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Jutta Assel | Georg Jäger

Sagen und Legenden

Adelheid von Stolterfoth: Rheinischer Sagen-Kreis

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St. Goars wunderthätiges Grab


Unfern des Lurleys rauhen Felsdenwänden,
Hat einst Sanct Goar gewandelt und gelebt.
Da grub er sich sein Bett mit frommen Händen
In dem Gestein, von Epheu grün umwebt.
Weithin im Land ist einst sein Wort erklungen
Und hat die Heiden wunderbar bezwungen.
  
Und manches Schifflein lenkt' er durch die Fluthen
Mit starken Armen an den sichern Port,
Verirrte Wandrer von dem Pfad des Guten
Führt' er zurück mit sanftem Liebeswort,
Und labte manchen Hungrigen und Müden
Mit Speiss und Trank, und seel'gem Glaubensfrieden.
  
Doch als er heim zur ew'gen Ruh' gegangen,
Da kamen fromme Pilger an sein Grab.
Der Grambelad'ne mit gebleichten Wangen,
Der Schuld'ge neigten betend sich hinab,
Der Kranke fleht' um Trost in seinen Schmerzen,
Und alle zogen fort mit leichtern Herzen.
  
Den Fürsten wie den Bettler sah man wallen
Zu seinem wunderthät'gen Grab am Rhein,
Und alsbald wölbten hohe Klosterhallen
Sich um des Heil'gen schlummerndes Gebein.
Doch gastlich übten fromme Mönche wieder,
Was er gethan dem Aermsten seiner Brüder.
  
Und es begab sich, dass vor grauen Jahren,
Des Kaisers Karol's tapfrer Sohn Pipin,
Und Karl, sein Bruder, die in Feindschaft waren,
All' Beide mussten dort vorüber zieh'n.
Warum sie zürnten, melden nicht die Sagen
Aus jenen fernen, längst vergangnen Tagen.
  
Pipin hat als ein kühner Held gestritten,
Seit vielen Jahren in Italien schon,
Karl aber, in des deutschen Reiches Mitten,
Als seines grossen Vaters würd'ger Sohn.
Nun hat er sie nach Thionville beschieden,
Wo er die Reiche theilen will in Frieden.
  
Und jeder muss dieselbe Strasse wallen,
Um nach der fernen Frankenstadt zu zieh'n.
Pipin begrüsst zuerst die Klosterhallen,
Um an dem Grab des heil'gen Goar's zu knie'n.
Erinnrung kehrt in seine Seele wieder,
Hier lag er einst im Kreise seiner Brüder.
  
Der fromme Ludwig liebt ihn stets mit Treuen,
Doch wird ihm Karl noch immer widerstehn?
Wird sich der kühne Held des Bruders freuen,
Wird er als Freund, als Feind ihn wiedersehn?
So denkt Pipin mit zweifelndem Gemüthe,
Als zum Gebet er traurig niederkniete.
  
Indessen kommt auch Karl daher gezogen,
Wohl eine Stunde weit vor seiner Schaar.
Da sieht er, dass gelagert an den Wagen,
Der Zug Pipins im Glanz der Sonne war.
Er springt vom Ross, versteckt von schatt'gen Eichen,
Um unerkannt das Kloster zu erreichen.
  
Denn beten will er an der heil'gen Stelle,
Dann trag' ihn wieder schnell sein Ross von hier.
Er schleicht sich ungeseh'n in die Kapelle
Und schliesst am Flügelhelme das Visir.
Bald ruht sein Blick auf wohl bekannten Zügen,
Er sieht Pipin am Grab des Heil'gen liegen.
  
An einem Pfeiler hemmt er seine Schritte.
O Wunder! - und sein stolzes Herz erbebt -
Auf Geisterflügeln schwebt zu ihm die Bitte,
Die jetzt Pipin im Herzen still erhebt.
Er hört sie flüstern durch die hohen Hallen
Und an sein Ohr mit Engelstönen schallen.
  
"Ich flehe nicht um Hoheit, Macht und Ehre,
Ich flehe nicht um blinkend Gold und Erz,
O heil'ger Goar! die Bitte nur erhöhre,
Und gieb mir wieder meines Brunders Herz,
Lass Karl als Freund mich endlich wiedersehen,
Mag dann auch bald mein Lebenstag vergehen."
  
Horch! durch die Hallen eilt ein hoher Ritter
Und stürzt dem frommen Beter in den Arm.
Durch seines Helmes fest verschlossnes Gitter
Rollt eine Thräne nieder, hell und warm.
"Wer bist du?" "Bruder kannst du mir vergeben?
Nimm dieses Herz, - nimm alles - nimm mein Leben!"
  
Pipin will in das theure Antlitz blicken,
Er öffnet ihm den Helm mit rascher Hand,
Und seelig dann, durchschauert von Entzücken,
Hat er den frommen Blick empor gewandt.
"Ja es ist Karl, der Heil'ge sey gepriesen!"
So ruft er, und auch seine Thränen fliessen.
  
Und beide Brüder, die einst Feinde waren,
Zieh'n liebend jetzt vom heil'gen Grab.
Bald hören staunend ihre treuen Schaaren
Das schöne Wunder, was sich dort begab. -
Doch beide Fürsten lassen reiche Spenden
Mit dankerfüllter Brust zum Kloster senden.
  
Und nichts mehr kann die Heldenbrüder scheiden,
Froh segnet sie des Vaters kühne Hand;
Sie bleiben treu vereint in Lust und Leiden
Und folgen bald sich in des Friedens Land.
Doch Kaiser Karl beweint mit bitt'rem Schmerzen
Den frühen Tod der edlen Sohnesherzen.


 

 

Der heilige Goar, frommer Einsiedler und Lehrer des christlichen Glaubens, lebte zur Zeit König Siegberts von Austrasien. Von diesem auf den erzbischöflichen Stuhl von Trier berufen, zog er jedoch das demüthige Leben eines Einsiedlers vor und starb 611 an dem Orte, wo nachher das freundliche Städtchen entstand, welches seinen Namen trägt.

Ein Felsen am Rhein, zwischen St. Goar und Oberwesel, worin eine viereckige Oeffnung sichtbar ist, wird noch jetzt das Bett des heiligen Goars genannt. Sein Andenken verdiente geehrt zu werden, denn er verkündete nicht allein das Wort Gottes, sondern handelte auch darnach, übte Gastfreiheit und Milde, rettete manchen Schiffbrüchigen, oder steuerte selbst durch die gefährlichen Strudel der Bank. Aber die fromme Schwärmerei jener Zeiten ließ es nicht bei der Verehrung dieses edeln Mannes bewenden, sondern schrieb seinen Gebeinen Wunderkraft zu.

Bald wölbten sich Klosterhallen über Goars Grab, und Jahrhunderte lang waren sie das Ziel großer Wallfahrten. Reiche Schenkungen geschahen und die Mönche übten Gastfreiheit an den Pilgern und Vorüberreisenden. (x)

Eine alte Sage erzählt, dass sich Pipin und Karl, die Söhne Kaiser Karls des Großen, am wunderthätigen Grab des heiligen Goar versöhnt hätten. Ueber die geschichtlichen Beziehungen des Gedichts bemerke ich noch, dass Karl der Große seine drei Söhne, Karl, Pipin und Ludwig, 806 nach Thionville (Dielenhofen) beschied, wo er in der Reichsversammlung durch sein Testament jedem die Reiche zutheilte, welche ihm nach seinem Tode zufallen sollten. Karl und Pipin starben jedoch vor ihm (810-811) und Ludwig der Fromme folgte ihm 814 als der alleinige Erbe seiner weiten Reiche.

(x) Mehreres darüber, sowie auch über den alten lustigen Gebrauch des Hänselns und den Hausbandorden, siehe im alten rhein. Antiquare S. 701; in Vogts rhein. Geschichten und Sagen, Bd. III, S. 160-163, und Schreibers Handbuch für Rheinreisende S. 246.

 

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