er fertig war, um eine milde Gabe. Der König sprach: "Dein Gesang hat mir so wohl gefallen, dass ich dir meine Tochter da zur Frau geben will." Die Königstochter erschrak, aber der König sagte: "Ich habe den Eid getan, dich dem ersten besten Bettelmann zu geben, den will ich auch halten." Es half keine Einrede, der Pfarrer ward geholt, und sie musste sich gleich mit dem Spielmann trauen lassen. Als das geschehen war, sprach der König: "Nun schickt sich's nicht, dass du als ein Bettelweib noch länger in meinem Schloss bleibst, du kannst nun mit deinem Manne fortziehen." Der Bettelmann führte sie an der Hand hinaus, und sie musste mit ihm zu Fuß fortgehen.

Als sie in einen großen Wald kamen, da fragte sie:

"Ach, wem gehört der schöne Wald?"
"Der gehört dem König Drosselbart;
hättst du 'n genommen, so wär er dein."
"Ich arme Jungfer zart,
ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!"

 
Darauf kamen sie über eine Wiese, da fragte sie wieder:

"Wem gehört die schöne grüne Wiese?"
"Sie gehört dem König Drosselbart;
hättst du 'n genommen, so wär sie dein."
"Ich arme Jungfer zart,
ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!"


Dann kamen sie durch eine große Stadt, da fragte sie wieder:

"Wem gehört diese schöne große Stadt?"
"Sie gehört dem König Drosselbart;
hättst du 'n genommen, so wär sie dein."
"Ich arme Jungfer zart,
ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!"


"Es gefällt mir gar nicht", sprach der Spielmann, "dass du dir immer einen andern zum Mann wünschest: bin ich dir nicht gut genug?"

Endlich kamen sie an ein ganz kleines Häuschen, da sprach sie:

"Ach, Gott, was ist das Haus so klein!
Wem mag das elende winzige Häuschen sein?"


Der Spielmann antwortete: "Das ist mein und dein Haus, wo wir zusammen wohnen." Sie musste sich bücken, damit sie zu der niedrigen Tür hineinkam. "Wo sind die Diener?" sprach die Königstochter. "Was Diener!" antwortete der Bettelmann. "Du musst selber tun, was du willst getan haben. Mach nur gleich Feuer an und stell Wasser auf, dass du mir mein Essen kochst; ich bin ganz müde." Die Königstochter verstand aber nichts vom Feueranmachen und Kochen, und der Bettelmann musste selber mit Hand anlegen, dass es noch so leidlich ging. Als sie die schmale Kost verzehrt hatten, legten sie sich zu Bett; aber am Morgen trieb er sie schon ganz früh heraus, weil sie das Haus besorgen sollte.

Ein paar Tage lebten sie auf diese Art schlecht und recht und zehrten ihren Vorrat auf. Da sprach der Mann: "Frau, so geht's nicht länger, dass wir hier zehren und nichts verdienen. Du sollst Körbe flechten." Er ging aus, schnitt Weiden und brachte sie heim; da fing sie an zu flechten, aber die harten Weiden stachen ihr die zarten Hände wund. "Ich sehe, das geht nicht", sprach der Mann, "spinn lieber, vielleicht kannst du das besser." Sie setzte sich hin und versuchte zu spinnen, aber der harte Faden schnitt ihr bald in die weichen Finger, dass das Blut daran herunterlief. "Siehst du", sprach der Mann, "du taugst zu keiner Arbeit, mit dir bin ich schlimm angekommen. Nun will ich's versuchen und einen Handel mit Töpfen und irdenem Geschirr anfangen: du sollst dich auf den Markt setzen und die Ware feilhalten." "Ach", dachte sie, "wenn auf den Markt Leute aus meines Vaters Reich kommen und sehen mich da sitzen und feilhalten, wie werden sie mich verspotten!" Aber es half nichts, sie musste sich fügen, wenn sie nicht Hungers sterben wollten.

Das erste Mal ging's gut, denn die Leute kauften der Frau, weil sie schön war, gern ihre Ware ab und bezahlten, was sie forderte: ja, viele gaben ihr das Geld und ließen ihr die Töpfe noch dazu. Nun lebten sie von dem erworbenen, solang es dauerte, da handelte der Mann wieder eine Menge neues Geschirr ein. Sie setzte sich damit an eine Ecke des Marktes und stellte es um sich her und hielt feil. Da kam plötzlich ein trunkener Husar daher gejagt und ritt geradezu in die Töpfe hinein, dass alles in tausend Scherben zersprang. Sie fing an zu weinen und wusste vor Angst nicht, was sie anfangen sollte. "Ach, wie wird mir's ergehen!" rief sie. "Was wird mein Mann dazu sagen!" Sie lief heim und erzählte ihm das Unglück. "Wer setzt sich auch an die Ecke des Marktes mit irdenem Geschirr!" sprach der Mann. "Lass nur das Weinen, ich sehe wohl, du bist zu keiner ordentlichen Arbeit zu gebrauchen. Da bin ich in unseres Königs Schloss gewesen und habe gefragt, ob sie nicht eine Küchenmagd brauchen könnten, und sie haben mir versprochen, sie wollten dich dazu nehmen; dafür bekommst du freies Essen."

Nun ward die Königstochter eine Küchenmagd, musste dem Koch zur Hand gehen und die sauerste Arbeit tun. Sie machte sich in beiden Taschen ein Töpfchen fest, darin brachte sie nach Haus, was ihr von dem Übriggebliebenen zuteil ward, und davon nährten sie sich.

Es trug sich zu, dass die Hochzeit des ältesten Königssohnes sollte gefeiert werden, da ging die arme Frau hinauf, stellte sich vor die Saaltüre und wollte zusehen. Als nun die Lichter angezündet waren und immer einer schöner als der andere hereintrat und alles voll Pracht und Herrlichkeit war, da dachte sie mit betrübtem Herzen an ihr Schicksal und verwünschte ihren Stolz und Übermut, der sie erniedrigt und in so große Armut gestürzt hatte. Von den köstlichen Speisen, die da ein und aus getragen wurden und von welchen der Geruch zu ihr aufstieg, warfen ihr Diener manchmal ein paar Brocken zu, die tat sie in ihr Töpfchen und wollte es heimtragen. Auf einmal trat der Königssohn herein, war in Samt und Seide gekleidet und hatte goldene Ketten um den Hals. Und als er die schöne Frau in der Türe stehen sah, ergriff er sie bei der Hand und wollte mit ihr tanzen, aber sie weigerte sich und erschrak, denn sie sah, dass es der König Drosselbart war, der um sie gefreit und den sie mit Spott abgewiesen hatte. Ihr Sträuben half nichts, er zog sie in den Saal; da zerriss das Band, an welchem die Taschen hingen, und die Töpfe fielen heraus, dass die Suppe floss und die Brocken umhersprangen. Und wie das die Leute sahen, entstand ein allgemeines Gelächter und Spotten, und sie war so beschämt, dass sie sich lieber tausend Klafter unter die Erde gewünscht hätte. Sie sprang zur Türe hinaus und wollte entfliehen, aber auf der Treppe holte sie ein Mann ein und brachte sie zurück; und wie sie ihn ansah, war es wieder der König Drosselbart. Er sprach ihr freundlich zu: "Fürchte dich nicht, ich und der Spielmann, der mit dir in dem elenden Häuschen gewohnt hat, sind eins. Dir zuliebe habe ich mich so verstellt, und der Husar, der dir die Töpfe entzwei geritten hat, bin ich auch gewesen. Das alles ist geschehen, um deinen stolzen Sinn zu beugen und dich für deinen Hochmut zu strafen, womit du mich verspottet hast." Da weinte sie bitterlich und sagte: "Ich habe großes Unrecht gehabt und bin nicht wert, deine Frau zu sein." Er aber sprach: "Tröste dich, die bösen Tage sind vorüber, jetzt wollen wir unsere Hochzeit feiern."

Da kamen die Kammerfrauen und taten ihr die prächtigsten Kleider an, und ihr Vater kam und der ganze Hof und wünschten ihr Glück zu ihrer Vermählung mit dem König Drosselbart, und die rechte Freude fing jetzt erst an. Ich wollte, du und ich, wir wären auch dabei gewesen.


Vgl. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Hrsg. von Heinz Rölleke. 3 Bde. (Universal-Bibliothek; 3191-3193) Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1980. Nr. 52. "Drei Erzählungen aus Hessen, den Maingegenden und dem Paderbörnischen", letztere mit einem anderen Eingang, der in der Anmerkung referiert wird.

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Brüder Grimm
Die hagere Liese

Ganz anders als der faule Heinz und die dicke Trine, die sich von nichts aus ihrer Ruhe bringen ließen, dachte die hagere Liese. Sie äscherte sich ab von Morgen bis Abend und lud ihrem Mann, dem langen Lenz, so viel Arbeit auf, dass er schwerer zu tragen hatte als ein Esel an drei Säcken. Es war aber alles umsonst, sie hatten nichts und kamen zu nichts.

Eines Abends, als sie im Bette lag und vor Müdigkeit kaum ein Glied regen konnte, ließen sie die Gedanken doch nicht einschlafen. Sie stieß ihren Mann mit dem Ellenbogen in die Seite und sprach: "Hörst du, Lenz, was ich gedacht habe? Wenn ich einen Gulden fände und einer mir geschenkt würde, so wollte ich einen dazu borgen, und du solltest mir auch noch einen geben; sobald ich dann die vier Gulden beisammen hätte, so wollte ich eine junge Kuh kaufen." Dem Mann gefiel das recht gut: "Ich weiß zwar nicht", sprach er, "woher ich den Gulden nehmen soll, den du von mir willst geschenkt haben, aber wenn du dennoch das Geld zusammen bringst und du kannst dafür eine Kuh kaufen, so tust du wohl, wenn du dein Vorhaben ausführst. Ich freue mich", fügte er hinzu, "wenn die Kuh ein Kälbchen bringt, so werde ich doch manchmal zu meiner Erquickung einen Trunk Milch erhalten." "Die Milch ist nicht für dich", sagte die Frau, "wir lassen das Kalb saugen, damit es groß und fett wird und wir es gut verkaufen können." "Freilich", antwortete der Mann, "aber ein wenig Milch nehmen wir doch, das schadet nichts." "Wer hat dich gelehrt, mit Kühen umgehen?" sprach die Frau, "es mag schaden oder nicht, ich will es nicht haben; und wenn du dich auf den Kopf stellst, du kriegst keinen Tropfen Milch. Du langer Lenz; weil du nicht zu ersättigen bist, meinst du, du wolltest verzehren, was ich mit Mühe erwerbe." "Frau", sagte der Mann, "sei still, oder ich hänge dir eine Maultasche an." "Was", rief sie, "du willst mir drohen, du Nimmersatt, du Strick, du fauler Heinz."

Sie wollte ihm in die Haare fallen, aber der lange Lenz richtete sich auf, packte mit der einen Hand die dürren Arme der hageren Liese zusammen, mit der andern drückte er ihr den Kopf auf das Kissen, ließ sie schimpfen und hielt sie so lange, bis sie vor großer Müdigkeit eingeschlafen war. Ob sie am andern Morgen beim Erwachen fortfuhr zu zanken oder ob sie ausging, den Gulden zu suchen, den sie finden wollte, das weiß ich nicht.


Vgl. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Hrsg. von Heinz Rölleke. 3 Bde. (Universal-Bibliothek; 3191-3193) Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1980. Nr. 168. Im ersten Satz Verweis auf Nr. 164: Der faule Heinz und die dicke Trine.

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Brüder Grimm
Der Meisterdieb

Eines Tages saß vor einem ärmlichen Hause ein alter Mann mit seiner Frau und wollten von der Arbeit ein wenig ausruhen. Da kam auf einmal ein prächtiger, mit vier Rappen bespannter Wagen herbei gefahren, aus dem ein reichgekleideter Herr stieg. Der Bauer stand auf, trat zu dem Herrn und fragte, was sein Verlangen wäre und worin er ihm dienen könnte. Der Fremde reichte dem Alten die Hand und sagte: "Ich wünsche nichts, als einmal ein ländliches Gericht zu genießen. Bereitet mir Kartoffel, wie Ihr sie zu essen pflegt, dann will ich mich zu Euerm Tisch setzen und sie mit Freude verzehren." Der Bauer lächelte und sagte: "Ihr seid ein Graf oder Fürst oder gar ein Herzog, vornehme Herrn haben manchmal solch ein Gelüsten; Euer Wunsch soll aber erfüllt werden." Die Frau ging in die Küche, und sie fing an, Kartoffel zu waschen und zu reiben, und wollte Klöße daraus bereiten, wie sie die Bauern essen.

Während sie bei der Arbeit stand, sagte der Bauer zu dem Fremden: "Kommt einstweilen mit mir in meinen Hausgarten, wo ich noch etwas zu schaffen habe." In dem Garten hatte er Löcher gegraben und wollte jetzt Bäume einsetzen. "Habt Ihr keine Kinder", fragte der Fremde, "die Euch bei der Arbeit behilflich sein könnten?" "Nein", antwortete der Bauer; "ich habe freilich einen Sohn gehabt", setzte er hinzu, "aber der ist schon seit langer Zeit in die weite Welt gegangen. Es war ein ungeratener Junge, klug und verschlagen, aber er wollte nichts lernen und machte lauter böse Streiche; zuletzt lief er mir fort, und seitdem habe ich nichts von ihm gehört." Der Alte nahm ein Bäumchen, setzte es in ein Loch und stieß einen Pfahl daneben; und als er Erde hinein geschaufelt und sie festgestampft hatte, band er den Stamm unten, oben und in der Mitte mit einem Strohseil fest an den Pfahl. "Aber sagt mir", sprach der Herr, "warum bindet Ihr den krummen, knorrichten Baum, der dort in der Ecke fast bis auf den Boden gebückt liegt, nicht auch an einen Pfahl wie diesen, damit er strack wächst?" Der Alte lächelte und sagte: "Herr, Ihr redet, wie Ihr's versteht. Man sieht wohl, dass Ihr Euch mit der Gärtnerei nicht abgegeben habt. Der Baum dort ist alt und verknorzt, den kann niemand mehr gerad machen. Bäume muss man ziehen, solange sie jung sind." "Es ist wie bei Euerm Sohn", sagte der Fremde, "hättet Ihr den gezogen, wie er noch jung war, so wäre er nicht fortgelaufen; jetzt wird er auch hart und knorzig geworden sein." "Freilich", antwortete der Alte, "es ist schon lange, seit er fortgegangen ist; er wird sich verändert haben." "Würdet Ihr ihn noch erkennen, wenn er vor Euch träte?" fragte der Fremde. "Am Gesicht schwerlich", antwortete der Bauer, "aber er hat ein Zeichen an sich, ein Muttermal auf der Schulter, das wie eine Bohne aussieht."

Als er das gesagt hatte, zog der Fremde den Rock aus, entblößte seine Schulter und zeigte dem Bauer die Bohne. "Herr Gott", rief der Alte, "du bist wahrhaftig mein Sohn", und die Liebe zu seinem Kind regte sich in seinem Herzen. "Aber", setzte er hinzu, "wie kannst du mein Sohn sein, du bist ein großer Herr geworden und lebst in Reichtum und Überfluss? Auf welchem Weg bist du dazu gelangt?" "Ach, Vater", erwiderte der Sohn, "der junge Baum war an keinen Pfahl gebunden und ist krumm gewachsen; jetzt ist er zu alt, er wird nicht wieder gerad. Wie ich das alles erworben habe? Ich bin ein Dieb geworden. Aber erschreckt Euch nicht, ich bin ein Meisterdieb. Für mich gibt es weder Schloss noch Riegel; wonach mich gelüstet, das ist mein. Glaubt nicht, dass ich stehle wie ein gemeiner Dieb, ich nehme nur vom Überfluss der Reichen. Arme Leute sind sicher; ich gebe ihnen lieber, als dass ich ihnen etwas nehme. So auch, was ich ohne Mühe, List und Gewandtheit haben kann, das rühre ich nicht an." "Ach, mein Sohn", sagte der Vater, "es gefällt mir doch nicht, ein Dieb bleibt ein Dieb; ich sage dir, es nimmt kein gutes Ende." Er führte ihn zu der Mutter, und als sie hörte, dass es ihr Sohn war, weinte sie vor Freude, als er ihr aber sagte, dass er ein Meisterdieb geworden wäre, so flossen ihr zwei Ströme über das Gesicht. Endlich sagte sie: "Wenn er auch ein Dieb geworden ist, so ist er doch mein Sohn, und meine Augen haben ihn noch einmal gesehen."

Sie setzten sich an den Tisch, und er aß mit seinen Eltern wieder einmal die schlechte Kost, die er lange nicht gegessen hatte. Der Vater sprach: "Wenn unser Herr, der Graf drüben im Schlosse, erfährt, wer du bist und was du treibst so nimmt er dich nicht auf die Arme und wiegt dich darin, wie er tat, als er dich am Taufstein hielt, sondern er lässt dich am Galgenstrick schaukeln." "Seid ohne Sorge, mein Vater, er wird mir nichts tun, denn ich verstehe mein Handwerk. Ich will heute noch selbst zu ihm gehen."

Als die Abendzeit sich näherte, setzte sich der Meisterdieb in seinen Wagen und fuhr nach dem Schloss. Der Graf empfing ihn mit Artigkeit, weil er ihn für einen vornehmen Mann hielt. Als aber der Fremde sich zu erkennen gab, so erbleichte er und schwieg eine Zeitlang ganz still. Endlich sprach er: "Du bist mein Pate, deshalb will ich Gnade für Recht ergehen lassen und nachsichtig mit dir verfahren. Weil du dich rühmst, ein Meisterdieb zu sein, so will ich deine Kunst auf die Probe stellen, wenn du aber nicht bestehst, so musst du mit des Seilers Tochter Hochzeit halten, und das Gekrächze der Raben soll deine Musik dabei sein. "Herr Graf", antwortete der Meister, "denkt Euch drei Stücke aus, so schwer Ihr wollt, und wenn ich Eure Aufgabe nicht löse, so tut mit mir, wie Euch gefällt." Der Graf sann einige Augenblicke nach, dann sprach er: "Wohlan, zum ersten sollst du mir mein Leibpferd aus dem Stalle stehlen, zum andern sollst du mir und meiner Gemahlin, wenn wir eingeschlafen sind, das Bettuch unter dem Leib wegnehmen, ohne dass wir's merken und dazu meiner Gemahlin den Trauring vom Finger; zum dritten und letzten sollst du mir den Pfarrer und Küster aus der Kirche wegstehlen. Merke dir alles wohl, denn es geht dir an den Hals."

Der Meister begab sich in die zunächst liegende Stadt. Dort kaufte er einer alten Bauerfrau die Kleider ab und zog sie an. Dann färbte er sich das Gesicht braun und malte sich noch Runzeln hinein, so dass ihn kein Mensch wiedererkannt hätte. Endlich füllte er ein Fässchen mit altem Ungarwein, in welchen ein starker Schlaftrunk gemischt war. Das Fässchen legte er auf eine Kötze, die er auf den Rücken nahm, und ging mit bedächtigen, schwankenden Schritten zu dem Schloss des Grafen.

Es war schon dunkel, als er anlangte; er setzte sich in dem Hof auf einen Stein, fing an zu husten wie eine alte brustkranke Frau und rieb die Hände, als wenn er fröre. Vor der Türe des Pferdestalls lagen Soldaten um ein Feuer; einer von ihnen bemerkte die Frau und rief ihr zu: "Komm näher, altes Mütterchen, und wärme dich bei uns. Du hast doch kein Nachtlager und nimmst es an, wo du es findest." Die Alte trippelte herbei, bat, ihr die Kotze vom Rücken zu heben, und setzte sich zu ihnen ans Feuer. "Was hast du da in deinem Fässchen, du alte Schachtel?" fragte einer. "Einen guten Schluck Wein", antwortete sie, "ich ernähre mich mit dem Handel, für Geld und gute Worte gebe ich Euch gerne ein Glas." "Nur her damit", sagte der Soldat, und als er ein Glas gekostet hatte, rief er: "Wenn der Wein gut ist, so trink ich lieber ein Glas mehr", ließ sich nochmals einschenken, und die andern folgten seinem Beispiel. "Heda, Kameraden", rief einer denen zu, die in dem Stall saßen, "hier ist ein Mütterchen, das hat Wein, der so alt ist wie sie selber, nehmt auch einen Schluck, der wärmt euch den Magen noch besser als unser Feuer." Die Alte trug ihr Fässchen in den Stall. Einer hatte sich auf das gesattelte Leibpferd gesetzt, ein anderer hielt den Zaum in der Hand, ein dritter hatte den Schwanz gepackt. Sie schenkte ein, soviel verlangt ward, bis die Quelle versiegte. Nicht lange, so fiel dem einen der Zaum aus der Hand, er sank nieder und fing an zu schnarchen, der andere ließ den Schwanz los, legte sich nieder und schnarchte noch lauter. Der, welcher im Sattel saß, blieb zwar sitzen, bog sich aber mit dem Kopf fast bis auf den Hals des Pferdes, schlief und blies mit dem Mund wie ein Schmiedebalg. Die Soldaten draußen waren schon längst eingeschlafen, lagen auf der Erde und regten sich nicht, als wären sie von Stein.

Als der Meisterdieb sah, dass es ihm geglückt war, gab er dem einen statt des Zaums ein Seil in die Hand und dem andern, der den Schwanz gehalten hatte, einen Strohwisch; aber was sollte er mit dem, der auf dem Rücken des Pferdes saß, anfangen? Herunterwerfen wollte er ihn nicht, er hätte erwachen und ein Geschrei erheben können. Er wusste aber guten Rat, er schnallte die Sattelgurt auf, knüpfte ein paar Seile, die in Ringen an der Wand hingen, an dem Sattel fest und zog den schlafenden Reiter mit dem Sattel in die Höhe, dann schlug er die Seile um den Pfosten und machte sie fest. Das Pferd hatte er bald von der Kette losgebunden, aber wenn er über das steinerne Pflaster des Hofs geritten wäre, so hätte man den Lärm im Schloss gehört. Er umwickelte ihm also zuvor die Hufe mit alten Lappen, führte es dann vorsichtig hinaus, schwang sich auf und jagte davon.

Als der Tag angebrochen war, sprengte der Meister auf dem gestohlenen Pferd zu dem Schloss. Der Graf war eben aufgestanden und blickte aus dem Fenster. "Guten Morgen, Herr Graf", rief er ihm zu, "hier ist das Pferd, das ich glücklich aus dem Stall geholt habe. Schaut nur, wie schön Eure Soldaten da liegen und schlafen, und wenn Ihr in den Stall gehen wollt, so werdet Ihr sehen, wie bequem sich's Eure Wächter gemacht haben." Der Graf musste lachen, dann sprach er: "Einmal ist dir's gelungen, aber das zweite Mal wird's nicht so glücklich ablaufen. Und ich warne dich, wenn du mir als Dieb begegnest, so behandle ich dich auch wie einen Dieb."

Als die Gräfin abends zu Bette gegangen war, schloss sie die Hand mit dem Trauring fest zu, und der Graf sagte: "Alle Türen sind verschlossen und verriegelt, ich bleibe wach und will den Dieb erwarten; steigt er aber zum Fenster ein, so schieße ich ihn nieder." Der Meisterdieb aber ging in der Dunkelheit hinaus zu dem Galgen, schnitt einen armen Sünder, der da hing, von dem Strick ab und trug ihn auf dem Rücken nach dem Schloss. Dort stellte er eine Leiter an das Schlafgemach, setzte den Toten auf seine Schultern und fing an hinaufzusteigen. Als er so hoch gekommen war, dass der Kopf des Toten in dem Fenster erschien, drückte der Graf, der in seinem Bett lauerte, eine Pistole auf ihn los; alsbald ließ der Meister den armen Sünder herabfallen, sprang selbst die Leiter herab, und versteckte sich in eine Ecke. Die Nacht war von dem Mond so weit erhellt, dass der Meister deutlich sehen konnte, wie der Graf aus dem Fenster auf die Leiter stieg, herabkam und den Toten in den Garten trug. Dort fing er an, ein Loch zu graben, in das er ihn legen wollte. "Jetzt", dachte der Dieb, "ist der günstige Augenblick gekommen", schlich behende aus seinem Winkel und stieg die Leiter hinauf, geradezu ins Schlafgemach der Gräfin. "Liebe Frau", fing er mit der Stimme des Grafen an, "der Dieb ist tot, aber er ist doch mein Pate und mehr ein Schelm als ein Bösewicht gewesen, ich will ihn der öffentlichen Schande nicht preisgeben; auch mit den armen Eltern habe ich Mitleid. Ich will ihn, bevor der Tag anbricht, selbst im Garten begraben, damit die Sache nicht ruchbar wird. Gib mir auch das Betttuch, so will ich die Leiche einhüllen und ihn wie einen Hund verscharren." Die Gräfin gab ihm das Tuch. "Weißt du was", sagte der Dieb weiter, "ich habe eine Anwandlung von Großmut, gib mir noch den Ring; der Unglückliche hat sein Leben gewagt, so mag er ihn ins Grab mitnehmen." Sie wollte dem Grafen nicht entgegen sein, und obgleich sie es ungern tat, so zog sie doch den Ring vom Finger und reichte ihn hin. Der Dieb machte sich mit beiden Stücken fort und kam glücklich nach Haus, bevor der Graf im Garten mit seiner Totengräberarbeit fertig war.

Was zog der Graf für ein langes Gesicht, als am andern Morgen der Meister kam und ihm das Betttuch und den Ring brachte. "Kannst du hexen?" sagte er zu ihm. "Wer hat dich aus dem Grab geholt, in das ich selbst dich gelegt habe, und hat dich wieder lebendig gemacht?" "Mich habt Ihr nicht begraben", sagte der Dieb, "sondern den armen Sünder am Galgen", und erzählte ausführlich, wie es zugegangen war; und der Graf musste ihm zugestehen, dass er ein gescheiter und listiger Dieb wäre. "Aber noch bist du nicht zu Ende", setzte er hinzu, "du hast noch die dritte Aufgabe zu lösen, und wenn dir das nicht gelingt, so hilft dir alles nichts." Der Meister lächelte und gab keine Antwort.

 


Als die Nacht eingebrochen war, kam er mit einem langen Sack auf dem Rücken, einem Bündel unter dem Arm und einer Laterne in der Hand zu der Dorfkirche gegangen. In dem Sack hatte er Krebse, in dem Bündel aber kurze Wachslichter. Er setzte sich auf den Gottesacker, holte einen Krebs heraus und klebte ihm ein Wachslichtchen auf den Rücken; dann zündete er das Lichtchen an, setzte den Krebs auf den Boden und ließ ihn kriechen. Er holte einen zweiten aus dem Sack, machte es mit diesem ebenso und fuhr fort, bis auch der letzte aus dem Sacke war. Hierauf zog er ein langes schwarzes Gewand an, das wie eine Mönchskutte aussah, und klebte sich einen grauen Bart an das Kinn. Als er endlich ganz unkenntlich war, nahm er den Sack, in dem die Krebse gewesen waren, ging in die Kirche und stieg auf die Kanzel. Die Turmuhr schlug eben zwölf; als der letzte Schlag verklungen war, rief er mit lauter, gellender Stimme: "Hört an, ihr sündigen Menschen, das Ende aller Dinge ist gekommen, der Jüngste Tag ist nahe, hört an, hört an. Wer mit mir in den Himmel will, der krieche in den Sack. Ich bin Petrus, der die Himmelstüre öffnet und schließt. Seht ihr, draußen auf dem Gottesacker wandeln die Gestorbenen und sammeln ihre Gebeine zusammen. Kommt, kommt und kriecht in den Sack, die Welt geht unter."

Das Geschrei erschallte durch das ganze Dorf. Der Pfarrer und der Küster, die zunächst an der Kirche wohnten, hatten es zuerst vernommen, und als sie die Lichter erblickten, die auf dem Gottesacker umher wandelten, merkten sie, dass etwas Ungewöhnliches vorging, und traten sie in die Kirche ein. Sie hörten der Predigt eine Weile zu, da stieß der Küster den Pfarrer an und sprach: "Es wäre nicht übel, wenn wir die Gelegenheit benutzten und zusammen vor dem Einbruch des Jüngsten Tags auf eine leichte Art in den Himmel kämen." "Freilich", erwiderte der Pfarrer, "das sind auch meine Gedanken gewesen; habt Ihr Lust, so wollen wir uns auf den Weg machen." "Ja", antwortete der Küster, "aber Ihr, Herr Pfarrer, habt den Vortritt, ich folge nach." Der Pfarrer schritt also vor und stieg auf die Kanzel, wo der Meister den Sack öffnete. Der Pfarrer kroch zuerst hinein, dann der Küster. Gleich band der Meister den Sack fest zu, packte ihn am Bausch und schleifte ihn die Kanzeltreppe hinab; sooft die Köpfe der beiden Toren auf die Stufen aufschlugen, rief er: "Jetzt geht's schon über die Berge." Dann zog er sie auf gleiche Weise durch das Dorf, und wenn sie durch Pfützen kamen, rief er: "Jetzt geht's schon durch die nassen Wolken", und als er sie endlich die Schlosstreppe hinauf zog, so rief er: "Jetzt sind wir auf der Himmelstreppe und werden bald im Vorhof sein." Als er oben angelangt war, schob er den Sack in den Taubenschlag, und als die Tauben flatterten, sagte er: "Hört ihr, wie die Engel sich freuen und mit den Fittichen schlagen." Dann schob er den Riegel vor und ging fort.

Am andern Morgen begab er sich zu dem Grafen und sagte ihm, dass er auch die dritte Aufgabe gelöst und den Pfarrer und Küster aus der Kirche weggeführt hätte. "Wo hast du sie gelassen?" fragte der Herr. "Sie liegen in einem Sack oben auf dem Taubenschlag und bilden sich ein, sie wären im Himmel." Der Graf stieg selbst hinauf und überzeugte sich, dass er die Wahrheit gesagt hatte.
Als er den Pfarrer und Küster aus dem Gefängnis befreit hatte, sprach er: "Du bist ein Erzdieb und hast deine Sache gewonnen. Für diesmal kommst du mit heiler Haut davon, aber mache, dass du aus meinem Land fortkommst, denn wenn du dich wieder darin betreten lässt, so kannst du auf deine Erhöhung am Galgen rechnen." Der Erzdieb nahm Abschied von seinen Eltern, ging wieder in die weite Welt, und niemand hat wieder etwas von ihm gehört.



Vgl. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Hrsg. von Heinz Rölleke. 3 Bde. (Universal-Bibliothek; 3191-3193) Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1980. Nr. 192, aus Thüringen. "Dergleichen durch die dabei angewandte List entschuldigte Diebsstreiche werden mannigfach verschieden erzählt."

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Friedrich Hebbel
Der Heideknabe

Der Knabe träumt, man schicke ihn fort
Mit dreißig Talern zum Heideort,
   Er ward drum erschlagen am Wege
   Und war doch nicht langsam und träge.

Noch liegt er im Angstschweiß, da rüttelt ihn
Sein Meister, und heißt ihm, sich anzuziehn
   Und legt ihm das Geld auf die Decke
   Und fragt ihn, warum er erschrecke.

"Ach Meister, mein Meister, sie schlagen mich tot,
Die Sonne, sie ist ja wie Blut so rot!"
   "Sie ist es für dich nicht alleine,
   Drum schnell, sonst mach' ich dir Beine!"

"Ach Meister, mein Meister, so sprachst du schon,
Das war das Gesicht, der Blick, der Ton,
   Gleich greifst du" - zum Stock, will er sagen,
   Er sagt's nicht, er wird schon geschlagen.

"Ach Meister, mein Meister, ich geh', ich geh',
Bring' meiner Frau Mutter das letzte Ade!
   Und sucht sie nach allen vier Winden,
   Am Weidenbaum bin ich zu finden!"

Hinaus aus der Stadt! Und da dehnt sie sich,
Die Heide, nebelnd, gespenstiglich,
   Die Winde darüber sausend.
   "Ach, wär' hier ein Schritt wie tausend!"

Und alles so still, und alles so stumm,
Man sieht sich umsonst nach Lebendigem um,
   Nur hungrige Vögel schießen
   Aus Wolken, um Würmer zu spießen.

Er kommt ans einsame Hirtenhaus,
Der alte Hirt schaut eben heraus,
   Des Knaben Angst ist gestiegen,
   Am Wege bleibt er noch liegen.

"Ach Hirte, du bist ja von frommer Art,
Vier gute Groschen hab' ich erspart,
   Gib deinen Knecht mir zur Seite,
   Dass er bis zum Dorf mich begleite.

Ich will sie ihm geben, er trinke dafür
Am nächsten Sonntag ein gutes Bier,
   Dies Geld hier, ich trag' es mit Beben,
   Man nahm mir im Traum drum das Leben!"

Der Hirt, der winkte dem langen Knecht,
Er schnitt sich eben den Stecken zurecht,
   Jetzt trat er hervor - wie graute
   Dem Knaben, als er ihn schaute!

"Ach Meister Hirte, ach nein, ach nein,
Es ist doch besser, ich geh' allein!"
   Der Lange spricht grinsend zum Alten:
   "Er will die vier Groschen behalten."

"Da sind die vier Groschen!" Er wirft sie hin
Und eilt hinweg mit verstörtem Sinn.
   Schon kann er die Weide erblicken,
   Da klopft ihm der Knecht in den Rücken.

"Du hältst es nicht aus, du gehst zu geschwind,
Ei, Eile mit Weile, du bist ja noch Kind,
   Auch muss das Geld dich beschweren,
   Wer kann dir das Ausruhn verwehren?

Komm, setz' dich unter den Weidenbaum
Und dort erzähl' mir den hässlichen Traum;
   Mir träumte - Gott soll mich verdammen,
   Trifft's nicht mit deinem zusammen!"

Er fasst den Knaben wohl bei der Hand,
Der leistet auch nimmermehr Widerstand,
   Die Blätter flüstern so schaurig,
   Das Wässerlein rieselt so traurig!

"Nun sprich, du träumtest" - "Es kam ein Mann -"
"War ich das? Sieh mich doch näher an,
   Ich denke, du hast mich gesehn!
   Nun weiter, wie ist es geschehn?"

"Er zog ein Messer!" - "War das, wie dies?" -
"Ach ja, ach ja!" - "Er zog's?" - "Und stieß -"
   "Er stieß dir's wohl so durch die Kehle?
   Was hilft es auch, dass ich dich quäle!"

Und fragt ihr, wie's weiter gekommen sei?
So fragt zwei Vögel, sie saßen dabei,
   Der Rabe verweilte gar heiter,
   Die Taube konnte nicht weiter!

Der Rabe erzählt, was der Böse noch tat,
Und auch, wie's der Henker gerochen hat;
   Die Taube erzählt, wie der Knabe
   Geweint und gebetet habe.

Entstanden 1844. Den stofflichen Vorwurf notierte sich Hebbel im Frühsommer 1837 und detailliert im Mai 1839.  Vertont durch Robert Schumann. Vgl. Friedrich Hebbel: Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher. Bd. 3. München: Carl Hanser 1965, S. 26-28, Anmerkung S. 891f.

*****

Theodor Storm
Die Kinder
1. Abends

Auf meinem Schoße sitzet nun
Und ruht der kleine Mann;
Mich schauen aus der Dämmerung
Die zarten Augen an.

Er spielt nicht mehr, er ist bei mir,
Will nirgend anders sein;
Die kleine Seele tritt heraus
Und will zu mir herein.

*****

Emanuel Geibel
Rühret nicht daran

Wo still ein Herz voll Liebe glüht,
O rühret, rühret nicht daran!
Den Gottesfunken löscht nicht aus!
Fürwahr, es ist nicht wohlgetan.

Wenn's irgend auf dem Erdenrund
Ein unentweihtes Plätzchen gibt,
So ist's ein junges Menschenherz,
Das fromm zum ersten Male liebt.

O gönnet ihm den Frühlingstraum,
In dem's voll ros'ger Blüten steht!
Ihr wisst nicht, welch ein Paradies
Mit diesem Traum verloren geht.
Es brach schon manch ein starkes Herz,
Da man sein Lieben ihm entriss,
Und manches duldend wandte sich,
Und ward voll Hass und Finsternis;

Und manches, das sich blutend schloss,
Schrie laut nach Lust in seiner Not,
Und warf sich in den Staub der Welt;
Der schöne Gott in ihm war tot.

Dann weint ihr wohl und klagt euch an;
Doch keine Träne heißer Reu'
Macht eine welke Rose blühn,
Erweckt ein totes Herz aufs neu'.

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Ludwig Uhland
Der Wanderer
7. Abreise

So hab ich nun die Stadt verlassen,
Wo ich gelebet lange Zeit;
Ich ziehe rüstig meiner Straßen,
Es gibt mir niemand das Geleit.

Man hat mir nicht den Rock zerrissen -
Es wär' auch schade für das Kleid -,
Noch in die Wange mich gebissen
Vor übergroßem Herzeleid.

Auch keinem hat's den Schlaf vertrieben,
Dass ich am Morgen weiter geh;
Sie konnten's halten nach Belieben,
Von einer aber tut mir's weh.

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Martin Greif
Das Würfelspiel

Wo bist du gewesen?
"Beim Würfelspiel."
Was hast du verloren?
Du zitterst so viel.

"Ich habe verloren
Viel Geld und Gut;
Ich habe verloren
Mein Herzeblut."
Was musst du so wanken?
Was bist du so bleich?
"O Weib, ich muss sterben
Wohl alsogleich."

Schon stürzt aus der Wunde
Es purpurrot;
Er brach zusammen
In bitterem Tod.
Da ritt vorüber
Ein Reitersmann;
Von seinem Koller
Es blutig rann.

Martin Greif: Gedichte. Stuttgart: J. G. Cotta 1868, S. 155f. (Digitalisierung durch Google)

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Eduard Mörike
Schön-Rohtraut

Wie heißt König Ringangs Töchterlein?
    Rohtraut, Schön-Rohtraut.
Was tut sie denn den ganzen Tag,
Da sie wohl nicht spinnen und nähen mag?
    Tut fischen und jagen.
O dass ich doch ihr Jäger wär'!
    Fischen und jagen freute mich sehr.
    - Schweig stille, mein Herze!

Und über eine kleine Weil,
    Rohtraut, Schön-Rohtraut,
So dient der Knab auf Ringangs Schloss
In Jägertracht und hat ein Ross,
    mit Rohtraut zu jagen.
O dass ich doch ein Königssohn wär!
Rohtraut, Schön-Rohtraut lieb ich so sehr.
    - Schweig stille, mein Herze!

Einsmals sie ruhten am Eichenbaum,   
    Da lacht Schön-Rohtraut:
Was siehst mich an so wunniglich?
Wenn du das Herz hast, küsse mich!
    Ach! erschrak der Knabe!
Doch denket er: mir ists vergunnt,
Und küsset Schön-Rohtraut auf den Mund.
    - Schweig stille, mein Herze!

Darauf sie ritten schweigend heim,
    Rohtraut, Schön-Rohtraut;
Es jauchzt der Knab in seinem Sinn:
Und würdst du heute Kaiserin,
    Mich sollts nicht kränken:
Ihr tausend Blätter im Walde wisst,
Ich hab Schön-Rohtrauts Mund geküsst!
    - Schweig stille, mein Herze!

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Adelbert von Chamisso
Die Sonne bringt es an den Tag

Gemächlich in der Werkstatt saß
Zum Frühtrunk Meister Nikolas;
Die junge Hausfrau schenkt' ihm ein;
Es war im heitern Sonnenschein. -
     Die Sonne bringt es an den Tag.

Die Sonne blinkt von der Schale Rand,
Malt zitternde Kringeln an die Wand,
Und wie den Schein er ins Auge fasst,
So spricht er für sich, indem er erblasst :
     "Du bringst es doch nicht an den Tag."

"Wer nicht? was nicht?" die Frau fragt gleich,
"Was stierst du so an? was wirst du so bleich?"
Und er darauf: "Sei still, nur still !
Ich's doch nicht sagen kann noch will.
     Die Sonne bringt's nicht an den Tag."

Die Frau nur dringender forscht und fragt,
Mit Schmeicheln ihn und Hadern plagt,
Mit süßem und mit bitterm Wort;
Sie fragt und plagt ihn fort und fort:
     "Was bringt die Sonne nicht an den Tag?"

"Nein nimmermehr!" - "Du sagst es mir noch!" -
"Ich sag es nicht!" - "Du sagst es mir doch!" -
Da ward zuletzt er müd und schwach
Und gab der Ungestümen nach. -
     Die Sonne bringt es an den Tag.

"Auf der Wanderschaft, 's sind zwanzig Jahr,
Da traf es mich einst gar sonderbar;
Ich hatt' nicht Geld, nicht Ranzen, noch Schuh,
War hungrig und durstig und zornig dazu. -
     Die Sonne bringt's nicht an den Tag.

Da kam mir just ein Jud in die Quer,
Ringsher war's still und menschenleer:
"Du hilfst mir, Hund, aus meiner Not!
Den Beutel her, sonst schlag ich dich tot!"
     Die Sonne bringt's nicht an den Tag.

Und er: "Vergieße nicht mein Blut,
Acht Pfennige sind mein ganzes Gut!"
Ich glaubt ihm nicht und fiel ihn an;
Er war ein alter, schwacher Mann -
     Die Sonne bringt's nicht an den Tag.

So rücklings lag er blutend da;
Sein brechendes Aug in die Sonne sah;
Noch hob er zuckend die Hand empor,
Noch schrie er röchelnd mir ins Ohr:
     "Die Sonne bringt es an den Tag!"

Ich macht ihn schnell noch vollends stumm
Und kehrt ihm die Taschen um und um:
Acht Pfenn'ge, das war das ganze Geld,
Ich scharrt ihn ein auf selbigem Feld -
     Die Sonne bringt's nicht an den Tag.

Dann zog ich weit und weiter hinaus,
Kam hier ins Land, bin jetzt zu Haus. -
Du weißt nun meine Heimlichkeit,
So halte den Mund und sei gescheit!
     Die Sonne bringt's nicht an den Tag.

Wann aber sie so flimmernd scheint,
Ich merk es wohl, was sie da meint,
Wie sie sich müht und sich erbost, -
Du, schau nicht hin und sei getrost:
     Sie bringt es doch nicht an den Tag."

So hatte die Sonn eine Zunge nun;
Der Frauen Zungen ja nimmer ruhn. -
"Gevatterin, um Jesus Christ!
Lasst Euch nicht merken, was Ihr nun wisst!" -
     Nun bringt's die Sonne an den Tag.

Die Raben ziehen krächzend zumal
Nach dem Hochgericht, zu halten ihr Mahl.
Wen flechten sie aufs Rad zur Stund?
Was hat er getan? wie ward es kund?
     Die Sonne bracht' es an den Tag.

Erstdruck 1827. Quelle: Grimms "Kinder- und Hausmärchen", Nr. 115. Vgl. Adelbert von Chamisso: Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Werner Feudel u. Christel Laufer. Bd. 1. Leipzig: Insel-Verlag Anton Kippenberg 1980, S. 211-213, Anmerkung S. 738.

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2. Vorlage:
Der deutsche Spielmann

Die Illustrationen sind den beiden folgenden Heften der Reihe "Der deutsche Spielmann" entnommen:

* Abenteurer. Lustige und gruselige Streiche von kecken und von unheimlichen Gesellen. Bildschmuck von Rudolf Schiestl (Der deutsche Spielmann. Eine Auswahl aus dem Schatze deutscher Dichtung für Jugend und Volk) 2., veränd. Aufl. München: Georg D. W. Callwey - Verlag des deutschen Spielmann 1924.

* Menschenherzen. Ein Buch von der Liebe, was sie edlen Dichtern war und reinen Menschen sein kann. Bildschmuck von Rudolf Schiestl (Der deutsche Spielmann. Eine Auswahl aus dem Schatze deutscher Dichtung für Jugend und Volk) 2., veränd. Aufl. München: Georg D. W. Callwey - Verlag des deutschen Spielmann 1925.

Für das Programm der Reihe siehe die Seite zum Heft "Hochland". URL:
http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=4383

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3. Kurzbiographie zu Rudolf Schiestl

Schiestl, Rudolf, Maler u. Graphiker, geboren 8. 8. 1878 Würzburg, gestorben 30. 1. 1931 Nürnberg, Schüler der Münchner Akademie. 1899 in einer Glasmalerwerkstatt in Innsbruck. 1903 Studienreise nach Italien. Seit 1908 Professor an der Kunstgewerbeschule Nürnberg. 1916 Heirat mit der Schriftstellerin Margarete Bentlage. 1917/18 künstlerischer Leiter der „Liller Kriegszeitung“. Malte, zeichnete und radierte Darstellungen aus dem fränkischen Bauernleben. Hinterglasmalereien, Gebrauchsgraphik, Exlibris, Buchschmuck und Buchillustrationen, u. a. zu den Heften Nr. 16 (Gute alte Zeit), Nr. 22 (Abenteurer), Nr. 36 (Menschenherzen) und Nr. 39 (Riesen und Zwerge) der Reihe „Der deutsche Spielmann“; zu: Aus entschwundenen Tagen. 50 echte Volkslieder in Wort und Weise, 1909; zu: Fröhliche Jugend, ein Volksbuch aus dem Reichtum deutscher Dichtung, 1919; zu: Karl Bröger, Die 14 Nothelfer. Ein Buch Legenden, 1920 usw. Holzschnittfolge: Der Tod von Basel. Mappenwerk: Fränkische Wanderungen, Zeichnungen aus den Skizzenbüchern von R. S., 1925. (Thieme-Becker, ergänzt)

Vgl. den Artikel "Rudolf Schiestl" in Wikipedia, URL:
http://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Schiestl

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4. Rechtlicher Hinweis und Kontaktanschrift

Alle Vorlagen entstammen, sofern nicht anders vermerkt, einer privaten Sammlung. Die private Nutzung und die nichtkommerzielle Nutzung zu bildenden, künstlerischen, kulturellen und wissenschaftlichen Zwecken ist gestattet, sofern Quelle (Goethezeitportal) und URL (http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=6444) angegeben werden. Die kommerzielle Nutzung oder die Nutzung im Zusammenhang kommerzieller Zwecke (z.B. zur Illustration oder Werbung) ist nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung der Verfasser gestattet. Einen Rechteinhaber konnte das Goethezeitportal nicht ermitteln, ggf. bitten wir höflichst um Nachricht.

Kontaktanschrift:

Prof. Dr. Georg Jäger
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
80799 München

E-Mail: georg.jaeger07@googlemail.com

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