goethe


Klaus H. Kiefer

Die „Schmetterlinge“ der Revolution
Goethes „Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche“ 1797

„un monde nouveau venait de naître“
Le Directoire. Portefeuille d’un
Incroyable, 1880                    

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Inhaltsübersicht

I. Einführung
   1. Schrift und Sicht
   2. Die Geschichte der Sammlung
   3. Morphologie einer Epoche
   4. Praktische Hinweise
   5. Dank
   6. Siglen

II. Text ‒ Bild ‒ Kommentar
     Die Handschrift
     Abbildung Nr. 1-55

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I. Einführung
   1. Schrift und Sicht

Goethe hatte eigentlich geplant, 1797 seine zweite bzw. ‒ wenn man die Reise nach Venedig mitzählt ‒ seine dritte Italienreise anzutreten (1), zu der er schon umfangreiche Vorbereitungen getroffen hatte (MA 4.2, 519-605). Allerdings, wie in Briefen an Johann Heinrich Meyer dokumentiert, versperrte ihm die „campagne d’Italie“, die General Bonaparte im Auftrag der französischen Regierung, des sog. Directoire (2), durchführte, „alle Wege nach Italien“ (MA 4.2, 605), so dass er sich entschloss, nur die Schweiz zu bereisen. Diese Umstände sind allesamt „so durch dissertirt“ (3), wie Goethe am 24. November 1786 an Charlotte von Stein aus Rom schreibt, dass man selber „erst die Augen aufthun“ muss, um etwas Neues zu entdecken. In dieser Hinsicht ist interessant, dass Goethe von seinen Reisehindernissen nicht nur über Erzählungen (MA 4.2, 606) und Zeitungsberichte (MA 4.2, 618) erfährt, sondern ihnen auch „bildlich“ begegnet: in Gestalt von Kupferstichen, die die kriegerischen Ereignisse zumindest in einigen Aspekten beleuchteten (→ Nr. 3-9, 31, 34); aber auch hier ist der Krieg der Vater aller Dinge (4) … Goethes „Sicht“ der politischen Entwicklung zwischen Terreur und Empire ist relativ unbekannt, erlaubt und fordert aber eine neue „Sicht“ seiner Revolutionsrezeption überhaupt. Die ästhetische Wahrnehmungsweise lässt sich an Goethes Brief an Karl August Böttiger aus Frankfurt ‒ und auf Frankfurt bezüglich ‒ vom 16. August 1797 belegen:

So sieht man auch die französische Revolution und ihre Wirkungen hier viel näher und unmittelbarer, weil sie so große und wichtige Folgen auch für diese Stadt gehabt hat und weil man mit der Nation in so vielfacher Verbindung steht.     
Bei uns sieht man Paris immer nur in einer Ferne, daß es wie ein blauer Berg aussieht, an dem das Auge wenig erkennt, dafür aber auch Imagination und Leidenschaft desto wirksamer sein kann. Hier unterscheidet man schon die einzelnen Teile und Lokalfarben… (HA Br 2, 296)

Diese „Sicht“ lässt sich auf die rund „zweihundert französische satyrische Kupfer“ (MA 8.1, 400) übertragen, die Goethe eine Woche später vor Augen hat. Er bekommt „Einblick“ in das, was die französische Nation derzeit umtreibt. „Sicht“ ist dabei nicht bloß optische Metapher für eine persönliche Meinung, sondern meint die notwendige ikonische Basis für Goethes symbolische Erkenntnis. Ziel der vorliegenden Arbeit ist jedoch nicht Goethes Epistemologie, sondern die genaue Betrachtung und Kommentierung dessen, was er gesehen und benannt hat ‒ und was nicht. In ihrer Gesamtdeutung haben die Interpretationsversuche, die ich 1986, 1988 und 2004 unternahm (5), nichts an Wert verloren, in zahlreichen Details geht die vorliegende Studie dagegen weit über sie hinaus.

Goethe, der in Frankfurt Station macht, notiert hier am 23. August 1797 in sein Tagebuch: „Beschäfftigung mit den franz[ösischen] satirischen Kupferstichen“ (T 2.1, 142). Tags darauf schreibt er an Schiller, dass er aus dieser Arbeit eine Veröffentlichung „wohl für die Horen“ (MA 8.1, 400) zu machen gedenke, die „Horen“, die bekanntlich „unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit“ (NA 22, 106) die politisch geteilte Welt wieder zu vereinigen suchten. Doch daraus wurde nichts, weder aus dem „Horen“-Projekt, noch aus der ästhetischen „Wiedervereinigung“ der allzu „zerrissenen“ Welt. Einziges Resultat von Goethes Frankfurter „Beschäftigung“ ist ein viel zu wenig beachtetes Opus: die „Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche“. Von seinem „Unmut“ (MA 4.2, 605) der verhinderten Reise wegen ist in seinen Kommentaren überraschenderweise nichts zu spüren. Goethe scheint vielmehr von dem, was er sah, ganz angetan …

Da Goethe den 25. früh 7 Uhr von Frankfurt wieder abreist, muss er die beiden vorausgegangenen Tage an seiner „Recension“ gearbeitet haben; d.h. er hat „gegen zweihundert“ (MA 8.1, 400) Stiche durchgesehen, „schematisiert“ (wie er selber sagt) und kurz beschrieben – ein in Deutschland einmaliges und einzigartiges Vorhaben zu dieser Zeit. Doch was heißt „beschrieben“? Während bei Auswahl und Schematisierung der Stiche an Goethes Urheberschaft kein Zweifel besteht, kommen bei den Beschreibungen gelegentlich Bedenken. Gewiss kann das sich mehrfach nennende Ich nur Goethe sein, aber manche sprachliche Ungeschicklichkeit und auch die gelegentliche Flüchtigkeit des Urteils verwundern, sind allenfalls dem enormen Zeitdruck geschuldet. Hörfehler bezeugen ein Diktat, aber möglicherweise hat Goethe auch Notizen gemacht, die dann sein Sekretär Johann Jakob Ludwig Geist (6) – Goethes „Spiritus“, wie er von Schiller genannt wurde (MA 8.1, 182) – ausarbeitete oder zumindest ins Reine brachte. Jedenfalls sind die acht zweispaltig beschriebenen Folioblätter allem Anschein nach eine Reinschrift (7), und keine unmittelbare Diktatniederschrift. Nicht zuletzt durch eben diese Reinschrift erhalten sie Werkcharakter. Der des Französischen unkundige Geist hat die fremdsprachlichen Bildtitel durchaus gewissenhaft und korrekt abgeschrieben (8), wobei die französischen Vorlagen selber in hohem Maße fehlerhaft sind. Auch Geists Hörverständnis und deutsche Rechtschreibung sind gelegentlich schwankend; allerdings musste er auf Korrekturen seines Herrn und Meisters auch verzichten (9).

Der Text wurde dann von Eckermann bei der Redaktion der Schweizer Reiseschrift wohl als Fremdkörper in den gesamten Reisefaszikeln nicht berücksichtigt; erst die Weimarer Ausgabe veröffentlicht ihn 1896 unter allerlei anderen „Vorarbeiten und Bruchstücken“ (WA I/47, 350-361). Alle der Weimarer Ausgabe (als historisch-kritischer) folgenden Editionen, so etwa die Berliner Ausgabe (BA 19, 145-157), übernehmen die Fehler des Erstdrucks, ja verschlimmern den Text – denn der beschriebene Gegenstand, das Goethesche Corpus, das der „Recension“ zugrundeliegt und zur „wechselseitigen Erhellung“ hätte dienen können, existierte ganz offensichtlich nicht mehr. So hat z.B. die Weimarer Ausgabe die Zuordnung der Textteile vertauscht (Nr. 54 u. 55), die Berliner aus „M.·.R“ – für Mercier – zwei Initialen „M. R.“ gemacht (BA 19, 156), was natürlich die Auflösung verhinderte; ungeschickt ist hier auch die Typographie von FA I/18, 433.

Erst die Münchner Ausgabe ist dank ihrer Editionsprinzipien der Goetheschen „Recension“ gerecht geworden. Sie hat allerdings den Text in üblicher Weise behutsam normalisiert ‒ auch weil das Manuskript ja nicht von Goethes Hand ist ‒ (c > k, i > ie, th > t usw.), was ihn aber etwas seiner Geschichtlichkeit beraubt. Eine unter Zeitdruck entstandene Ausgabe im Deutschen Taschenbuch Verlag versuchte zwar das Original zu restituieren, aber erst ein erneuter Vergleich von Manuskript und Druck im Goethe- und Schiller-Archiv, den ich Eberhard Haufe zu danken habe, beseitigte einige Lese- oder Tippfehler. Die vorliegende Edition ist also ein dritter Versuch und er versucht das Manuskript „diplomatisch“ so widerzugeben, wie es vorliegt: mit allen Fehlern und Nachlässigkeiten in Schreibung und Zeichensetzung, im Deutschen wie im Französischen.

2. Die Geschichte der Sammlung

Leider gibt Goethe keine Auskunft, von wem er die 200 Stiche zur Ansicht ausgeliehen hatte, denn er ‒ und sein Schreiber ‒ müssen sich doch an zwei Tagen einige Stunden in aller Ruhe damit befasst haben (10). War es ein privater Sammler oder ein Kunsthändler, ein Frankfurter oder ein Zugereister, ein Deutscher oder gar ein „Neufranke“ – wir wissen es nicht. Den Namen eines Frankfurter Bekannten hätte Goethe wohl auf jeden Fall genannt, wie etwa im Falle Johann Friedrich Städels, dessen Kabinett er am 16. August besucht (11). Man könnte allerdings vermuten, dass Goethe einen Besitzer der Stichsammlung deswegen nicht zitiert hat, weil er ihm nicht nennenswert erschien. Das mag ein Kunsthändler, eine Zufallsbekanntschaft sein. Es wäre aber auch an Heinrich Sebastian Hüsgen (1745-1807) zu denken, den Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ sehr unvorteilhaft schildert: „Gutmütig, aber täppisch, nicht roh, aber doch geradezu und ohne besondere Neigung sich zu unterrichten“ (MA 16, 181). Hüsgen hatte sich in der Tat schon seit den 70er Jahren mit „Kunst-Sachen“ beschäftigt und insbesondere – wie Goethe wusste (HA Br 1, 299) – Dürersche Kupferstiche gesammelt und darüber ein „Raisonnirendes Verzeichnis“ (12) angelegt, und Goethe benutzte auch andere Arbeiten des renommierten Kunstsammlers bei seinen autobiographischen Recherchen. Trotz der Widmung einer Hüsgenschen Schrift – dem „Herrn Geheimbde Rath von Göthe“ (13) – scheint die Antipathie gegenseitig gewesen zu sein. An Johann Isaak von Gerning schreibt Hüsgen am 15. August 1797:

Letzt abgewichenen Freitag erschien ganz unerwartet ein Fremder in meinem Zimmer, den ich vor seinem wohlgemästeten Bauch nicht erkannte, bis ihn seine Stimme bei der Frage verrieth: Kennen Sie denn Ihren alten Freund nicht mehr? und siehe da, es war Goethe in eigener hoher Person, und ungeachtet er eine geraume Zeit bei mir blieb, so bliebe er doch erbärmlich steif und zurückhaltend. Das Einzige, was er mir durch seine Zunge mittheilte, war, daß er gesonnen sei, in die Schweiz zu reisen. Als ich ihn am andern Tag besuchte, war er redsprächiger und gefühlvoller. (14)

Von Hüsgens wie von Goethes Seite wäre also ein Motiv gegeben, zum einen für ein sammlerisches Interesse, zum anderen für das Verschweigen der Quelle. Allerdings hat Hüsgen neuere Stiche nicht geschätzt (15). Nicht zuletzt käme auch Johann Andreas Nothnagel in Frage, Goethes ehemaligen Kunsterzieher, den er am 11. August 1797 besuchte. Nothnagel war Künstler, Kunstsammler und -händler, betrieb zudem eine Tapetenmanufaktur, aus der auch der Weimarer Goethe Ware bezog (MA 8.1, 154). Dieser erwähnt in „Dichtung und Wahrheit“ zwar Nothnagels Kupferstichsammlung (MA 16, 175), aber weder hier noch im Tagebuch (16) findet sich ein Hinweis auf die aktuellen französischen Kupfer. Diese werden im übrigen auch in keinem der Briefe aus Frankfurt an Goethe ‒ soweit sie die Regestausgabe erschließt ‒ erwähnt (17). Persona non grata oder incognita – auf jeden Fall konnte der Verbleib der Sammlung oder einzelner Stiche bis heute nicht ausfindig gemacht werden (18). Die Sammlung wurde auch nicht den Frankfurter Privatsammlungen einverleibt, die Ulrich Schmidt in seiner einschlägigen Dissertation beschreibt (19). Dies gilt auch z.B. für die Sammlung Ettling, unter deren „Sammlung von 325 Stück Pariser schwarzen und colorierten Kupferstichen“ (20) sich nichts Einschlägiges fand. Vermutlich wurde die Sammlung aufgelöst, die Stiche einzeln verkauft. Es gab in Frankfurt eben keinen Carl de Vinck, der, auf der Sammlung seines Vaters aufbauend, rund 29000 Stück Druckgraphik zur Geschichte Frankreichs (von der Hochzeit Ludwigs XVI. mit Marie-Antoinette bis zur Commune) zusammengetragen hat (21).

Dass zwischen 1794/95 und 1797 für einen Kenner der Kunstszene 200 oder mehr Exemplare unterschiedlicher Qualität gesammelt und nach Frankfurt transportiert werden konnten, ist de facto nicht in Zweifel zu ziehen, obwohl der Zeitraum zwischen dem Ereignis, auf das einige Stiche referieren, und der Goetheschen „Recension“ überraschend gering ist. Wird auf ein historisch datierbares Ereignis Bezug genommen, etwa die Übergabe Mantuas an die Franzosen am 2. Februar 1797, so ist der entsprechende Stich Nr. 31 schon vor dem 23. August desselben Jahres in Frankfurt. Frankfurt hatte sich, neben seiner Buchmesse, auch zu einer Stadt des Kunsthandels entwickelt, aber eine besondere Geschäftsverbindung nach Paris ‒ und da muss es einen Kenner der „Szene“ gegeben haben ‒ konnte nicht ermittelt werden. Ein kleiner Taschenkalender oder Verkaufskatalog mit dem Titel „Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, depuis ‘Les Incroyables’, jusqu’au ‘Bœuf à la mode’. Etrennes assez piquantes pour la présente année [an VIe]“ verzeichnet allerdings nur 70 Blätter. Überraschenderweise ist der Großteil der von Goethe genannten Stiche ebenfalls in diesem Almanach zu finden, freilich in völlig anderer (nur grob thematischer, fast beliebiger) Reihenfolge. Interessanterweise gibt es aber zum Teil fast wörtliche Übereinstimmungen mit den Kurzbeschreibungen, die der Kalender anführt. Das Faktum überhaupt, dass Goethe eben diese deskriptive Kleinform wählt (vgl. MA 6.1, 824), lässt vermuten, dass er sich – oder der Sammler, Händler, Informant – des Almanachs bedienten. Aber ist es überhaupt möglich, dass das auf das 6. Revolutionsjahr, das ist auf 22. September 1797 bis 22. September 1798, datierte Bändchen schon in Frankfurt war, als Goethe in Frankfurt war; war es nachdatiert? Gerade die Wertung der Graphik Nr. 39, die relativ untypisch zum Gros der Sammlung steht, scheint im Sinne einer Goetheschen Kenntnisnahme motiviert. Heißt es z.B. im Almanach „Les extrêmes y sont tellements opposés, que la gravure, d’ailleurs faible, tient un rang parmi les carricatures“ (22), so findet sich bei Goethe folgende Anmerkung: „Ein schlechtes Blatt das aber doch, indem es die neuen und die alten Absurditäten gegeneinander setzt, interessant ist.“ Was wäre auch der Grund gewesen, ein anderes „schwaches“ Blatt, „Les Marionettes“ (Nr. 29), aufzunehmen, außer dass es der Almanach anführt? Andererseits entschlüsselt Goethe nicht die Mercier-Satire (Nr. 54), was im Almanach durchaus, fast unübersehbar geschehen war (23) – eine Geste Goethescher politesse oder négligence? Wie dem auch sei, es lässt sich anhand des Almanachs, aber auch anhand anderer mehr oder weniger zeitgenössischer Texte, wie z.B. Merciers „Nouveau Paris“ (24) oder der Directoire-Studie der Brüder Goncourt (25), belegen, dass Goethes Auswahl für die damaligen Verhältnisse repräsentativ war und auch heute noch respektabel ist (26). Er hat eine epochaltypische Auswahl getroffen, auch wenn er viele Details fehldeutete oder gar nicht erkannte, auch nicht erkennen konnte. Freilich muss er nicht alles diktiert haben, was er sah. Für ihn war z.B. nicht bemerkenswert, weil selbstverständlich, dass z.B. die Protagonisten der Stiche Stock und Hut trugen, was dem heutigen Betrachter auffällt. Dieser dagegen übersieht, dass die modisch so emanzipierten Protagonistinnen von den „droits de l’homme“ ausgeschlossen waren (→ Nr. 15), die in der Tat nur den Männern zustanden. Die beiden Goncourt haben im übrigen bereits den Wert ikonographischer Dokumente für eine Geschichtsschreibung der Revolution erkannt. Sie notieren in ihrem Vorwort von 1864:

Pour cette nouvelle histoire, il nous a fallu découvrir les nouvelles sources du Vrai, demander nos documents aux journaux, aux brochures, à tout ce monde de papier mort et méprisé jusqu’ici, aux autographes, aux gravures, aux dessins, aux tableaux, à tous les monuments intimes qu’une époque laisse derrière elle pour être sa confession et sa résurrection. (27)

Goethe hat offenbar keine Anstalten gemacht, die Stiche oder zumindest einige davon zu erwerben – falls sie ihm überhaupt zum Kauf angeboten worden wären. Überhaupt dürften die aktuellen Kupfer weder hinreichend ästhetischen noch historischen Wert besessen haben – sie hatten zu beidem lediglich Tendenzen –, um Goethes Sammeleifer gereizt zu haben. In seinem Propyläen-Aufsatz von 1799, „Der Sammler und die Seinigen“ (MA 6.2, 76ff.), finden sie keinen Ort, und noch in der Novelle „Die guten Weiber, als Gegenbilder der bösen Weiber, auf den Kupfern des diesjährigen Damenalmanachs“ von 1800 ist der „Streit für und gegen Karikatur“ (MA 6.1, 818) nicht entschieden. Goethes klassischer Kunstbegriff war zu übermächtig, um mehr als nur punktuelles Interesse für zeitgenössische Gebrauchs- oder Tendenzkunst hervorzurufen. Seine Wertung ist freilich um so positiver, je mehr sich das Werk über die politische Groteske hinaus zum (neo-) klassizistisch „Gedämpften“ hin bewegt und „symbolisch“ wird. Erst Karl Rosenkranz hat mit seiner „Ästhetik des Häßlichen“ die Karikatur generell gerechtfertigt (28). Ohnehin zeichnet sich eine sammlerische Eigenaktivität Goethes erst nach 1817/18 ab (29). Schon Christian Schuchardts Katalogisierung von Goethes Kunstsammlungen von 1848 jedenfalls erwähnt die Stiche nicht (30). Zuerst hat Gerhard Femmel 1980 die Forschungslücke konstatiert (31). Allerdings wollte sich Goethe einer Notiz vom 24. September 1798 zufolge (WA I/47, 282) auch in der Folgezeit mit dem Thema beschäftigen: in seiner eigenen Zeitschrift den „Propyläen“ (WA I/47, 283) – was man sich ohne Vorlage der Stiche nicht recht denken mag, bei allem optischen Gedächtnis, das man dem „Augenmenschen“ Goethe zubilligen möchte. Das könnte darauf hinweisen, dass Goethe die Sammlung als erreichbar, eventuell in der Nähe wusste (32). Doch gibt es dafür keinerlei Beleg. Möglicherweise ist gerade die Abwesenheit der Sammlung auch ein Grund dafür, dass Goethes diesbezügliche Pläne stockten.

Doch die Sammlungsgeschichte ist hier nicht von vorrangigem Interesse, zumal ein Großteil der von Goethe beschriebenen Stiche ja ermittelt werden konnte – über die manchmal recht abenteuerliche und gleichsam detektivische Suche habe ich andernorts berichtet (33). Mittlerweile macht es der Computer bzw. das Internet möglich, im British Museum oder in der Bibliothèque nationale zumindest einen Teil der Stiche nachzuweisen. Aber selbst die großen „cabinets des estampes“ besitzen nicht alle das Goethesche Corpus vollständig (34),  und zwei Stiche (Nr. 44 u. 55) sind offenbar unauffindbar oder verloren.

3. Morphologie einer Epoche

Goethe hat eine strenge thematische Einteilung der Stiche vorgenommen und das „Schema“ seiner „Recension“ vorangestellt:

Sie [die französischen Kupfer] sind gerichtet gegen
    I. Fremde
       a.) England. [Nr. 1-2]
       b.) Den Papst. [Nr. 3-9]
       c.) Oesterreich. [Nr. 10]
    II. Einheimische
       a.) Schreckensreich [Nr. 11-12]
       b.) Modefratzen.
            1.) In ihrer Albernheit dar und gegen einander gestellt.
                  [Nr. 13-32]
            2.) Paarweis in galanten und leidenschafftlichen Verhältnissen
                  untereinander. [Nr. 33-38]
            3.) In Verhältnissen zu veralteten Fratzen. [Nr. 39-40]
            4.) In Finanz oder anderen politischen Verhältnissen. [Nr. 41-53]
       c.) Gegen Künstlerfeinde. [Nr. 54-55] (35)

Die Zählung der Stiche lässt prima facie einen innenpolitischen Schwerpunkt des Goetheschen Interesses erkennen: den der „Modefratzen“, wie sie der Rezensent nennt. Allerdings sollte man die Incroyables und Merveilleuses nicht nur von der pittoresken Seite sehen (36). Die Bildsatire benützt diese exzentrisch wirkenden Typen (37), sei es kritisch, sei es affirmativ, als Repräsentanten des postrevolutionären Zeitgeistes (exemplarisch → Nr. 2). Sie sind freilich nur eine „Splittergruppe“ (pars pro toto), wenn auch eine auffällige. Um die satirische „Symbolik“ zu verstehen, muss man die Zeichen erkennen, mit denen die Bildsatire, abgesehen von den wenigen verbalen Beiträgen (vor allem in den Bildunterschriften), „spricht“. Zu den ikonographischen Codes zählen vor allem die Körper- und die Kleidersprache (in ihrem wechselseitigen Verhältnis), die die Germanistik gerne der Modegeschichte überlässt, die aber eine umfassenden Bild- und Medienwissenschaft nicht übersehen kann und darf (38). Ein Zeitgenosse kann Bildzeichen sehend deuten, ohne dies verbalisieren zu müssen (oder gar: zu können) (39).

Selten jedenfalls wurde mit Mode soviel Politik gemacht wie im Directoire, von der Macht der Bilder überhaupt ganz zu schweigen, die den „petit caporal“ erst zu Napoléon Bonaparte erhoben. Kein anderer als der häufig als Incroyable dargestellte Bonaparte (→ Nr. 31) hat besser begriffen, „que le règne de l’opinion vient d’être substitué à celui de la naissance: il révèle dans ses communiqués de victoire un vrai génie de la publicité“ (40). Es war schon nach 1789 lebensentscheidend, ob man „Hosen“ trug oder keine, also „sans-culotte“ und „bon patriote“ war. Die falsche Perücke als politisches Bekenntnis konnte Kopf und Kragen kosten. Die Incroyables und Merveilleuses sind also mehr als die Summe ihrer modischen Accessoires, auch wenn die Zeichen des Machtkampfes schon verblichen, zur vestimentären Katachrese gesunken waren: etwa die Keule (gourdin), die meist nur noch als schickes Decorum, als Spazierstock statt als Schlagwerkzeug, diente, oder die Frisur „à la victime“, die ironisch und schrill an die Guillotine erinnerte (→ Nr. 13f., 31f.). War die „jeunesse dorée“ (41) wesentlich an der Entmachtung der Jakobiner beteiligt ‒ als eine der verschiedenen „pressure groups“, die das, was man mittlerweile die Französische Revolution nennt, vorantrieben, nach den Vertretern der Etats Généraux, den Pariser Poissardes (→ Nr. 15, 53), den Sans-culottes und unzähligen großen und kleinen Führern und Fraktionen, so beteiligte sie sich nun mit mehr oder weniger Erfolg am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben des Directoire. Die Französische Revolution ist nicht aus einem Guss.

Die „rollende Weltgeschichte“ (MA 14, 513) bietet Goethe, dessen Informationsmöglichkeiten ja beschränkt waren, den Anblick einer „ungeheuern Empirie“ (MA 8.1, 887). Er nähert sich dieser „empirischen Weltbreite“ (MA 8.1, 381) oder „millionenfachen Hydra der Empirie“ (MA 8.1, 393; vgl. MA 4.2, 629, 638) mit „skeptischem Realism“ (MA 4.2, 637). Eine „Art von Sentimentalität“ (MA 8.1, 391) beschleicht ihn angesichts einer Überlast an Signifikanz, und Goethe entwickelt ein – sein – symbolisches Verfahren, um diese Überlast zu reduzieren und in eine so ästhetische wie „logische“ Form zu fassen. Am 16. August 1797 schreibt er aus Frankfurt an Schiller:

Ich habe [...] die Gegenstände, die einen solchen [sentimentalen] Effekt hervorbringen, genau betrachtet und zu meiner Verwunderung bemerkt daß sie eigentlich symbolisch sind. Das heißt [...], es sind eminente Fälle, die, in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen andern dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, ähnliches und fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen. (MA 8.1, 391)

Wie er am Ende desselben Briefes bemerkt, erlaubt dieses Verfahren, „auf jedem Platz, in jedem Moment“ in die Tiefe zu gehen, ohne die Erfahrung in aller Breite verfolgen zu müssen (MA 8.1, 393). Symbolik und Morphologie wirken zusammen.

Lenken wir sogleich den Blick auf eine erste „Übung“ dieses symbolischen Sinnes: die „Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche“. Acht Tage nach dem oben zitierten Brief (42) schreibt Goethe nämlich wiederum an Schiller bezüglich der eben entdeckten Bildnisse:

Ich fange an sie nun einzeln zu beschreiben und es geht recht gut, denn da sie meist dem Gedanken etwas sagen, witzig, simbolisch allegorisch sind, so stellen sie sich der Imagination oft eben so gut und noch besser dar als dem Auge, und wenn man eine so große Masse übersehen kann, so lassen sich über französischen Geist und Kunst, im allgemeinen, recht artige Bemerkungen machen und das Einzelne, wenn man auch nicht lichtenbergisieren kann noch will, läßt sich doch immer heiter und munter stellen, daß man es gerne lesen wird. (MA 8.1, 401)

Goethes Terminologie („simbolisch allegorisch“) scheint noch unentschieden. Ohne Zweifel erkennt er aber, dass einige der Stiche durchweg „allegorisch“ gearbeitet sind. Typisch dafür etwa die erste und die letzte der vorhandenen Bildsatiren, Nr. 1 und Nr. 54: „Depart de l’Ambassade Anglaise“ und „M.·.R. [Mercier] L’ane comme il n’y en a point“. Hier werden nicht nur der ungeschickte englische Gesandte Malmesbury und der kunstfeindliche Schriftsteller Louis-Sébastien Mercier als Esel personifiziert, sondern es werden auch Text- und Bildinformationen im Bild selber gegeben, mit deren Hilfe das Ikon eindeutig dekodiert werden kann; in Nr. 54 z.B. weist der Schubkarren auf ein Theaterstück Merciers hin: „La Brouette du vinaigrier“, und dass der Esel u.a. über die Werke des Descartes trampelt, hat damit zu tun, dass sich Mercier gegen die „Pantheonisierung“ (wie es hieß) des genannten Philosophen ausgesprochen hatte. Ganz über konventionalisierte bzw. bekannte Bildmuster argumentieren die antiklerikalen Nr. 7 und 8 „Le Traité de paix avec Rome“ bzw. „La Paix Papale“. Hier ist der Papst an seiner Kopfbedeckung, der Tiara, zu erkennen, der französische Gegenspieler ist der gallische Hahn bzw. der mit einer Kokarde geschmückte Löwe, eine Personifikation Bonapartes. Kurzum: Goethe will ‒ und kann ‒ nicht „lichtenbergisieren“ (43). Damit bezieht er sich auf Georg Christoph Lichtenbergs „Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche“, die ihm dieser zugesandt hatte (HA Br 2, 208f., 353). So „realistisch“ dicht die englischen Karikaturen gearbeitet waren, so detailliert zeichnet sie Lichtenberg nach. Er „allegorisiert“. Die direktorialen Stiche dagegen sind mehrheitlich viel abstrakter (häufig ohne Hintergrund); sie sind typenhaft und im Unterschied zu den englischen Karikaturen und auch zu den revolutionären wie gegenrevolutionären Blättern (44) weniger verzerrt. Bedürfen diese wie die Hogarthschen Stiche zu ihrer Betrachtung „weder Kunstkenntnis noch höheren Sinnes“ (MA 14, 43), so fühlte sich Goethe zumindest bei einigen der neueren französischen Stiche angesprochen und interpretatorisch herausgefordert.

Welche Stiche könnte Goethe als „symbolisch“ gewertet haben? Seine spätere Unterscheidung zwischen Allegorie und Symbol (MA 17, 904) ist allerdings weder absolut, noch erklärt sie alles. Worauf es Goethe aber offenbar ankommt, ist der unterschiedliche Grad, die unterschiedliche Art der Diskursivierung bei Allegorie und Symbol. Bei ersterer kann ‒ wie oben schon demonstriert ‒ dem Bild ein Begriff unmittelbar, d.h. kraft der epochal eingespielten Konvention, zugesprochen werden, bei letzterem bleibt die „Idee im Bild“ sprachlich unerklärbar, d.h. aber sie fordert unendliche Interpretationen. Beim Goethe-Symbol liegt so etwas wie eine änigmatisierte Allegorie vor, oder mit Jürgen Link zu sprechen: die subscriptio eines Symbols ist „textuell nicht voll realisiert“ (45). Damit kommen Vorstellung und Bildlichkeit im Sinne einer imaginierten Hypothese, einer „Anschauung“, ins Spiel, womit ein abduktiver Prozess beschrieben wird (46). Mit Hilfe dieser theoretischen Vorüberlegung können einige symbolische Darstellungen leicht identifiziert werden. Goethe unterscheidet zwar stets zwischen dem handwerklichen Geschick des Zeichners und/oder Stechers und dem Kunst- oder Geschmackswert der Arbeit. Ein Hinweis auf die gute Komposition erfolgt aber in der Regel nur dann, wenn die subscriptio bis auf eine Titelangabe schrumpft; d.h. aber die Komposition kompensiert die unscharfe Allegorese des Bildes. Positiv ausgedrückt: die Komposition trägt zur Bildautonomie bei. Das hat auch Bernd Bornemann im Falle der Karikatur als allgemeingültig erkannt: „Nicht selten besteht eine enge Relation zwischen der bildnerischen Qualität und dem Aufwand des Textes: Das Wort muss der mangelnden Aussagekraft des Bildes aufhelfen oder sie – peinliche Sache – ersetzen.“ (47) Goethe schaut über das karikatural Hässliche hinweg, wenn der Stich handwerklich gut gemacht ist, wie z.B. im Falle des „Anglomanen“ (Nr. 20): „Die Magerkeit und der Ausdruck beyder Creaturen passt sehr gut zusammen. Nach Vernet von Darcis sehr schön punctirt.“

Was ist nun gute Komposition? Am Beispiel der Laokoon-Gruppe hat Goethe kurz vor Reiseantritt die Theorie des prägnanten Punktes illustriert:

Äußerst wichtig ist dieses Kunstwerk durch die Darstellung des Moments. Wenn ein Werk der bildenden Kunst sich wirklich vor dem Auge bewegen soll, so muß ein vorübergehender Moment gewählt sein; kurz vorher darf kein Teil des Ganzen sich in dieser Lage befunden haben, kurz hernach muß jeder Teil genötigt sein, diese Lage zu verlassen, dadurch wird das Werk Millionen Anschauern immer wieder neu lebendig sein. (MA 4.2, 81)

Goethe schätzt also nicht unbedingt die karikaturalen „contrastes“, die einer „Ästhetik des Hässlichen“ zugehören, nicht einmal die „rencontres“ oder „promenades“, die zuviele kollaterale Handlungsmomente erkennen lassen (→ Nr. 16f., 39f., 45), sondern vor allem – so meine Hypothese – Stiche wie „L’inconvénient des Perruques“ (Nr. 22) von Carle Vernet. Hier befindet sich die dargestellte Handlung in einem prekären ästhetischen Gleichgewicht und erklärt sich fast von selbst (vgl. MA 6.1, 828), wie auch Goethes Kommentar vermerkt:

Einem auf einem Engländer sitzenden von der Seite reitenden hübschen Mädchen nimmt der Wind im Gallopp Hut und Perücke. sie wird dadurch nicht häßlicher, weil ihr Haar nun erscheint das gar artig auf dem Kopf zusammengebunden ist, zu gleicher Zeit reißt der Gürtel der das Kleid zusammenhalten soll.

Die Bildaussage besitzt die Goethesche Struktur einer (euphemistischen) Reduktion auf den Naturzustand, ja man könnte Goethes Wort über Schillers „Piccolomini“ vom 18. März 1799 auf den genannten Stich übertragen. Schillers Stück habe den Vorzug, so schreibt Goethe an den Verfasser, „daß alles aufhört politisch zu sein und bloß menschlich wird ja das historische selbst ist nur ein leichter Schleier wodurch das reinmenschliche durchblickt“. Goethe schließt: „Die Wirkung aufs Gemüt wird nicht gehindert noch gestört.“ (MA 8.1, 687) Charles Baudelaire, der Erfinder der „modernité“ (48), würdigt Carle Vernets Werk mit den Worten: „Telle était la mode, tel était l’être humain.“ (49) Goethe erfasst das in Frage stehende Vernet-Motiv „symbolisch“, fasst die Erscheinung in eine „Idee“ (50), anders als andere zeitgenössische Interpreten, die eher das konkrete Missgeschick der Reiterin hervorheben. Der Almanach etwa schreibt:

Ici figure une amozone [sic] à cheval, liée à sa selle avec une courroie, dans l’attitude du plus grand embarras ... Le vent qui déjà a mis à découvert une de ses cuisses, souffle dans le réseau de sa perruque, et met en évidence des cheveux courts, que de loin, on dirait rasés. (51)

Goethe sieht eher die reizvolle Befreiung von Zwängen der Konvention, gleichsam ein „retour à la nature“ ‒ freilich nicht im Sinne eines rousseauistischen „marcher à quatre pattes“ (52). Er erwartet lustvoll, dass nach der Perücke auch der Gürtel „entzwei reißt“, obwohl die direktoriale Mode solche unförmigen Gürtel gar nicht kennt und die Angabe des Almanachs wohl stimmt, dass die „merveilleuse“ Sonntagsreiterin mit einem Sicherheitsgurt an den Sattel angeschnallt ist. Wo der Almanach eine modische Rasur annimmt (→ Nr. 26), erkennt Goethe – wohl richtig – artig zusammengebundenes natürliches Haar. Es ist zwar noch weit bis zur antiken Nacktheit eines Laokoon, der bis zum Gattungsbegriff entblößt ist – „es ist ein Vater mit zwei Söhnen“ (MA 4.2, 78) –, aber die „Töchter der Natur“ (→ Nr. 35) sind auf dem besten Wege. Goethe scheint die utopische „Idee“ einer neuen, so antikischen wie neckischen Natürlichkeit in der modernen Gesellschaft in den Kupferstichen – einigen jedenfalls – gesehen zu haben, eine Idee, die nur bildlich dargestellt werden konnte, aber „unaussprechlich“ blieb (MA 17, 904). Ein Augenzeuge, Johann Georg Heinzmann, stellt darob mediendidaktische Betrachtungen an, deren Übertragung in die spätbürgerliche Gegenwart keines großen Aufwandes bedarf:

Und spazierst du auf den Gassen mit deinen Kindern, so würdest du alle Augenblicke rufen müssen: Komm, schau nicht dahin! – und das würde deine Kinder nur noch begieriger machen, sie würden also zu den ausgelegten, aufgehängten Gemälden, Bildern und Kupferstichen hintreten, sie mit Verwunderung beschauen; und was würden sie sehen? Wie Töchter sich entehren, wie Buhlerinnen sich geberden, wie die Kokette sich brüstet, wie der Hahnreye lächerlich gemacht, und aller Sittsamkeit und Schaam der Abschied gegeben wird. Oft dachte ich, wenn ich so junge Leute vor solchen Bilderläden stehen sah, was hilft alles Zusprechen in den Schulen, wenn die öffentliche Erziehung durch das Beyspiel der Bürger fehlt, und die Polizey es wieder vernichtet. Es ist ein Widerspruch, Leute tugendhaft machen zu wollen, und ihnen doch alle Reizungen geben, es nicht zu seyn! (53)

Goethes so genüssliche wie euphemistische Reduktion geht vom Politischen, Sozialen aufs Menschliche, wodurch ideologische Affekte erspart werden. Dieses klassische Gemütsfreiheitspostulat begegnet schon vor 1789, als Goethe in Italien plante, aus der Halsbandaffaire den Stoff für eine Opera buffa zu gewinnen. Er erhebt hier nicht eine „Hofgeschichte zur Weltgeschichte“ (54) – wie Börne meinte –, sondern er poetisiert eine miserable Affaire, wie deren mehrere vorgekommen waren, ebenso wie er sich mit einer politischen Wertung im Falle der direktorialen Kupferstiche ständig zurückhält. Seine Rezension weist eine signifikante Entpolitisierungsstruktur auf, obwohl es Goethe nicht entgangen ist, dass das Directoire von Krisen geschüttelt wurde. Im Unterschied zu Herder, Schiller u.a. reagiert er im übrigen auch auf General Bonapartes Vandalismus in Italien (→ Nr. 7) sehr verhalten. Man bedenke jedoch, dass der in ästhetischen Universalismen denkende Goethe „kein Freund des Bestehenden“ (MA 19, 494), d.h. von verkrusteten aristokratischen und klerikalen Strukturen, war, die „die Kunst“ (seiner Auffassung nach) knechteten: „[…] die unglücksel’gen Künstler, was mußten die malen! und für wen!“ (MA 15, 49), notiert er in Verona am 17. September 1786. Dass er zwei relativ unbedeutende Stiche „gegen Künstlerfeinde“ ans Ende seiner „Recension“ setzt, zeigt wieder seine apolitische, transnationale, universalistische Kunstorientierung auf.

Indem er jedoch z.B. in einer gewesenen „pressure groupe“, den Incroyables bzw. Merveilleuses, „Modefratzen“ sieht und ihre unmittelbare Vorgeschichte – den Kampf gegen die Jakobiner – kaum berührt und indem er hinter den gräkomanen Schönheiten nicht bargeldhungrige Prostituierte oder rechtlose Bürgersfrauen erkennt, indem sein Diskurs über all die politischen Probleme hinweg gleitet, ja indem er eine zentrale Gruppe symbolischer und „rein menschlicher“ Abbildungen einrahmt von – marginalen – politisierenden Allegorien, deren letztere zumal gegen Kunstfeinde gerichtet sind, indem er all dies tut, setzt er einen Verschiebungsprozess in Gang, dessen Liberalität und Ästhetizität euphemistisch konnotiert sind. Er verkennt eine völlig gegenläufige Politisierung, die den Stichen ebenso abgelesen werden kann, und die Mercier treffend auf den Begriff bringt: „L’assignat créa des commerçants autant qu’il y avait d’hommes.“ (55) Goethe erkennt das gesellschaftliche Syndrom ohne Zweifel, aber er behauptet noch einmal die (scheinbar humane) Antike gegen die (kapitalistische) Moderne. Für einen Augenblick – einen prägnanten Moment – begrüßt Goethe um den Preis einer Verdrängung die neue bürgerliche Republik als die Frucht der Revolution. Wenn er am 10. August 1797 an Knebel aus Frankfurt schreibt – Eckermann übernimmt es in die „Schweizer Reise“: „Nach Italien habe ich keine Lust, ich mag die Raupen und Chrysaliden [Puppen] der Freiheit nicht beobachten; weit lieber möchte ich die ausgekrochenen französischen Schmetterlinge sehen.“ (MA 4.2, 620), so hat man aus diesem (isoliert stehenden) „verblümten“ Briefpassus immer nur Goethes Ärger über Krieg und Revolution in Oberitalien heraushören wollen, Ereignisse gewiss, die seine mit Meyer seit langem geplante Italienreise verhinderten. Aber offensichtlich scheinen ihm in Frankreich selber die metamorphotischen Geburtswehen der Republik ausgestanden. Wäre also das Directoire der zwar noch skeptisch beäugte „Schmetterling“ der revolutionären Metamorphose, eine der „wohltätigen Folgen“ (MA 19, 494), die nach der Terreur ersichtlich wurden?

Goethe wollte, wie schon zitiert, der „rollenden Weltgeschichte“ (MA 14, 513) nicht nacheilen, er konnte sie aber auch nicht festhalten. Daher bildet sich bei ihm auch keine bleibende Vorstellung für die Übergangszeit zwischen Revolution und Terreur bzw. Consulat und Empire. Ohne Zweifel bedeutete das Directoire für ihn eine Wende zum Besseren; er macht sich aber in seiner und dank seiner „Recension“ auf jeden Fall einen „liberalen Begriff“ (MA 4.2, 630) von dem Geschehen in Frankreich, was er im Hinblick auf die Entwicklung Frankfurts am 18. August 1797 mit eben demselben Ausdruck negiert. Die direktoriale Verfassung des Jahres III (22. August 1795) mit ihrem liberalen Regierungsprogramm vertritt in der Anerkennung von Besitz, Handel, Leistung und Genuss Prinzipien des „Turms“ der „Lehrjahre“, die ja vor dem französischen Kaiserreich entstanden. Goethe hat das triviale Geheimbundmotiv also treffend modernisiert, und Lothario etwa ist im Rahmen seiner Möglichkeiten ein direktorialer Typ.

Es ist daher falsch, wenn Dieter Borchmeyer in einem viel gelesenen Büchlein behauptet, Goethe habe nicht wahrgenommen, dass im Moment, da er den „Freundschaftsbund“ mit Schiller schloss, „eine neue entscheidende Wende der Revolution einsetzte: deren Rückkehr zur liberalen Anfangsphase unter den Thermidorianern“ (56). Genau dies belegt aber Goethes „Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche“. Einzig Carl Einstein besaß bislang die Intuition festzustellen – wenngleich in polemischer Absicht –, Goethe sei „in jeder Hinsicht ein Mann des Directoire“ (57) gewesen, so in Einsteins Goethe-Nachruf 1932, der freilich mehr üble Nachrede, Pamphlet zu Goethes gefeiertem 200. Todesjahr war als „obituary“ (der so betitelte Artikel liegt nur englischsprachig vor). Gewiss sind Goethes explizite Äußerungen über das Directoire spärlich (MA 4.2, 682, 745), ebenso spärlich sind aber auch seine zeitgenössischen Äußerungen zur Terreur oder überhaupt zur Revolution. Das Directoire als typisch moderne schnelllebige und kontingente Übergangszeit (58) steht unserer Gegenwart viel näher als die revolutionären Anfänge oder das Kaiserreich.

4. Praktische Hinweise

Im folgenden Kapitel steht der in der Handschrift linksspaltig gesetzte Bildtitel (in Antiqua), so wie ihn Geist ‒ meist genau ‒ von der Vorlage übernommen hat an erster Stelle; der Goethesche Kommentar (in Fraktur), der die rechte Spalte der Handschrift einnimmt, schließt an die Überschrift unmittelbar an.

Dann folgt der Abdruck eines Bildexemplars. Dank der Exaktheit von Geists Titelwiedergabe stellt die Identifikation in der Regel kein Problem dar (59), doch ist nicht immer ersichtlich, ob Goethe ein kolorierter oder unkolorierter Stich vorlag (60). Eine Handkolorierung kann recht unterschiedlich ausfallen, vom Konservierungszustand von Farbe und Papier ganz zu schweigen. Kolorierungen können im Prinzip auch später hinzugefügt werden. Es gibt keine Gewähr, dass im Falle einer Schwarz-weiß-Abbildung nicht auch ein koloriertes Exemplar existiert. Bei der Auswahl werden in besonderen Fällen eine kolorierte und eine unkolorierte Fassung gegenübergestellt; bei der Schwarz-weiß-Abbildung ist die Qualität der graphischen Arbeit und sind auch bildinterne Texte o.ä. meist besser zu erkennen. Darauf kommt es bei den „politischen“ Satiren auch eher an, während „ästhetische“ Stiche ihre Wirkung auch von der Farbe herleiten. Auf künstlerische Vorlagen, wie z.B. im Falle der anspruchsvollen Stiche nach Boilly und Vernet wird, sofern bekannt, hingewiesen; Varianten der Stiche etwa in Medaillon- oder Fächerform werden (vgl. Nr. 21 u. 24) werden nach Möglichkeit erwähnt.

Nach der Abbildung folgt die Transkription des originalen Bildtitels, ggf. auch des Untertitels, und aller Textbeigaben. Wie schon bemerkt finden sich sowohl in Geists Handschrift als auch in den französischen Originaltexten zahlreiche „Schreibeigentümlicheiten“, gelegentlich gewiss auch manifeste Rechtschreib- und Grammatikfehler, die die diplomatische Edition indessen unkorrigiert belässt. In der Regel sind auch fehlerhafte Texte zu verstehen. Auf Übersetzungen wurde ‒ im Unterschied zur dtv-Ausgabe von 1988 ‒ verzichtet, da die Beschäftigung mit Goethes „Recension“ Französischkenntnisse schlicht und einfach voraussetzt. Die in Frankreich völlig unbekannte Beschäftigung Goethes mit dem Directoire wiederum fordert jenseits des Rheins notwendigerweise Deutschkenntnisse.

Die auf den ersten „originalen“ Teil folgenden sachlichen Angaben sprechen für sich und sind lediglich in folgenden Punkten zu erläutern: Die in der Regel von mir selber vorgenommenen Messungen differieren von denen etwa der Bibliothèque nationale oder des British Museum nicht selten um einige Millimeter. Das liegt u.a. am Zustand der Vorlagen; z.B. kann ein Stich schief abgezogen sein oder der Abdruck der Kupferplatte ist nicht zu erkennen (etwa weil abgeschnitten), das Papier ist gewellt o.ä. Die Blätter sind auch unterschiedlich zugeschnitten; dadurch ist z.B. bei Nr. 13 und 15 vermutlich der Untertitel weggefallen. Die Angaben der Künstler und Stecher werden, wenn möglich, (61) um die Vornamen ergänzt. Sehr häufig ist jedoch außer eben dem vorfindlichen Namen nichts weiter über den Urheber bekannt. Daher dient die Angabe der Lokalität der Werkstatt bzw. des Verkaufs (die von Fall zu Fall nicht selten wechselt) ganz wesentlich der Identifizierung; diese Angaben wurden im Original übernommen. Die Preisangaben, die sich nie auf den Stichen finden, stammen aus dem o.g. Almanach bzw. Verkaufskatalog („Quelle Folie!“). Die Angabe der Provenienz der Stiche wird nach Möglichkeit ergänzt, wenn sich ein Nachweis auch in den online-Katalogen der Bibliothèque nationale und des British Museum findet. Hier kann man u.U. eine andere Fassung betrachten ‒ und auch nicht selten dank Goethes genau datierter „Recension“ fehlerhafte Zeitangaben zurechtrücken. Das bedeutet nicht, dass sich einige Exemplare nicht auch in den von mir besuchten Archiven finden. Es ging mir nur um den Bildnachweis. Die Dunkelziffer in zahlreichen anderen Kupferstichkabinetten, die nicht besucht werden konnten, ist ohne Zweifel erheblich. Angegeben wird lediglich die Gothaer Sammlung (Schloß Friedenstein Gotha) wegen der zumindest denkbaren Verbindung zu Goethe.

Mein abschließender Bildkommentar setzt Goethes Angaben mit möglichen Interpretationen aus der Sicht der Gegenwart ins Verhältnis.

5. Dank

Georg Jäger danke ich für die Aufnahme des Beitrags ins Goethezeitportal. Allen im Folgenden genannten Bibliotheken, Archiven, Sammlungen und Kabinetten danke ich für die Druckvorlagen bzw. die Abdruckgenehmigung: Albertina, Wien; Bibliothèque de l’Arsenal, Paris; Bibliothèque nationale de France, Paris; British Museum, London; Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar; Historisches Museum Frankfurt; Kunstbibliothek Berlin; Kunstsammlungen der Veste Coburg; Musée du Louvre, Collection Edmond de Rothschild; Musée Carnavalet, Paris. Insbesondere danke ich Richard Le Menn für die Vorlage zu Nr. 32, auch für die Maßangaben. Zur Interpretation einiger Stiche haben dankenswerterweise beigetragen: Andreas Haesler (Dentalhistorisches Museum, Zschadraß → Nr. 41), Van Vinh Nguyen (Musée Carnavalet → Nr. 25), Philippe de Carbonnières (Musée Carnavalet → Nr. 55) und Rüdiger Welter (Arbeitsstelle des Goethe-Wörterbuches Tübingen → Nr. 13). Nicht zuletzt gilt mein besonderer Dank meiner Assistentin Corina Koch, die Kopien und Scans angefertigt hat.

6. Siglen

BA 19 = Goethe: Berliner Ausgabe, Bd. 19: Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Schriften zur bildenden Kunst I, hg. v. Siegfried Seidel, Berlin: Aufbau 1985 (2. Aufl.)
FA I/18 = Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, hg. v. Friedmar Apel u.a., Abt. I, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771-1805, hg. v. dems., Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998 
HA Br 2 = Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden, Bd. 2: Briefe der Jahre 1786-1805, textkrit. durchges. u. m. Anm. vers. v. Karl Robert Mandelkow, Hamburg: Wegner 1968 (2. Aufl.)
MA = Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter u.a., München u. Wien: Hanser 1985ff.
Rdtv = Johann Wolfgang Goethe: Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche. Text ‒ Bild ‒ Kommentar. M. e. Einf. hg. v. Klaus H. Kiefer, München: dtv 1988 (dtv Klassik)
T 2.1 = Goethe: Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe, i. Auftr. d. Stiftung Weimarer Klassik hg. v. Jochen Golz u.a., Bd. 2.1: 1790-1800. Text, hg. v. Edith Zehm, Stuttgart u. Weimar: Metzler 2000
WA I/47 = Goethes Werke, hg. i. Auftr. v. Sophie von Sachsen, Abt. I, Bd. 47: Schriften zur Kunst 1788-1800. Paralipomena. Vorarbeiten und Bruchstücke, hg. v. Otto Harnack, Red. Bernhard Suphan, Weimar: Böhlaus Nachf. 1896

Das Motto ist entnommen aus:
Le Directoire. Portefeuille d’un Incroyable, publié par Roger de Parnes avec préface par Georges d’ Heylli, Paris: Rouveyre 1880 (Librairie ancienne et moderne), S. 223.

Anmerkungen

1 Zur ersten Italienreise s. Klaus H. Kiefer: Wiedergeburt und Neues Leben. Aspekte des Strukturwandels in Goethes Italienischer Reise, Bonn: Bouvier 1978 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte, Bd. 280) sowie meine in „‘Die famose Hexen-Epoche’ – Sichtbares und Unsichtbares in der Aufklärung. Kant – Schiller – Goethe – Swedenborg – Mesmer – Cagliostro“ (München: Oldenbourg 2004 [Ancien Régime, Aufklärung, Revolution, Bd. 36]) abgedruckten Beiträge „Auch ich in Arkadien?“ (S. 265-285) sowie „Faustines Blick – ‘Elegie. Rom, 1789’“ (S. 287-298).
2 Als Überblickswerk zu empfehlen: Denis Woronoff: La République bourgeoise de Thermidor à Brumaire 1794-1799. Nouvelle histoire de la France contemporaine 3, Paris: Seuil 1972 sowie allgemein zur Revolution: Jean Tulard, Jean-François Fayard, Alfred Fierro: Histoire et dictionnaire de la Révolution française 1789-1799, Paris: Laffont 1987.
3 Ich nenne nur als eine besonders „dicht“ geschriebene Biographie von Nicolas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, übers. v. Holger Fliessbach, 2 Bde., Frankfurt/M.: Insel 2004, bes. Bd. 2: 1790-1803.
4 Das Heraklit-Zitat weist darauf hin, dass sich der Machtkampf in Paris nicht nur auf die französische Gesellschaft, sondern auf ganz Europa auswirkte; s. dazu bei den Bildkommentaren die Verweise auf Querverbindungen und Wechselwirkungen.
5 Zuerst sind zu nennen Edition und Kommentar der „Rezension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche“ in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter u.a., Bd. 4.2: Wirkungen der Französischen Revolution 1791-1797, hg. v. Klaus H. Kiefer u.a., München: Hanser 1986, S. 100-117 bzw. S. 993-1004, dann Johann Wolfgang Goethe: Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche. Text ‒ Bild ‒ Kommentar. M. e. Einf. hg. v. Klaus H. Kiefer, München: dtv 1988 (dtv Klassik) ‒ die Einleitung versprach Goethes „Revolutionsrezeption in neuer Sicht“, ein Impuls, den wahrscheinlich nur Nicholas Boyle (vgl. Goethe, Bd. 2, SS. 431, 977, 1026f. → Nr. 31) aufgenommen hat ‒, schließlich: Goethe und die postrevolutionäre Bildsatire, in: Kiefer: Die famose Hexen-Epoche, S. 299-330. Ältere, wenig ergiebige und gewissermaßen „abgearbeitete“ Sekundärliteratur wird nicht in den Neuansatz übernommen.
6 Geist begleitete Goethe auf der Schweizer Reise; leider erfasst sein eigenes Tagebuch nicht die Anreise über Frankfurt; s. J. J. Ludwig Geist: Tagebuch einer Reise durch die Schweiz. Die Aufzeichnungen von Goethes Schreiber 1797, hg. u. komm. v. Barbara Schnyder-Seidel, Stäfa: Gut 1982. 
7 Geist schreibt den deutschen Text in Fraktur, den französischen lateinisch. Die Unterstreichungen sind original.
8 Keineswegs „nachlässig“ wie der Herausgeber Otto Harnack (W 47, 350) schreibt.
9 Das Manuskript der „Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche“ findet sich im Goethe- und Schiller-Archiv unter der Signatur GSA 25/XXVIII, F (Bl. 119-126). Eberhard Haufe machte mich allerdings in einem Brief vom 3. Mai 1988 auf einige Eingriffe Riemers aufmerksam: „Es sind übrigens doch eine Reihe winziger, leicht übersehbarer Korrekturen darin, die mir von Riemers Hand zu stammen scheinen, jedenfalls der einen Riemer-Verbesserung in Nr. 1 [gedrängt > getrennt] in Farbe und Strich ganz ähnlich sind. [...] Meistens sind es Korrekturen einzelner Buchstaben oder ergänzte Satzzeichen oder Großschreibung nach Punkt [...].“
10 Vgl. Robert Steiger: Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik, Zürich u. München: Artemis 1984, Bd. 3: 1789-1798, S. 613ff.
11 Friedmar Apel, der die „Rezension“ in der Goethe-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags ediert und kommentiert, hält die Provenienz der Stiche aus der Städelschen Sammlung, für die zur gegebenen Zeit noch kein Verzeichnis vorliegt, für denkbar (FA I/18, 1225) ‒ denkbar schon, aber unwahrscheinlich. Goethe hätte Städel erwähnt, und ein späterer Kontakt hätte sich in der Korrespondenz niedergeschlagen. Und wo wären die Stiche in Städels Kabinett abgeblieben?
12 Heinrich Sebastian Hüsgen: Raisonnirendes Verzeichnis aller Kupfer- und Eisenstiche, so durch die geschickte Hand selbsten verfertigt worden. Ans Licht gestellt und in eine systematische Ordnung gebracht von einem Freund des schönen Wissens, Frankfurt/M. u.a.: Fleischer 1778.
13 Ders.: Artistisches Magazin. Enthaltend Das Leben und die Verzeichnisse der Werke hiesiger und anderer Künstler; Nebst Einem Anhang von allem Was in öffentlichen und Privat-Gebäuden der Stadt Frankfurt Merkwürdiges von Kunst-Sachen [...] zu sehen ist; Wie auch Einem Verzeichniß aller hiesigen Künstler [...], Frankfurt/M.: Bayrhoffer 1790.
14 Ders. an Johann Isaak von Gerning, zit. n. Otto Heuer: Heinrich Sebastian Hüsgen. Ein Jugendfreund Goethes (1746-1807), in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1902, S. 347-350, hier S. 349. 
15 Vgl. Guido Schönberger: Kunst und Kunstleben in Frankfurt am Main, in: Die Stadt Goethes. Frankfurt am Main im XVIII. Jahrhundert, i. Auftr. d. Stadt Frankfurt am Main hg. v. Heinrich Voelker, Frankfurt/M.: Hausserpresse u. Universitäts-Buchahndlung Blazek & Bergmann 1932, S. 325-336, hier S. 305.
16 Es gibt hierzu zwei (unkommentierte) Einträge T 2.1, 127 u. 139. Das erste Mal ist die Rede von Radierungen von Jean Jacques de Boissieu, das zweite Mal nur von „Verschiedne[n] Radirungen“.
17 Der Erwerb und Austausch von Kupferstichen als dem zeitgenössischen Reproduktionsmedium wird mehrfach erwähnt und war nichts Außergewöhnliches.
18 Ich hatte schon in den 80er Jahren sowohl im Frankfurter Städel als auch im Historischen Museum umfangreiche Nachforschungen (Nachlässe etc.) angestellt: ohne Erfolg.
19 Ulrich Schmidt: Die privaten Kunstsammlungen in Frankfurt am Main. Von ihren Anfängen bis zur Ausbildung der reinen Kunstsammlung, Diss (masch.) Göttingen 1960.
20 S. Verzeichnis einer Sammlung von 325 Stück Pariser schwarzen und colorierten Kupferstichen, mehrentheils von verschiedenen guten Meistern, theils mit, theils ohne Glas und Rahmen, welche den 26ten September 1797 im Doct. Senkenbergischen Stift, hinter der Schlimm-Mauer Lit. D. N°. 104 durch die geschworenen Herren Ausrufer öffentlich an den Meistbietenden gegen baare Bezahlung verkauft werden sollen, Frankfurt am Mayn 1797; zu Johann Friedrich Ettling, ebenfalls ein Bekannter Goethes, s. MA 16, 597.
21 S. Bibliothèque nationale: Images de la Révolution française. Catalogue du vidéodisque, Paris: Bibliothèque nationale u. Pergamon Press, Bd. 1: Présentation ‒ Dictionnaires ‒ Index 1990, S. 39f. Von diesem großen Katalogwerk konnten nur die Bände 1-3 genutzt werden, da es an der Bayerischen Staatsbibliothek München kein Abspielgerät für die inzwischen veraltete Software gibt. 
22 Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, depuis „Les Incroyables“, jusqu’au „Bœuf à la mode“. Etrennes assez piquantes pour la présente année [an VIe = 1797/98], Paris: chez Ouvrier, Libraire, rue Saint-André, des Arcs n° 41 (in-32; 10,1 x 6,7), S. 43, Nr. 43; die Nummernzählung entspricht der Goetheschen „Recension“. 
23 S. ebd., S. 55, Nr. 58: „Un âne, à figure humaine (celle der Mercier), chargé de balais, roulant une brouette chargée d’un baril de vinaigre. (Un des Drames de Mercier, porte le titre de Brouette du Vinaigrier). Ce même âne foulant aux pieds l’Apollon du Belvedère; l’Athalie de Racine, les Œuvres de Descartes, de Virgile, de Xénophon, et donnant un coup de pied à la transfiguration de Raphaël.“
24 Vgl. Louis-Sébastien Mercier: Le Nouveau Paris, hg. v. Jean-Claude Bonnet, Paris: Mercure de France 1994 (Librairie du Bicentenaire de la Révolution française). Im Erstdruck aus dem Jahr 1798 werden zahlreiche Stiche, die Goethe rezensiert, genannt und kontextualisiert. Auch Mercier interessiert sich vor allem für die innenpolitische Lage.
25 Edmond u. Jules de Goncourt: Histoire de la société française pendant le Directoire, Paris: Gallimard 1992 (zuerst 1855). Auch die Brüder Goncourt sind, wie ihr Titel schon besagt, gesellschaftsgeschichtlich interessiert; vgl. Jacques Godechot: La vie quotidienne en France sous le Directoire, Paris: Hachette 1977.
26 Goethes Stiche finden sich immer wieder in einschlägigen ‒ wissenschaftlichen wie populärwissenschaftlichen ‒ Publikationen; um nur eine zu nennen: Michel Vovelle: La Révolution française. Images et récit. 1789-1799, 5 Bde., Paris: Livre Club Diderot 1986 (Librairie du Bicentenaire de la Révolution française), die Kommentierung ist allerdings recht essayistisch.
27 Goncourt: Histoire de la société française pendant le Directoire, S. 9.
28 Vgl. Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen, m. e. Nachw. hg. v. Dieter Kliche, Leipzig: Reclam 1990 (zuerst 1853), S. 309ff.; vgl. auch Günter u. Ingrid Oesterle: „Gegenfüßler des Ideals“ – Prozeßgestalt der Kunst – „Mémoire progressive“ der Geschichte. Zur ästhetischen Fragwürdigkeit von Karikatur seit dem 18. Jahrhundert, in: „Nervöse Auffassungsorgane des inneren und äußeren Lebens“ – Karikaturen, hg. v. Klaus Herding u. Gunter Otto, Gießen: Anabas 1980, S. 87-130.
29 S. Gerhard Femmel: Goethes Grafiksammlung. Die Franzosen, München u. Leipzig: Seemann 1980, S. 10; vgl. Margarete Oppel: Kunst-Ideal und Sammlungstätigkeit, in: Goethe und die Kunst, hg. v. Sabine Schulze, Kat. Schirn Kunsthalle 21. Mai - 7. August 1994 u. Kunstsammlungen Weimar 1. September - 30. Oktober 1994, Ostfildern: Hatje 1994, S. 60-101.
30 Christian Schuchardt: Goethe’s Kunstsammlungen, Tl. 1: Kupferstiche, Holzschnitte, Radierungen, Schwarzkunstblätter, Lithographien und Stahlstiche, Handzeichnungen und Gemälde [...], Jena: Frommann 1848.
31 S. Femmel: Goethes Grafiksammlung, S. 7.
32 Es ist unwahrscheinlich, daß Goethe die Kupfersammlung an den frankophilen, ja revolutionsbegeisterten Gothaer Hof vermittelt hätte (vgl. Bernhard Suphan: Goethe und Prinz August von Gotha, in: Goethe-Jahrbuch 6 [1885], S. 27-58, bes. S. 43), da sich im Gothaer Kupferstichkabinett (Schloß Friedenstein) zwar etliche (15) der von Goethe rezensierten Stiche finden, sogar mit goethezeitlichen Signaturen, aber auch andere, die Goethe nicht erwähnt; es ergibt sich jedenfalls kein stringenter Zusammenhang.
33 S. Rdtv, 9f. 
34 Dank der exakten Zeitangabe der Goetheschen Beschäftigung mit den Stichen können zahlreiche Daten (in der Regel Spätdatierungen) in Katalogen und Publikationen korrigiert und präzisiert werden. Die beiden Stiche, die Goethe im Anhang nur vage erwähnt (Nr. 56f.), können deswegen nicht identifiziert werden, weil es zahllose Abbildungen der direktorialen Amtstracht bzw. der französischen Währung gab. Zwei Beispiele s. Rdtv, 142 u. 144.
35 Im Brief an Schiller vom 24. August 1797, der das Schema übernimmt, finden sich einige unwesentliche Varianten (MA 8.1, 400f.), z.B. heißt es (II.a) verdeutlichend „Das alte Schreckensreich“ (also die „Terreur“ der Jakobinerdiktatur), oder statt „Albernheit“ (II.b.1) steht „Übertriebenheit“; auch sind die „Verhältnisse unter einander“ (II.b.2) nicht spezifiziert.
36 Diese Einseitigkeit lässt sich bei vielen Interpreten, zumal den modegeschichtlich interessierten, beobachten.
37 Als „Fratzen“ sind die Incroyables und Merveilleuses in den Augen und im Sprachgebrauch Goethes „Monstra“, die der Morphologe als Experimente ansieht, „welche die Natur zu Gunsten des Beobachters anstellt“ (MA 18.2, 399). Wie bei den „durchgewachsenen“ Blüten in der Botanik oder Guiseppe Balsamo alias Graf Cagliostro in der Halsbandaffaire weisen die Abweichungen auf ein „geheimes Gesetz“ hin. „Sehen wir immerfort nur das Geregelte, so denken wir, es müsse so sein, von jeher sei es also bestimmt und deswegen stationair. Sehen wir aber die Abweichungen, Mißbildungen, ungeheure Mißgestalten, so erkennen wir: daß die Regel zwar fest und ewig, aber zugleich lebendig sei […].“ (MA 18.2, 522)
38 Vgl. Kiefer: „Mit dem Gürtel, mit dem Schleier...“ – Semiotik der Enthüllung bei Schiller, Fontane und Picasso, in: ders.: Die Lust der Interpretation – Praxisbeispiele von der Antike bis zur Gegenwart, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2011, S. 127-145 u. Kiefer: „Le Corancan“ ‒ Sprechende Beine, ersch. in: Image. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft u. in Kodikas/Code, Bd. 35.1-2 (2012).
39 Auch Goethe kannte z.B. nicht alle Bezeichnungen für die Kleidungsstücke, Accessoires etc., die er auf den Stichen gesehen hat; s. Jacques Ruppert u.a.: Le costume français, Paris: Flammarion 1996 (Tout l’art. Encyclopédie) u. Ingrid Loscheck: Reclams Mode- und Kostümlexikon, Stuttgart: Reclam 1994 (3., rev. u. erw. Aufl.).
40 François Furet: Bonaparte, in: ders. u. Mona Ozouf: Dictionnaire critique de la Révolution française, Paris: Flammarion 1988, S. 216-228, hier S. 219.
41 S. François Gendron: La jeunesse sous Thermidor, Vorw. v. Pierre Chaunu, Paris: PUF 1983.
42 Im Anschluß an die Geistsche Handschrift der „Recension“ findet sich unter dem Datum „Franckf. d. 24. Aug. 1797“ von Goethes Hand ohne Bezug auf Schiller folgende Notiz: „Die einzelnen Beschreibungen der franz. satyrischen Kupfer können mit einigem Aufwand von Kunst ganz interessant werden denn da sie meist den Gedanken was sagen, witzig symbolisch allegorisch sind; so stellen sie sich der Imagination oft eben so gut und noch besser dar als dem Auge und wenn man eine so große Masse überschauen kann so lassen sich über franz. Geist und Kunst im allgemeinen recht artige Bemerkungen machen und dabei das einzelne wenn man auch nicht lichtenbergisieren kann noch will läßt sich doch immer heiter und munter genug stellen.“
43 Goethe hatte viel weniger Einblick in die Pariser Szene als etwa Lichtenberg in englische Verhältnisse; s. Georg Christoph Lichtenberg: Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, in: ders.: Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies, München: Hanser 1972, Bd. 3: Aufsätze, Entwürfe, Gedichte […], S. 657-1060, Komm. zu Bd. 3 (1974), S. 318ff.
44 S. Antoine de Baecque: La caricature révolutionnaire, Paris: Presses du CNRS 1988 u. Claude Langlois: La caricature contre-révolutionnaire, Paris: Presses du CNRS 1988. Stilgeschichtlich am ältesten wirkt in Goethes Auswahl Nr. 11.
45 Jürgen Link: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis, München: Fink 1985 (3., unveränd. Auf.), S. 177.
46 Vgl. Kiefer: Interaktion – Abduktion – Transgression. Zur Semiotik der literarischen Interpretation in Schule und Hochschule, in: Wirkendes Wort, Jg. 57 (2007), H. 1, S. 79-96.
47 Bernd Bornemann: Theorie der Karikatur, in: Karikaturen – Karikaturen? Kat. Kunsthaus Zürich 16. September - 19. November 1972, hg. v. Felix Andreas Baumann, Bern: Benteli 1972, S. 5-23, hier S. 12.
48 Vgl. Charles Baudelaire: Le peintre de la vie moderne, in: ders.: Œuvres complètes, 2 Bde., m. Einl. u. Anm. hg. v. Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975 u. 1976, Bd. 2, S. 683-724, hier S. 695: „La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent [...].“
49 Charles Baudelaire: Quelques caricaturistes français, in: ders.: Œuvres complètes, 2 Bde., m. Einl. u. Anm. hg. v. Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975 u. 1976, Bd. 2, S. 544-574, hier S. 544.
50 In diesem Sinne lobt Goethe in Nr. 27 die von Caravaggio schon „so schön ausgeführte“ „Idee“, die der Stich aber schlecht realisiert.
51 Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, S. 18, Nr. 17. Mercier (Le Nouveau Paris, S. 421) sieht nur „une femme courant à cheval, et dont la chevelure et le chapeau s’envolent à la fois.“
52 Die Formulierung ist Voltaires wenig schmeichelhafter Briefkommentar auf Rousseaus „Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes“ am 30. August 1755: „il prend envie de marcher à quatre pattes quand on lit votre ouvrage.“
53 Johann Georg Heinzmann: Meine Frühstunden in Paris. Beobachtungen, Anmerkungen und Wünsche Frankreich und die Revolution betreffend. Nebst Fragment einer kleinen Schweizer Reise, Basel: Selbstvlg. 1800, S. 30.
54 Vgl. Ludwig Börne: Briefe aus Paris. Nebst einer Charakteristik seines Lebens und Wirkens, New York: Deutsche Verl.-Anstalt (L. Hauser) 1858, Bd. 1, S. 246.
55 Mercier: Le Nouveau Paris, S. 342.
56 Dieter Borchmeyer: Die Weimarer Klassik. Eine Einführung, 2 Bde., Königstein/Ts.: Athäneum 1980, Bd. 2, S. 187.
57 Carl Einstein: Nachruf: 1832-1932, in: ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 3: 1929-1940, S. 602-611, hier S. 602; das verlorene Original wurde von Eugene Jolas unter dem Titel „Obituary: 1832-1932“ für „Transition. An International Workshop for Orphic Creation, Nr. 21 (1932), S. 207-214 ins Englische übersetzt; hier lautete das Zitat: „He [Goethe] was in every respect the type of the Directoire and, as such, worshiped servilely Napoleon’s restoration of culture.“ (S. 207)
58 Vgl. Baudelaire: Le peintre de la vie moderne, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 683-724, hier S. 695: „La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent [...].“
59 Selbst bei den beiden unauffindbaren Stichen (Nr. 44 u. Nr. 55) sind die Angaben exakt. 
60 Bei Nr. 1 ist die „nürnbergerartige“ Illuminierung eigens vermerkt, ansonsten sind Farben kaum ewähnt (vgl. Nr. 31).
61 Vgl. das Personenregister in: Bibliothèque nationale: Images de la Révolution française. Catalogue du vidéodisque, S. 59-158 u. in: Jean Tulard, Jean-François Fayard, Alfred Fierro: Histoire et dictionnaire de la Révolution française 1789-1799, Paris: Laffont 1987, S. 503-1147; für die Belange des Kuferstichs s. André Béguin: Lexikon wichtiger Fachausdrücke, übers. v. Ursula Vogt, in: Michel Melot u.a.: Die Graphik. Entwicklungen ‒ Stilformen ‒ Funktion

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II. Text ‒ Bild ‒ Kommentar

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Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche.

Sie sind gerichtet gegen
    I. Fremde
       a.) England. [Nr. 1-2]
       b.) Den Papst. [Nr. 3-9]
       c.) Oesterreich. [Nr. 10]
    II. Einheimische
       a.) Schreckensreich [Nr. 11-12]
       b.) Modefratzen.
            1.) In ihrer Albernheit dar und gegen einander gestellt.
                 [Nr. 13-32]
            2.) Paarweis in galanten und leidenschafftlichen Verhältnissen
                  untereinander. [Nr. 33-38]
            3.) In Verhältnissen zu veralteten Fratzen. [Nr. 39-40]
            4.) In Finanz oder anderen politischen Verhältnissen. [Nr. 41-53]
       c.) Gegen Künstlerfeinde. [Nr. 54-55]

I. Gegen Fremde.
   a.) England.

[Nr. 1]

Depart de l’Ambassade Anglaise.

Leicht und nicht ungeschickt radirt und nürnbergerartig illuminirt. Ein Esel macht sich unwillig aus einem Kreise los, der ihn umgiebt um Abschied zu nehmen. Journalisten, Truthühner und rojalistische Soldaten, nehmen verschiedenen Antheil an seiner Abreise; am lebhaftesten aber sind einige beschäfftigt, welche die Guineen die er fahren läßt auflesen und in ihre Hüte sammeln. Ein symbolisches Calais und Dower werden durch einen engen Kanal getrennt, an dessen Ufer Curire unsinnig wider einander rennen.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Depart de l’Ambassade Anglaise

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution. Depart de l'ambassade anglaise

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DEPART DE L’AMBASSADE ANGLAISE.

Un Ambassadeur très-celèbre, dont l’etimologie du nom anglais signifie MAUVAISE BOURIQUE, se retire marqué du signe de LA CROIX inéfacable. Les Grands du Royaume des Incroyables supplient très humblement son excellence et ses Conseillers d’ambassade, d’accepter gracieusement quelques journeaux qu’elle a le plus agrées en France. L’Ambassadeur en colere leur montre les dents et leur dit Vous avés gauchement publié mes instructions et devoilé mes intrigues. Si vous ne faites mieux je m’adresserai à d’autres. II lache en mème tems quelques Guinées que des folliculaires très-connus, en se battant ramassent. C’est ainsi qu’en se quittant ils se font les adieux. Des Couriers précurseurs vont annoncer à Pitt que ses guinées sont prodiguées en pure perte et que la Belgique &c. &c. &c. vaut mieux pour la France que Pondicheri et S.te Lucie… en attendant, les vainqueurs de Quiberon disent: Ce qui est bon a prendre est bon a garder.

[Texte im Bild von links nach rechts]
Renvoyés nous donc les Barons, Comtes, Marquis, Ducs et Pairs et les restes des bouches inutiles et Couteuses que vous gardés à Londres. Honni soit qui mal y pense. Satire contre la République. Ultimatum. Eloge de Malmesbury. Projet de Monarchie.

Radierung; schwarz-weiß u. koloriert; Platte 36,4 x 52,5; Bild 31,9 x 49,1; anonym; Rue du Théâtre-Français n° 4 [François Bonneville]; nach dem 20. Dezember 1796; Bibliothèque nationale (schwarz-weiß) bzw. British Museum (koloriert).

Goethe hat sich nicht in die Allegorese des politischen Stichs vertieft; er beschreibt ihn rein äußerlich, klassifiziert ihn allerdings richtig ‒ was nicht schwer war ‒ als englandfeindlich. Über die Vorgeschichte der erst spanischen, dann österreichischen Niederlande war er dank seiner „Egmont“-Studien wohl im Bilde. Nach zweijährigen Kämpfen hatte die französische Armee 1794 die österreichischen Niederlande und das Gebiet des heutigen Belgien annektiert, was dann im Frieden von Campo Formio am 17. Oktober 1797, also nach Goethes „Recension“, seitens des Habsburgerreiches akzeptiert wurde. Indessen musste Großbritannien die Besetzung der strategisch und ökonomisch wichtigen Schelde-Mündung als Bedrohung empfinden. Obwohl Frankreich England am 1. Februar 1793 den Krieg erklärte, ließ sich der englische Regierungschef William Pitt auf Verhandlungen ein. 1796 entsandte er James Harris of Malmesbury (1) nach Paris, um der Republik für den Rückzug aus Belgien eine Entschädigung durch Kolonialgebiete anzubieten, die man zuvor Frankreich abgenommen hatte (2). Der Gesandte verfügte allerding über keinerlei Vollmacht, was ihm einen beschwerlichen und blamablen Kurierdienst zwischen Paris und London aufnötigte (3). Nicht zuletzt wegen seiner konterrevolutionären Intrigen wurde Malmesbury am 20. Dezember 1796 vom amtierenden französischen Außenminister Charles Delacroix als persona non grata des Landes verwiesen.

Vor diesem Hintergrund ist nun der Stich zu interpretieren. Im oberen Viertel findet sich der Ärmelkanal mit den beiden gegenüberliegenden Städten Calais und Dover. Malmesburys Kuriere reiten dem Strand zu, wo ein Schiff auf sie wartet, ein zweites ist schon unterwegs. Die zentrale Figur ist der Esel Malmesbury, der von einem Kreuz (Delacroix > Kreuz) gezeichnet ist. Auf seinem linken Hinterbacken klebt die Aufschrift „Ultimatum“. Über seinem linken Vorderbein hängt ein Spruchband „Honni soit qui mal y pense“, Devise des englischen Hosenbandordens und Bestandteil des Wappens des United Kingdom. Der „schlimme Esel“ („mauvaise bourique“) ‒ die Etymologie ist reine Erfindung ‒ wendet sich, schon auf der Abreise begriffen (départ), unwillig zurück, wird aber von zwei französischen Soldaten (links) bedroht (diese sind, anders als von Goethe angegeben, keineswegs royalistisch). Die Sprechblase des einen lautet: „Renvoyés nous donc les Barons, Comtes, Marquis, Ducs et Pairs et les restes des bouches inutiles et Couteuses que vous gardés à Londres.“ Als eine Art Goldesel hinterlässt Malmesbury Guineen, um die sich zwei probritische Journalisten, deren Namen mit „Pein“ und „Pierre Lagarde“ überliefert sind, streiten. Der eine, der einen Hut unterhält und ein „projet de Monarchie“ in der Tasche hat, schlägt dem anderen, dem wiederum eine „Satire contre la République“ aus der Manteltasche ragt, einen Wischmopp auf den Kopf. Ein Dritter, durch Beffchen (< lat. biffa „Halsbinde“) als Kleriker ausgewiesen und daher als Charles Maurice de Talleyrand-Perigord zu identifizieren (4), macht sich mit eingesammelten Goldstücken davon. Eine Dreiergruppe anglophiler Incroyables (→ Nr. 13) (5) nebst drei weiteren Karikaturen nähert sich verehrungsvoll von rechts; der vorderste trägt eine „Eloge de Malmesbury“ vor. Malmesburys Mitarbeiter werden als Truthähne dargestellt, die in der Tiersymbolik als sprichwörtlich dumm galten (6).

Goethe nennt den Stich, den er koloriert gesehen hat, „nürnbergerartig illuminirt“, d.h. er wirkt auf ihn wie die populären Nürnberger Bilderbogen, d.h. handkolorierte Einblattdrucke. Farben wie Grün, Rot, Violett u.a. sind nach der Stadt Nürnberg benannt (Nürnberger Grün usw.).

Anmerkungen:

1 Vgl. Catalogue of Prints and Drawings in the British Museum, hg. v. Frederic George Stephens; ab Bd. 5 u. d. T. Catalogue of Political and Personal Satires preserved in the Department of Prints and Drawings in the British Museum, hg. v. Mary Dorothy George, 11 Bde., London 1870-1954, Bd. 7: 1793-1800, S. 281f.; vgl. auch S. 270f.
2 Das im Subtext erwähnte Pondicheri ist eine südostindische Hafenstadt, seit langem ein Zankapfel zwischen französischer und englischer Ostindien-Kompanie, 1793 von Großbritannien annektiert. Sainte-Lucie, engl. Saint Lucia, ist eine ebenso umkämpfte Insel der Kleinen Antillen, definitiv ab 1814 britisch. Der Ortsname Quiberon, eine bretonische Halbinsel, weist auf den Sieg General Hoches über eine mit Unterstützung Großbritanniens angelandete Emigranten-Armee am 22. Juli 1795 hin.
3 Goethe scheint das diplomatische Desaster durch das „unsinnig wider einander rennen“ der Kuriere anzudeuten, was er aus dem Subtext ableiten konnte, denn aus dem Bild selber ist es nicht zu entnehmen.
4 Talleyrand, der 1779 die Priesterweihe erhalten hatte, löste am 16. Juli 1797 Delacroix als Außenminister ab; der Stich muss demnach zwischen dem 20. Dezember 1796 und dem eingangs genannten Datum entstanden sein. Der englandfreundliche Talleyrand galt als politischer „Wendehals“. In seiner diplomatischen Karriere diente er sechs verschiedenen Regierungen. Er hat ein Protokoll von Goethes Begegnung mit Napoléon am 2. Oktober 1808 angefertigt, das von Goethes „Unterredung“ (MA 14, 576ff.) mehrfach abweicht; vgl. Mémoires du Prince de Talleyrand suivis de 135 lettres inédites du Prince de Talleyrand à la Duchesse de Bauffremont (1808-1838). Edition intégrale, hg. v. Emmanuel de Waresquiel, Paris: Laffont 2007, S. 318ff.
5 Alle Details, die „Modefratzen“ betreffend, wie Goethe schreibt, werden vertieft ab Nr. 13 kommentiert.
6 „Etre le dindon de la farce“ = der Dumme sein; vgl. Molières Figur Georges Dandin in seiner gleichnamigen Komödie (→ Nr. 39).

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[Nr. 2]

La Reponse Incroyable.

Eine abscheuliche Figur eines Incroyables wird von einem hagern Projectmacher gefragt wie sie sich befinde; diese antwortet sie wolle sogleich einen Curier abschicken und ihm alsdann Antwort sagen.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, La Reponse Incroyable

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LA REPONSE INCROYABLE.

1. Bon jour Mylord! Je suis charmé de vous voir à Paris, comment vous portez-vous;
2. Je vous suis obligé de votre gracieuse demande, mais ne pouvant répondre de moi-même, je vais dépècher un courier à Londres; et à son retour, je saurai la réponse que je dois vous faire.

Punktierstich; schwarz-weiß u. koloriert; Platte 30,9 x 27,6; Bild 27,2 x 24,9; auch Kopie in Medaillon-Form ("La Réponce Incroyable"); [Jean Baptiste] Gautier; A Paris, chez [François-Jules-Gabriel] Depeuille, rue des Mathurins S.t Jacques, Aux Deux Pilastres d’Or; 2 livres; Journal de Paris, 25. März 1797; Slg. Kiefer, auch Bibliothèque nationale, British Museum, Schloß Friedenstein Gotha.

Auch diesen Stich, obwohl richtig eingeordnet, deutet Goethe wie schon Nr. 1 falsch. Er ordnet hier Rede und Gegenrede unzutreffend zu. Es ist Malmesbury, der britische Diplomat, der ‒ altmodisch gekleidet ‒ von einem Incroyable (Delacroix?) nach seinem Befinden gefragt wird und der zur Beantwortung dieser schlichtesten Frage seinen Chef, Pitt, um Weisung bitten muss: eine Reaktion, die man in Paris „kaum für möglich“ halten mochte. Der epochaltypische Incroyable (→ Nr. 3, 13, 42) repräsentiert hier das Directoire. Den Stich gibt es auch seitenverkehrt in rund („La Réponce incroyable“).

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b.) Gegen den Papst.

[Nr. 3]

Avant Garde du Pape / ou l’incroyable à rome

Gezeichnet gestochen und illuminirt wie das Vorhergehende, ein hagrer elender Officier geht vor 4 verlumpten jämmerlichen Soldaten voraus an die sich ein Incroyabel mit einem kleinen Sonnenschirm unmittelbar anschließt

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution

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AVANT GARDE DU PAPE. / ou l’incroiable à rome.

Radierung; Platte 21,6 x 33,6; Bild 20,1 x 32,9, anonym; 15 sous; nach dem 3. Februar 1797; Bibliothèque nationale, auch British Museum.

Spottbild auf die päpstliche Armee. Am 3. Februar 1797, einen Tag nach der Kapitulation von Mantua und der Einnahme von Faenza, erhält Napoléon Bonaparte, seit dem 2. März 1796 Oberbefehlshaber der Italienarmee, vom Directoire den Auftrag, den Vatikan zu unterwerfen. Was der Incroyable mit Sonnenschirm im Rücken der päpstlichen Vorhut verloren hat, ist schwer zu bestimmen. Gehört er ‒ zumindest passiv, wie es scheint ‒ dazu oder ist für ihn als Repräsentanten des direktorialen Frankreich (→ Nr. 13) der Feldzug ein Spaziergang? Dem Bildtitel zufolge befindet er sich bereits in Rom ‒ „rome“ vielleicht in satirischer Absicht kleingeschrieben. Jedenfalls kontrastiert seine neumodische Kleidung mit dem zerlumpten Aufzug der ausrückenden „alten“ Macht, und der martialische Säbel des Anführers sowie die Spieße und Bajonette der Truppe kontrastieren mit dem an einem Spieß befestigten „zivilen“ Schirm. Seit Montesquieux’ „Lettres persanes“ ein häufiges Motiv: der „Exot“ in… (z.B. der Engländer in Paris → auch Nr. 39).

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[Nr. 4]

Arriere Garde du Pape. / ou la frayeur du reverend pere caporal.

Ein Gegenstück zum vorigen ein Capuziner mit seinem Trupp läuft gleichsam auf Händen und Füßen und sehen sich erschrocken nach einem jungen schönen Helden um der, indem sie ihm die Fersen weisen, mit entblößten Degen aus einer Dampfwolke hervortritt und seinen noch unsichtbaren Begleiter ihm zu folgen aufmuntert.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Arriere Garde du Pape

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ARRIERE GARDE DU PAPE. / ou la frayeur du reverend pere caporal.

Radierung; auch koloriert; Platte 22,3 x 34,5; Bild 19,6 x 32,4; anonym; 15 sous; nach dem 3. Februar 1797; Bibliothèque nationale, auch British Museum.

Der Korporal (Unteroffizier) ist ein Kapuziner. In diesem Pendant zu Nr. 3 könnte der Incroyable (links außen im Pulverdampf) als General Bonaparte identifiziert werden (→ Nr. 31), der gerne „le petit caporal“ genannt wurde.

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[Nr. 5]

Pie VI éffrayé à la vue de l’Armée / Française fait Pie VII.

Der Papst, indem er die Französischen Truppen jenseits eines Flusses anmarschieren sieht, läßt eine große Masse Wasser gegen einen Prallstein, der am gepflasterten Ufer steht, laufen, sein Kreutz und sein Schirmträger entsetzen sich über sein Schrecken. Schlecht gezeichnet, artig, componirt, sauber gestochen, ein abgeschmackter Calembour mit Pie VII und Pisser.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire auf die Französische Revolution, Pie VI éffrayé à la vue de l’Armée / Française fait Pie VII.

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Pie VI éffrayé à la vue de l’Armée Française fait Pie VII.

Radierung, z.T. in Punktiermanier; Platte 39,3 x 27,7; Bild 32,0 x 24,2; Vionet sculp. A Paris chez l’Auteur, Rue des Bernardins, N 32; 15 sous; nach dem 3. Februar 1797; dépot 16. März 1797; Bibliothèque nationale.

Spottbild auf Papst Pius VI., der beim Anmarsch der französischen Armee vor Angst einem „besoin naturel“ ‒ so der Almanach (7) ‒ nachgibt. Das Wortspiel mit „Pie VII“ (Pie sept, das „p“ des Zahlworts nie ausgesprochen, das „t“ hier des Kalauers wegen verschluckt) und „pisser“ (das „r“ nicht ausgesprochen) rührt daher, dass der amtierende Papst zum gegebenen Zeitpunkt hochbetagt war und man täglich mit seinem Ableben rechnete. Der Witz wurde in der Tat Wirklichkeit, allerdings erst 1800, als Pius VII., der sich bei seinem Namen vermutlich nichts gedacht hat, die Nachfolge auf dem sog. Stuhl Petri antrat. Der Fluss ist der Senio bei Faenza, auf dessen Festung bereits die Trikolore weht (die französische Fahne wurde erst am 10. Februar 1798 auf die Engelsburg „gepflanzt“).

Anmerkungen:

7 Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, S. 37. Im Fließtext im Folgenden immer „Almanach“ genannt.

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[Nr. 6]

Départ de L’etat Major du pape.

Allerley Caricaturen von bewaffneten Geistlichen leicht und characteristisch aber ohne Sinn für Composition.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Départ de L’etat Major du pape

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Départ de L’état Major du pape.

Radierung; auch koloriert; Platte 26,0 x 38,8; Bild 23,0 x 36,0; anonym; 15 sous; nach dem 3. Februar 1797; Bibliothèque nationale.

Wie Nr. 3-5; die martialisch ausstaffierten Kleriker werden insbesondere durch ihre difforme Physiognomie karikiert. Wohin der „Aufbruch“ geht, ist unklar.

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[Nr. 7]

Le Traité de paix avec Rome.

Ein mächtiger Hahn mit großen Sporn an den Füßen steht vor einem alten aufrechtsitzenden Kater, der mit der rechten Pfote eine Krücke die linke aber in der Luft hält, er hat die dreyfache Krone auf dem Haupt; unten steht Baisez ça Papa, et faite pate de velours.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Le Traité de paix avec Rome

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LE TRAITÉ DE PAIX AVEC ROME. / Baisez ça Papa, et faites pate de velours!

Punktierstich; Platte (schief) ca. 27 x 32,7; Bild 23,3 x 29,9; auch kleinere Version; anonym; A Paris, chez tous les M.ds de Nouveautés; 2 livres; nach dem 19. Februar 1797; Bibliothèque nationale, auch British Museum.

Am 19. Februar 1797 wurde Pius VI. von Bonaparte zum Friedensvertrag von Tolentino gezwungen. Der gallische Hahn, der eine Zuchtrute hält, repräsentiert den General, der alte von der Tiara gekrönte Kater den Papst. Wenn der Kater die rechte Pfote ausstreckte, wäre es wahrscheinlicher, dass er dem Hahn den sog. Fischerring (der allerdings nicht zu sehen ist) zum Kuss geboten hat. Das „Baisez ça“ des Hahns stellte in diesem Falle eine scharfe „correctio“ dar. Es ist allerding möglich, dass der Künstler gar nicht wusste, wo der Papstring sitzt (zumal bei einem Kater) und er nur die signifikante Geste zeigen wollte. Als „Buße“ musste der Papst jedenfalls 30 Millionen Livres zahlen, die, da die Kasse leer war, in zahlreichen Kunstgegenständen (Statuen, Gemälde, Bücher, Manuskripten etc.) zu entrichten waren. Es ist nicht nachweisbar, ob Goethe von diesem „Strafgericht“, von dem Karl Ludwig Fernow wohl Mitte 1797 im „Neuen Teutschen Merkur“ berichtet (8), schon wusste, als er die französischen Stiche rezensierte. Allerdings hatte ihn Heinrich Meyer schon im Jahr zuvor in mehreren Briefen, zuletzt nachdrücklich ‒ „“was sagen Sie dazu?“ (9) ‒ am 18. September auf den Kunstraub aufmerksam gemacht (10).

Der gigantische Napoleonische Kunstraub nicht nur in Italien (11), an dem sich aber auch alle Generäle, Kommissare, Soldaten etc. im expliziten Auftrag des Direktoriums (12) beteiligten und bereicherten, scheint Goethe jedenfalls nicht sehr tangiert zu haben. Obwohl er seine „Recension“ mit einem Kapitel über „Künstlerfeinde“ abrundet, bleibt sein Kommentar zu den drei Stichen, die ihn mehr oder weniger direkt mit dem Thema konfrontierten (Nr. 7-9), unpolitisch bzw. unpatriotisch und rein antiklerikal (→ Nr. 9), letzteres eine Haltung, die er schon auf seiner italienischen Reise an den Tag legte (MA 15, 49 u.ö.). Wahrscheinlich lagen in der rezensierten Sammlung auch gar keine kritischen Stiche vor (13). In Frankreich gab es nur wenige Gegenstimmen gegen die Ausplünderung der „befreiten“ Länder. Rom galt ohnehin als Hort des Aberglaubens, und man versprach sich von dem geplanten Museum der „Weltkunst“ „wichtige Folgen“ (MA 6.2, 26), wie sie auch Goethe von dem neuen sich in Paris bildenden „idealen Kunstkörper“ (ebd.) (14) erhofft. Friedrich Schiller u.a. dagegen agitieren gegen den „Vandalismus der Franzosen“ (MA 8.1, 503).

Anmerkungen:

8 Karl Ludwig Fernow: Auszüge aus Briefen. Ausländische Korrespondenz, Nr. 3: Rom den 7. April 1797, in: Der neue Teutsche Merkur, Bd. 2 (1797), S. 80-82, hier S. 80; vgl. S. 81: „Der größte Theil der Statuen ist bereits eingepackt und mehrere sind wirklich schon hinweggeführt. Das Museum Klementinum scheint jetzt nur ein große Tischlerwerkstatt zu seyn, und die leeren Piedestalle und Wände in diesem prächtigen Tempel der Kunst gewähren einen traurigen Anblick.“ Dass auch die Laokoongruppe den Weg nach Paris ins spätere „Musée Napoléon“ anzutreten hatte, müsste Goethe spätestens mit Aloys Ludwig Hirt Anfang Juli 1997, der den Anstoß zu Goethes Studie „Über Laokoon“ (MA 4.2, 73ff.) gab, diskutiert haben. In seiner Studie nichts davon; lediglich im Briefwechsel mit Schiller (17. Januar 1798) drückt er seine Besorgnis darüber aus, dass die Skulptur auch „glücklich“ nach Paris transportiert und aufgestellt werde.
9 Heinrich Meyer an Goethe, 18. September 1796, in: Goethes Briefwechsel mit Heinrich Meyer, hg. v. Max Hecker, Weimar: Vlg. d. Goethe-Gesellschaft 1917 (Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 32), Bd. 1, S. 337-345, hier S. 345.
10 Vgl. Karl August Böttiger: Über die von den Franzosen angezeichneten, aber noch nicht entführten Kunstwerke in Rom und im Kirchenstaat, in: Journal des Luxus und der Moden, Jg. 11 (November 1796), S. 560-567.
11 Im Namen des „patrimoine libéré“ ‒ zurecht ersetzt Bénédicte Savoy den Euphemismus „libéré“ mit „annexé“ ‒ plünderten die Franzosen sämtliche „befreiten“ Länder, insbesondere (das heutige) Belgien, Deutschland und Italien, um das europäische Kulturerbe der neuen Kulturhauptstadt Paris einzuverleiben; s. Bénédicte Savoy: Patrimoine annexé. Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800, 2 Bde., Paris: Ed. de la Maison des sciences de l’homme 2003 (Passages/Passagen, Bd. 5).
12 Der doppelzüngige, zwischen Gier und Verblendung oszillierende Auftrag des Direktoriums vom 7. Mai 1796 an Bonaparte wurde von Lazare Nicolas Carnot ausgefertigt: „Le Directoire exécutif est persuadé, citoyen général, que vous regardez la gloire des beaux arts comme attachée à celle de l’armée que vous commandez. L’Italie leur doit en grande partie ses richesses et son illustration; mais le temps est arrivé où leur règne doit passer en France pour affermir et embellir celui de la liberté. Le Muséum national doit renfermer les monumens les plus célèbres de tous les arts, et vous ne négligerez pas de l’enrichir de ceux qu’il attend des conquêtes actuelles de l’armée d’Italie, et de celles qui lui sont encore réservées. Cette glorieuse campagne, en mettant la république en mesure de donner la paix à ses ennemis, doit encore réparer les ravages du vandalisme [après 1789] dans son sein, et joindre à l’éclat des trophées militaires le charme des arts bienfaisans et consolateurs. / Le Directoire exécutif vous invite donc, citoyen général, à choisir un ou plusieurs artistes, destinés à rechercher, à recueillir et à faire transporter à Paris les objets de ce genre les plus précieux, et à donner des ordres précis pour l’exécution éclairée de ces dispositions, dont il désire que vous lui rendiez compte.“ (Correspondance inédite officielle et confidentielle de Napoléon Bonaparte: avec les cours étrangères, les princes, les ministres et les généraux français et étrangers, en Italie, en Allemagne et en Egypte, hg. v. Charles-Théodore Beauvais de Préau, Paris: Panckoucke 1819, S. 155f.).
13 Vgl. die wohl aus der Zeit des Empire stammende Aquatinta: „‘Eh bien, Messieurs! ‒ deux millions!’, declare Napoléon en désignant l’Apollon du Belvédère à un groupe de personnages massés dans la galerie des antiques au Louvre“ (De Vinck, 6936), die allerdings eher das devote Publikum kritisiert als den großsprecherichen Kaiser.
14 Dieser „ideale Kunstkörper“ in kosmopolitischer Absicht steht für Goethe unzweifelhaft höher als der zerstückelte lokale „Kunstkörper“ Italien. Er bleibt in herzlicher Freundschaft dem Direktor des Musée Napoléon, Dominique-Vivant Denon, dem „Auge Napoléons“, verbunden, den er 1790 in Venedig kennen gelernt hatte. Als Napoléon 1806 in Weimar weilte, wohnte Denon, der die im Herzogtum beschlagnahmten Gemälde zu begutachten hatte, in Goethes Haus. In seiner „Unterredung mit Napoléon“ 1808 im Erfurter Statthalterpalais registriert Goethe nahezu emotionslos, dass alle „Portraite an den Wänden“ (MA 14, 579) verschwunden waren.

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[Nr. 8]

La Paix Papale

Ein disproportionirt starker Löwe mit dem Federbusch und der Nationalcocarde auf dem Haupte, mit einer Geisel in der rechten Vordertatze sitzt vor einem dreifachgekrönten Fuchs, der auf zwey Stelzen gelehnt auf zwey Beinen gegenüber steht, sowohl dieser als sehr viel andere Füchse mit Cardinalshüten sind sämmtlich ihrer Schwänze beraubt, welche nun alle vor dem Löwen theils in einem Haufen theils zerstreut umherliegen

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, La Paix Papale

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LA PAIX PAPALE

Enfin les Renards ont laissé leurs queues! La tricherie en revient toujours à son maitre.

Radierung, z. T. in Punktiermanier; auch koloriert; Platte 26,8 x 32,3; Bild 22,9 x 30,0; anonym; A Paris chez tous les Marchands de Nouveautés; 2 livres, 2 sous; nach dem 19. Februar 1797; Bibliothèque nationale, auch British Museum.

Wie Nr. 7 eine Anspielung auf den Friedensvertrag von Tolentino. Das Fabelmotiv vom „verlorenen“ Schwanz (vgl. La Fontaine: „Le renard ayant la queue coupée“) wird hier auf die als Füchse dargestellten Kurienkardinäle angewandt. Im Vordergrund mit Tiara der gebrechliche Pius VI., der dominante Löwe ist Bonaparte.

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[Nr. 9]

Notre Dame de Lorette.

Gehört kaum in diese Sammlung es ist eine, wahrscheinlich aus einem alten Buche copirte Abbildung der Mutter Gottes, des heiligen Hauses und Geschirres.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Notre Dame de Lorette

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NOTRE DAME DE LORETTE / Envoyée à Paris par le Général en chef Buonaparte.

[Text unter dem Bildzeugen]
Les ravages que les Turcs et les Sarrazins commettaient journellement par toute la terre sainte donnerent lieu, à ce que l’on dit à la translation que les anges firent de cette maison de la vierge, de Nazareth en Dalmatie, ils la portèrent sur une petite montagne appelée Tersatta, le 10 mai 1291; elle n’y demeura que trois ans et 7 mois; au bout de ce terme, les anges l’enleverent encore et la porterent au milieu d’une foret dans le territoire de Recanadi, qui appartenait à une dame devote appelée Laurette, aprs que cette maison eût été la huit mois, eile s’y déplût, à cause des vols et brigandages qui se commettaient dans les environs, elle fut donc transportée pour la 3.eme fois sur la montagne où fut depuis bâtie la ville, nommée Lorette; mais il s’éleva de grandes contestations entre deux frères à qui la terre appartenait, chacun voulant l’avoir dans son lot; cela fut cause que quatre mois après les anges l’enlevèrent de nouveau, et la placèrent à quelques pas de là, au milieu du grand chemin, ou elle est encore, on y a bâti une magnifique église, dont elle occupe le centre à l’abri de toute insulte. Pour la conserver encore plus précieusement, on a depuis élevé quatres murs qui l’environnent, sans toute fois la toucher; quelques croyans disent même que les pierres reculaient avec violence, et blessaient les ouvriers, lors qu’ils voulaient les joindre a ce bâtiment sacré. / Cette S.te maison est une grande chambre voutée, aiant la forme d’un carré long, d’un peu plus de 30 pieds sur 15 de large et 18 de haut, le tout bâti en briques, sur lesquelles on voit encore quelques fragments de vielles peintures noircies par la fumée de plusieurs lampes, les anges ayant laissé le pavé à Nazareth, on en fit un nouveau forme de carreaux de marbre blanc et rouge.

[Texte im Bild oben]
Vielle robe de camelot de laine noire, que l’on dit avoir servi à la Vierge.

Cette image de la Vierge, haute de 4 pieds, est de bois de Cêdre, sculptée, à ce que l’on dit, par S.t Luc; cette figure est couverte d’une robe garnie d’or et de pierreries.

Trois Ecuelles ébrechées de mauvaise fayance, qui dit-on, ont fait partie de son ménage.

[Auf der Kiste links]
Pour Paris. Procès Verbal ce 26 Pluviose an 5.eme

[Zwischentitel]
Vûe intérieure des quatre côtés de la santa casa ou maison de la Vierge.

[Texte im Bild unten]
Orient [:] 1. Niche où était l’image. 2. Armoire où l’on garde les anciens ornemens. 3. Autel que l’on dit avoir été bâti par les apôtres: et la pierre de dessus ou S.t Pierre a dit sa 1.ere messe; derriere est la cheminée. / Midi [:] 4. La porte du lieu qu’on appelle le sanctuaire. 5. Premiere porte de la S.a Casa. 6. Bénitier. / Occident [:] 7. Fenêtre où l’on dit que l’ange passa. 8. Croix de bois qui fut dit on apportée en même temps que la maison. / Nord [:] 9. Seconde porte de la Santa Casa. 10. Pierre qui aiant été dérobée revint a ce que l’on dit, toute seule. 11. Armoire où étaient les Ecuelles.

[Unter dem Bild links]
Dessiné sur les lieux.

Radierung, koloriert; Platte 41,2 x 29,7; Bild 39,5 (mit Text) x 25,2; anonym; [Jean Antoine?] Pierron Imp. r. Montfaucon, 1, Paris / à Paris chez Troude Md d’Estampes, rue Bonaparte N° 7; nach dem 14. Februar 1797; Bibliothèque nationale.

Loreto ist einer der bedeutendsten Marienwallfahrtsorte Italiens, ohne Zweifel ein Ort des krassesten Wunderglaubens des Katholizismus (was nicht ausschließt, dass bedeutende Künstler wie Caravaggio, Raphaël, Perugino u.a. die Madonna di Loreto verherrlichten). Der „unglaubliche“ Transport der Santa Casa wird im Subtext ausführlich beschrieben. Nichtsdestotrotz waren die Kunstwerte, die in Loreto angehäuft waren, beträchtlich. Das finanzschwache Directoire fühlte sich umso mehr berechtigt, die Plünderung des Doms anzuordnen, als dadurch eine Kultstätte des Fanatismus und Aberglaubens zerstört würde. Teile der Beute wurden am 15. Februar 1797 nach Paris geschickt.

Entgegen Goethes Ansicht gehört der Stich doch zur antiklerikalen Satire, wenn auch hier ein anderes Verfahren als bei allen anderen Stichen, nämlich das des entlarvenden Zitats, gewählt wird. Es finden sich etliche Ironiesignale (inquit-Formeln etc. wie überhaupt die Hyperbolik der Schilderung). Der „frömmelnde“ Begleittext mag tatsächlich aus einer authentischen Devotionale stammen.

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c.) Gegen die Oesterreicher.

[Nr. 10]

Les Impossibles / Journal de Francfort No. 124.

Ein General in kurzen Weiberkleidern, dem ein Hund unten an den Rock pisst, zeigt die gedachte Nummer des Journals von Frankfurth einem jungen Krieger vor, den ein paar Orden, die er trägt bezeichnen, er deutet auf das gedachte Blatt indem er seine um ihn herumstehenden Officiere darauf aufmerksam macht. Sie nehmen alle mehr oder weniger Antheil daran, ein Husaren Officier ist der gleichgültigste, ein andrer äußerst magrer der hinter ihm steht, frißt ein Exemplar desselbigen Blatts mit verzweifelter Gebärde, ein Adjutant hinter dem verkleideten General passt mit dem Blatt auf dem Knie und der Feder in der Hand äußerst auf, was etwa niederzuschreiben seyn möchte. Das Blatt ist mit Verstand und Charakter radirt; ich zweifle aber sehr daß es in Frankreich gestochen sey

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Les Impossibles / Journal de Francfort No. 124

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Radierung, koloriert; Platte 25,7 x 33,1; Bild: 20,8 (mit Titel 24,2) x 30,5 cm; signiert (rechts unten): Bergen; Historisches Museum Frankfurt (Photo: Horst Ziegenfusz).

Der Stich gibt nicht nur Goethe Rätsel auf (15), vor allem deswegen, weil eine Nr. 124 des „Journal de Francfort“ sowohl 1796 als auch 1797 erschien und beide Ausgaben nichts Erhellendes zur dargestellten Szene beitragen. Am 3. Mai 1796 enthält das Blatt einen Brief des „général en chef Buonaparte“ vom 15. April des Jahres, in dem er (wie so oft) vom siegreichen Verlauf des Italienfeldzugs berichtet. Am 4. Mai 1797 meldet die Zeitung aus Paris, den 24. April des Jahres, dass Bonaparte ‒ zu welchem Preis auch immer ‒ „une descente en Angleterre“ plane ‒ die dann doch abgesagt wurde. Goethe, der auf der Aquatinta Nr. 31 Bonaparte erkennt, identifiziert ihn hier, in Nr. 10, nicht, obwohl kein anderer als er im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dürfte. Die Ähnlichkeit ist aber in der Tat geringer als in Nr. 31. Aber warum trägt die Figur „Weiberkleider“ (16) ‒ die einer Dienstmagd, die Haube (→ Nr. 32) freilich der Jakobinermütze angenähert? Warum pisst ihr ‒ despektierlich ‒ ein Hund ans Bein? Warum zeigt sie das „Journal de Francfort“ vor ‒ was die sieben Offiziere, die anhand ihrer Uniformen sowohl der österreichischen als auch der britischen Armee zuzuordnen, (17) dabei zum Teil auch individuell charakterisiert sind, auf unterschiedliche Weise quittieren: ungläubig, achselzuckend, erheitert, ja überheblich; der eine fasst sich an die Nase, ein anderer verschlingt das Journal aus Furcht oder Verachtung? Erfahren sie von den Invasionsplänen erst aus der Zeitung? Der Plural weist den Haupttitel des Stiches, „Les Impossibles“, als Attribut der Gruppe zu. Warum? Wenn der Stich schon nicht aus Frankreich stammte, wie Goethe wohl richtig vermutet, ist er dann überhaupt „gegen die Österreicher“ gerichtet? Thematisiert die Ortsangabe „Londres“ nicht vielmehr die geplante Invasion der Insel? Der Stich könnte ebenso gut gegen Bonaparte gerichtet sein.

Anmerkungen:

15 Weitere Angaben zur Entdeckungsgeschichte s. Kiefer: Goethe und die postrevolutionäre Bildsatire, S. 311.
16 Die „paar Orden“, die Goethe an der Figur sieht, kann ich nicht erkennen.
17 Figur 5 von links (die auf das „Journal de Francfort“ deutet) kann des Kreuzes aus Eichenblättern wegen (auf dem Hut) als Österreicher identifiziert werden und könnte Erzherzog Karl darstellen (seines länglichen Gesichts wegen). Ebenso gehört der Ulanen-General, den Goethe auch als einzigen benennt (als „Husar“) seiner polnischen Kopfbedeckung, „Czapka“ genannt, wegen eindeutig ins Habsburgerreich. Die drei linken Figuren, deren Mimik das Wichtigste ist, scheinen Briten zu sein (des Kragenspiegels wegen). Der „Schreiber“ gehört seiner Uniform zufolge der britischen Gruppe zu. Seine ausgeprägte Nasenspitze ‒ Karikaturisten interessieren sich immer für die Nasenform ‒ findet sich auch bei William Pitt, dem britischen Premiermister. Der Zweispitz der Briten und Österreicher war im Unterschied zum „bicorne“ der Franzosen mit einen hellen Band eingefasst, was bei vier Hutträgern ersichtlich ist. ‒ Man sollte im übrigen nicht meinen, es habe nur im zivilen Leben „Modenarren“ gegeben, es gab und gibt sie auch beim Militär. Vgl. Digby Smith u. Mitarb. v. Jeremy Black: An Illustrated Encyclopedia of Uniforms of the Napoleonic Wars. An expert, in-depth guide to the officers and soldiers of the Revolutionary and Napoleonic period, 1792-1815, London: Lorenz 2008 (2. Aufl.).

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II. Gegen Einheimische.
a.) Gegen das alte Schreckensreich.

[Nr. 11]

Antre du Crime.

Ein Curier der Todesbefehle bringt, kommt auf einem ausschlagenden Esel zur Hölle und rennt dem Teufel gerad in eine vorgehaltne Lanze. Durchaus schlecht.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Antre du Crime

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Antre du Crime

Je t’attendrai, Courrier, de ta Clique infernale, Car le tems Est Venu de / punir tes forfaits; Et le Ciel En Courroux ne pardonne jamais …

[weitere Texte im Bild]
ils viendront tous. 
arret de Mort 
feu de file

Radierung, auf gelbgrünem Papier abgezogen; Platte 19,6 x 20,0; Bild 17,4 x 19,5; Laglade le Jeune sculp.; wohl nach 12. November 1794; Musée Carnavalet.

Antijakobinischer, konterrevolutionärer Stich einfachster Machart. Nachdem am 28. Juli 1794 Maximilien Robespierre und zwanzig andere führende Jakobiner hingerichtet worden waren, wurde am 12. November auch der Jakobiner-Klub geschlossen (zur Mitwirkung der „jeunesse dorée“ → Nr. 13); am 23. August 1795 generelles Verbot aller revolutionärer Vereinigungen.

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[Nr. 12]

L’intérieur du Comité Revolutionnaire.

Für mich ein confuses Bild. Die Gefangenen scheinen mit ihren Frauen an der Seite um den Tisch zu sitzen; an der Thüre stehende mit Scherpen, obrigkeitliche Personen, scheinen sie zu verdammen. Soldaten sind im Begriff einen vom Tische wegzunehmen, vorn steht in einem Kästchen Tockaier und andrer Wein hinten an der Wand Marats Büste.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, L’intérieur du Comité Revolutionnaire

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L’INTÉRIEUR DU COMITÉ RÉVOLUTIONNAIRE. / Scène derniere

[Texte im Bild: oben von links nach rechts]
Marat / Mandats d’Arrets / Dénonciations / Scellés / LIBERTÉ OU LA MORT

[Mitte]
Dépôt

[Unten]
Vin de Tokay / Vin de Hongrie / Vin d’Espagne

Aquatinta; Platte 46,9 x 61,0; Bild 43,0 x 59,5; auch verschiedene andere kleinere Kopien; anonym; déposé au Cabinet d’Estampes de la Bibliothèque [undat.] / Se vend à Paris, chez le C.en Boulet, Rue Basse Porte S.t Denis. N° 5; 3 livres; nach dem 27. Mai 1795; Bibliothèque nationale.

Der antijakobinische Stich ist von einem zeitgenössischen Theaterstück Charles-Pierre Ducancels inspiriert: „L’Intérieur des comités révolutionnaires, ou les Aristides modernes“ (18), das 1795 „mit großem Beyfall“ (19) uraufgeführt wurde. Goethe kennt das Stück nicht, obwohl er z.B. mit seinem „Bürgergeneral“ ein ähnlich geartetes antirevolutionäres Gelegenheitsstück verfasst hat, und er berücksichtigt auch nicht den Untertitel „Scène dernière“, der möglicherweise abgeschnitten war. Daher erscheint ihm das Bild „konfus“ ‒ was aber nicht der Fall ist. Gezeigt wird das glückliche Ende (eigentlich die vorvorletzte Szene) der genannten Revolutionskomödie: Das „comité du salut public“, das mit Hilfe von Denunziationen, Verhaftungen und Beschlagnahmen (s. die Aufschrift auf den Kästen rechts oben) seine Schreckensherrschaft errichtet und sich an seinen Opfern bereichert hatte, wird des Betrugs überführt. Beweisstücke, die Tabaksdose in der Hand der weiblichen Figur links, und die Taschenuhr, die eine Amtsperson rechts hochhält, sind gefunden. Die Jakobiner sind an ihren Mützen (20) und „pantalons“ zu erkennen; sie versuchen sich noch am Richtertisch mit den Insignien ihrer Macht (Glocke, Schreibzeug ‒ für die Verurteilungen ‒, Hut und Degen), festzuklammern. 

Louis-Sébastien Mercier lobt das Stück wie den Stich über alles, weil in einem „Bild“ so viel zum Ausdruck komme: „que de choses, dans un si court espace!“ (21) Goethe ahnte z.B. nicht, dass die beschlagnahmten Weinflaschen, die er als „Tockaier“ identifiziert, ein verdächtiges Etikett tragen: „Vin de Hongrie“ sowie „Vin d’Espagne“. Damit konnte man der Verbindung mit den Feindmächten Österreich-Ungarn und Spanien bezichtigt werden ‒ worauf sich das Komitee das Recht nahm, sowohl den Wein zu beschlagnahmen als auch den Vorbesitzer zu guillotinieren. Auch die im Hintergrund sichtbare Büste Jean-Paul Marats, des radikalen Wortführers der Sansculotten, ist bedeutsam, weil nämlich im Zuge der Depantheonisierung Marats die „jeunesse dorée“ 1795 alle Marat-Büsten, derer sie in Amtstuben, Theatern etc. habhaft werden konnte, zertrümmerte (was das Publikum natürlich wusste).

Anmerkungen:

18 Charles P. Ducancel: L’Intérieur des comités révolutionnaires, ou les Aristides modernes. Comédie en trois actes et en prose, Paris: Barba 1795; vgl. ders.: Esquisses dramatiques du gouvernement révolutionnaire de France aux années 1793, 1794 et 1795, Paris: Bricon 1830, SS.V-18 u. S. 141-159. Ducancel ist nicht der einzige, der sich des Thema des „revolutionären Betrugs“ annimmt; vgl. [Morel]: L’Intérieur d’un comité révolutionnaire ou Les Jacobins, Paris: Imprimerie rue du Bacq 1799/1800; Morel (1783?-1802) ist als „vaudevilliste“ bekannt. Zu „Aristides“ → Nr. 52.
19 Johann Heinrich Daniel Zschokke: Briefe aus Paris an den Herausgeber des T. Merkurs, in: der neue Teutsche Merkur, Bd. 3 (1796), S. 179-192, hier S. 185.
20 Die Figur rechts am Tisch ist dank seiner Fuchsschwanzmütze als Agioteur zu erkennen → Nr. 51.
21 Mercier: Le Nouveau Paris, S. 625.

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b. Modefrazen
   1. In ihrer Albernheit dar und gegen einander gestellt.

[13]

Les Incroyables.

Das bekannte gute Blat nach Vernet. Die kurzröckigen schlüdigen sonderbaren Figuren brauchen wohl nicht beschrieben zu werden.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Les Incroyables

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LES INCROYABLES.

[Auf der Platte des Exemplars der Bibliothèque nationale ist der in Nr. 24 folgende Dialog nicht vorhanden]

Eh! mais, c’est impossible; je le croyais émigré. / Ah! c’est incroyable; voilà La Fleur, mon ci-devant valet.

Punktierstich, z.T. radiert; in verschiedenen Kolorierungen (z.B. Gesichter mit Rötel übermalt); Platte 30,6 x 35,6; Bild 27,9 x 33,5; verschiedene Kopien, → Nr. 24; [Charles-Horace, gen. Carle] Vernet pinx.; [Louis] Darcis sculp.; 3 livres; dépot 26. Dezember 1796; Journal de Paris, 31. Dezember 1796; A Paris, chez l’auteur, rue Montmartre, nos 110 et 98, au coin celle Notre Dame des Victoires; Slg. Kiefer, auch Bibliothèque nationale, British Museum, Schloß Friedenstein Gotha.

Nach einem Vorspiel in Nr. 2, 3 und 10, wo bereits zwei Schlüsselwörter der Epoche fallen, „incroyable“ und „impossible“, beginnt Goethe den aktuellen Teil „Gegen Einheimische“ mit einem „bekannte[n] gute[n] Blat[t] nach Vernet“, das die Bezeichnung „Incroyable“ zum Paradigma erhob ‒ was Louis-Sébastien Mercier bezeugt: „Qui le croirait? l’estampe des incroyables a généralisé les oreilles de chien […]“ (22) ‒ wobei mit „oreilles de chien“ (Hundeohren) „lange Schläfenlocken“ gemeint waren, die typische Frisur bzw. Perücke des Incroyable (links). Die Haartracht wurde dabei auch häufig (wie bei der Figur rechts) mit Zottelhaar „à la sauvage“ (23) oder mit Kurzhaarschnitt „à la victime“ (24) kombiniert. Goethe kennt eine Kopie des Stiches aus dem „Journal des Luxus und der Moden“ (25) und weist ihm zurecht und bewusst den Eingangsplatz in seiner Gruppe zu.

Die szenische Darstellung des überraschenden „rencontre“ (Zusammentreffen → Nr. 14, 19, 45) führt einen ehemaligen Herrn und seinen ehemaligen Diener zusammen, deren früherer Stand jedoch nicht mehr zu erkennen ist. Diese „égalité“, Folge der gesellschaftlichen Mobilität, wäre vor wenigen Jahren noch „incroyable“ erschienen. Der Dialog, der sich zwischen beiden Figuren entspinnt, war auf einer ersten Fassung des Stichs erhalten, wurde dann aber offenbar entfernt, als der Subtext seine politische Bedeutung verlor, wodurch der Stich zur reinen Modesatire tendierte ‒ wie sie dann auch Goethe wahrnimmt. Sein Schreiber hätte den Dialog notiert, wenn er auf dem ihm vorliegenden Blatt vorhanden gewesen wäre.

Wohl selten wurde mit Männermode so viel Politik gemacht. Die militanten „Sans-culottes“ (Ohne[Kniebund]hosen) trugen „pantalons“ (lange Hosen), d.h. ihrer Berufstätigkeit (als Handwerker, Händler, Gastwirte, Arbeiter u.a.) angemessene lange und weitere Hosen (vgl. die Beinkleider der Revolutionäre in Nr. 12). Die enganliegenden Kniebundhosen (culottes, oder auch: pantalons à la hussarde) der Incroyables symbolisierten weniger eine royalistische Gesinnung (das freilich auch), als vielmehr eine dezidiert antijakobinische. Die neuen/alten Beinkleider reichen bis zum Knie oder bis zur Wade. Die Strümpfe sind häufig gemustert und/oder mit Strumpfbändern, Fransen und dergleichen geschmückt. Die flachen Schuhe oder Halbstiefel laufen spitz zu. Die Stöcke (cannes → Nr. 47), insbesondere Knotenstock oder Keule (gourdin), dienten nicht nur der Zierde, sondern seit Herbst 1794 der Zerschlagung der revolutionären Clubs und der anschließenden Jagd auf die Jakobiner. Waffe und modisches Accessoire der „jeunesse de Fréron“, der zusammen mit Barras, Tallien u.a. Robespierre stürzte, koexistierten im Directoire.

Die (langen) Jacken nennen sich „redingote“ (< engl. riding-coat, weil sich der Rücken in zwei Rockschöße teilte, was das Sitzen zu Pferd erleichtert) oder „habit carré“ (26), d.h. sie sind im Unterschied zu den aufwendiger dekorierten Jacken des Ancien Régimes „gerade“ geschnitten, mit breiten Revers (Kragen), zwar mit Knöpfen, aber auch offen getragen; sie reichen bis zum Knie. Unter der Terreur konnte die falsche Hosenlänge (oder ein anderes altmodisches Attribut, etwa gepudertes Haar) ein Todesurteil bedeuten. Obwohl England Staatsfeind war (→ Nr. 1f.), blieb die Herrenmode im Directoire englisch. Diese Anglophilie, ja Anglomanie (→ Nr. 20f.) rührte aus vorrevolutionären Zeiten her, da England eine liberalere Verfassung als Frankreich besaß, konnotierte aber jetzt, nach der Terreur, eine royalistische bzw. antijakobinische Gesinnung, denn England hatte ja noch einen König. Auch Goethes Werther ‒ und gelegentlich der Dichter selbst ‒ trug sich 1774 vor-revolutionär nach der englischen Mode: „blaue[r] einfache[r] Frack“ (MA 1.2, 262) mit gelber Weste und Hosen. Die Krawatten, eigentlich Halstücher, sind hochgeschlossen und bedecken häufig das Kinn (cache-nez). Der Hut der linken Figur stellt eine (sich nach oben weitende) Vorform des Zylinders („haut-de-forme“, „tromblon“) dar; der Hut der rechten ist ein Zweispitz („bicorne“), wie ihn auch Napoléon zu tragen pflegte.

Anmerkungen:

22 Mercier: Le Nouveau Paris, S. 421. Die Frisur ist als pars pro toto zu verstehen, d.h. der im Grunde exzentrische Incroyable (einschließlich seines weiblichen Pendants, der Merveilleuse) wurde zur Symbolfigur der gesamten Zeit des Directoire (→ Nr. 2, 3, 42).
23 Goethe nennt die Figuren „schlüdig“ (der Ausdruck findet sich nicht im „Frankfurter Wörterbuch“); wohl eine Fehlschreibung Geists für „schlüderig“, (heute: „schlud[e]rig“), was auf die (gewollte) Nachlässigkeit sowohl der Frisuren als auch der ganzen Aufmachung weist. 
24 Nach Art des Opfers, dem man das der Guillotinierung hinderliche Haar schor; vgl. Davids Zeichnung der zur Hinrichtung geführten Marie-Antoinette.
25 Anonym: Moden-Nachrichten. I. Paris, d. 1. März 1797, in: Journal des Luxus und der Moden, Jg. 12 (April 1797), S. 205-208, hierzu Taf. 12, wo Nr. 13 zwischen zwei anderen Incroyable/Merveilleusen-Paaren abgedruckt ist.
26 Der anonyme Berichterstatter „Über Paris, den 25. Prairial (13. Juny) 1797“ (in: Der neue Teutsche Merkur, Bd. 2 [1797], S. 360-367, hier S. 361) übersetzt mit „viereckigten Röcken“.

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[Nr. 14]

La Rencontre des Incroyables.

Einer verwundert sich über den andern, daß sie sich seit sie sich gesehen, so sehr gemästet haben.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, La Rencontre des Incroyables

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La Rencontre des Incroyables.

hé! bon jour Mon Ser comme tu es engraissé depuis que je ne tai vu; ma pa-ole d’honneur c’est Inconcevables.

Punktierstich; koloriert (verschiedene Fassungen, z.B. Hintergrund schwarz getuscht); Platte 32,1 x 35,7; Bild 27,5 x 32,4; Bunbiry (Henry Williams Bunbury?) inv.; [Louis Charles] Ruotte sculp.; A Paris chez [Paul-André] Basset; M.d d’Estampes, rue Jacques N° 670; 2 livres; Bibliothèque nationale, auch British Museum.

Zum Kostüm der Incroyables → Nr. 13; allenfalls ist das Haupthaar der rechten Figur zu bemerken, das „à la grecque“ gelockt war, ein kleiner Beitrag der Herrenmode zur Antikomanie, die ansonsten bei den Damen wütete (→ Nr. 16, 35-37). Der Soziolekt der „jeunesse dorée“ äußert sich in bestimmten Redewendungen und einer Aussprache, wie sie der Künstler durch Elision des „r“ in „ma pa-ole d’honneur“ (→ Nr. 23) widergibt. Das mouillierte „r“ (auch „‘r’ grasseyé“) hat der Sänger Pierre-Jean Garat, der nach wechselvollen Schicksalen im Directoire brillierte, angeblich aus dem Baskischen übernommen, das er von seinen Großeltern väterlicherseits gelernt haben soll. Diese Aussprache wurde „Garatisme“ genannt. (27) Als Idol prägte der extravagante Garat auch das Erscheinungsbild der Incroyables.

Auch der sog. Tituskopf mit in die Stirn gekämmten Locken oder Strähnen (28) verdankt sich der Bühne, wo sich der Schauspieler François-Joseph Talma einer historischen Kostümierung und Maske befleißigte. Goethe lernt Talma, der in der Entourage Napoléons reiste, 1808 in Weimar kennen (MA 14, 580); allerdings erkennt er weder im Kaiser noch in Talma die „Modenarren“ wieder, wie sie in den direktorialen Kupfern widergespiegelt waren. Neben der eigentümlichen Haltung der „jeunesse dorée“ in allen Stichen ist in Nr. 14 auch besonders die Gestik der Begrüßung ‒ durch Verschlingung der kleinen Finger der linken Hand ‒ zu erkennen.

Anmerkungen:

27 Auch die lispelnde Aussprache des Zischlautes in „Mon Ser“ < „Mon cher“ (entgegen meiner früheren Ansicht wohl keine Verschleifung von „Monsieur“) gehört zu diesem „Lautsystem“. Dieses in Goethes Stichen orthographisch nicht dokumentierte „zézaiement“ findet sich z.B. in „z’est inc-oyable“. Zu Weiterem s. Goncourt: Histoire de la société française pendant le Directoire, S. 303.
28 Nach dieser römischen Art und nicht ohne politische Hintergedanken frisierte Bonaparte nach seinem Konsulat das Haupthaar, das er zuvor als Incroyable langwallend trug (→ Nr. 31).

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[Nr. 15]

Les Mérveilleuses.

Eine dicke mit einer großen Haube Schleife Mantel und Falbula’s geziert, und von einem Incroyabel geführt, wird contrastirt mit einer hagern in einem leichten Gewande und grossem Schaubhut. Beide heben die Röcke hoch auf.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Les Mérveilleuses

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LES MÉRVEILLEUSES.

[Auf der Platte des Exemplars der Bibliothèque nationale ist der in Nr. 24 folgende Dialog nicht vorhanden]

Quoi! à pied, citoyenne! où est donc votre carrosse? / Ah! madame, je n’en serions pas  moins dans la boue.

Punktierstich; koloriert; Platte 32,0 x 36,1; Bild 28,1 x 32,6; Kopie → Nr. 24; Vernet del.; Darcis sculp.; Journal de Paris, 31. Dezember 1796; 3 livres; Slg. Kiefer, auch Bibliothèque nationale.

Pendant zu Nr. 13. Der Wortwechsel illustriert das Schicksal der einen Merveilleuse (rechts): Anscheinend vor nicht allzu langer Zeit zu Wohlstand gelangt (Kutsche als Statussymbol ‒ daher auch der verbliebene Hut (eher eine Mütze) „à la jockey“ (→ Nr. 22, 45) ‒ folgt ihr erneuter Abstieg in die Gosse, aus der der Sprecherin nach wie vor der Gassenjargon ‒ Grammatikfehler! ‒ anhaftet. „Vorbild“ dieser Sprechweise ist Madame Angot, die „poissarde parvenue“, in der gleichnamigen Opéra comique (29). Die Anrede „citoyenne“ verweist möglicherweise auf eine Rolle der Angesprochenen unter der Terreur, wo sie sich ‒ wiederum möglicherweise (→ Nr. 12, 25) ‒ bereichert hat, eventuell als Maîtresse eines „Revolutionsführers“ (Vorsitzenden eines Comités o.ä.). Inzwischen ist sie, so Goethe, „hager“ geworden, d.h. sie leidet Mangel (→ Nr. 46, 48f., wo allerdings andere soziale bzw. ökonomische Verhältnisse vorliegen). Ihre beschwichtigende Geste deutet an, dass der Verlust des Wagens nicht einmal das Schlimmste ist. Dagegen erscheint ihre Gesprächspartnerin, wie es auch Goethe bemerkt, „engraissée“ (→ Nr. 14). Ihr Embonpoint zeigt: sie lebt im Wohlstand, d.h. Bert Brecht zufolge „angenehm“. Die Angesprochene tituliert sie mit „Madame“. Auch das ist signifikant: Die gehobene Anrede „Monsieur/Madame“ tritt unter dem Directoire wieder an die Stelle des gleichmacherischen „citoyen/citoyenne“, markiert nun aber auch, wie im gegebenen Fall, den neuen Rangunterschied (30). Gleichwohl tragen beide Frauen, so wie auch der Begleiter, modische Kleidung und verhalten sich auch entsprechend der Mode.

Das Raffen des Rockes, die neumodische „fureur du retroussage“ (31), ‒ das bzw. die auf Goethe offenbar ebenso Eindruck gemacht hat wie überhaupt die „Nuditäten-Mode“ (32) des Directoire, erwähnt er die erotische Geste doch mehrfach (→ Nr. 17f., 26) (33) ‒ soll nicht nur das weibliche Bein, sondern auch die Rundungen der Hinterpartie betonen. Ein Schabhut (oder „Schaubhut“, Nr. 19) wäre ein schlichter („schäbiger“) Strohhut. Goethe kennt aber den Subtext nicht und schließt nicht vom Jockeyhut auf die fehlende Karosse. Ein Falbel (Falbula) ist ein gefälteter Kleiderbesatz (wie hier am Rocksaum links). Die phantasiereichere Damenmode ist in ihren Details nicht so politisiert wie die Herrenmode, bezeugt jedoch emanzipationsgeschichtlich eine Tendenz zur Natürlichkeit der weiblichen Formen ‒ die das 19. Jahrhundert z.T. wieder rückgängig machte. Was die Mode- „der neuen Weiblichkeit“ aber nicht zeigt, war dass die „droits de l’homme“ tatsächlich nur für Männer ausgerufen waren. Die Mode war gewissermaßen „Opium“ für die Frau, die auch nach der Revolution ‒ an der sie tatkräftig mitgewirkt hatte ‒ praktisch keine bürgerlichen Rechte besaß (→ Nr. 53) (34).

Anmerkungen:

29 Maillot [Antoine-François Eve]: Madame Angot, ou la Poissarde parvenue. Opéra-comique en deux actes, joué sur le théâtre d’Emulation, Paris: Barba 1797. Die „langue poissarde“ zeigt sich in in Grammatikfehlern wie z.B.: „Je sommes très bien […]“ (S. 31; vgl. „je n’en serions pas“), in Aussprache und Wortwahl (Madame Angot zu ihrem Gehilfen): „[…] y [il] faut te déshabituer de ce mot [maîtresse], faut dire mame [Madame] Angot, c’est pu [= plus] poli.“ (S. 11), alles in allem im vergeblichen Bemühen „[de] faire voir qu’on a zu [eu] de l’inducation [éducation] comme il faut“ (S. 10). Das Stück ist allerdings so trivial (Entlarvung eine Heiratsschwindlers, der sich als Aristokrat ausgibt), dass die Musik schon gut gewesen sein muss, um den großen Erfolg zu erklären. Zur Wechselwirkung von Bühne, Bildmedien und Publikum → Nr. 12.
30 Auch das revolutionäre Duzen (tutoiement) wurde wieder zugunsten der 2. Person Plural als Höflichkeitsform (vousvoiement, im Dt. Siezen < 3. Person Plural).
31 Arsène Alexandre: L’art du rire et de la caricature, Paris: Librairies-Imprimeries Réunies [1892], S. 112. 
32 Anonym: Frankfurt a. M., den 8. April 1797, in: Journal des Luxus und der Moden, Jg. 12 (Mai 1797), S. 268-271, hier S. 268.
33 Zu sehen war diese gestisch-erotische Errungschaft der Frau auch auf Nr. 16, 19, 22, 24, 32 ‒ was Goethe gewiss registriert hat. Die Frau durfte zwar ihre Reize und Formen zeigen, die politisch-rechtliche Emanzipation wurde ihr allerdings verwehrt (→ Nr. 53).
34 Vgl. Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.): Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und neue Weiblichkeit 1760-1830, Historisches Museum Frankfurt, 4. Oktober - 4. Dezember 1989, Marburg: Jonas 1989 (Kleine Schriften des Historischen Museums Frankfurt, Bd. 44).

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[Nr. 16]

Les Héroïnes d’aujourd’hui.

Ein artiggekleidetes Frauenzimmer, das in den Busen greift als wenn die Begleiter seines vorigen Standes sie noch inkommodirten, begegnet einer andern, die in sehr entblöster Theaterkleidung sich gegenseitig über sie verwundert.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Les Héroïnes d’aujourd’hui

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Les Héroïnes d’aujourd’hui.

Radierung. Das Blatt konnte nicht vermessen werden, da es zwischen meinem ersten und zweiten Arbeitsbesuch 1984 bzw. 1986 aus dem Cabinet des Estampes der Bibliothèque nationale entwendet worden ist. Im Catalogue du Vidéodisque 1990 ist nur noch ein Exemplar in Fächerform verzeichnet (Nr. 9928-9932); Deret del.; [A. N.] Blondeau sculp.; A Paris chez Pointeau, Rue du Théâtre Français, N° II; 1 livre, 10 sous; nach dem Januar 1797; Bibliothèque nationale.

Wie Goethe die Begegnung der beiden Merveilleuses deutet, ist zum einen schwer nachzuvollziehen, zum anderen falsch. Im Falle der Figur rechts handelt sich keineswegs um ein Theaterkostüm, auch nicht um eine Theaterrobe, obgleich Gräkomanie beim weiblichen Publikum weit verbreitet war, wie nicht nur der Berichterstatter für dem „Neuen Teutschen Merkur“ beobachtet (35). Die der Antike nachempfundene Mode äußert sich in einer Tunika mit gestickter Borte und Quaste sowie „hohem Busengürtel“, so Albert Racinet (36). Er beobachtet nebst Agraffen an den Schultern und über dem Knie auch Ringe an Ohren, Fingern und Fußzehen und elastische Armbänder mit Perlen. Von Kopf bis Fuß auf „antik“ eingestellt, trägt die Neugriechin „en frisons d’ébène“ arrangierte und von einem Haarnetz gehaltene Ringellöckchen (→ Nr. 14, 19) sowie mit Bändern hochgebundene Kothurne (souliers cothurne). Man vergleiche die zeitgenössischen Porträts der Mesdames Récamier oder Tallien von Jacques-Louis David bzw. François Gérard. Goethes vermutet, dass die „artiger“ gekleidete junge Frau (links) aus einfacheren Verhältnissen stammt und von früheren „Begleitern“ (Freiern?) belästigt wurde. Schamhaft bedecke sie ihren Busen mit der Hand. Zwar mangelte es im Paris des Directoire nicht an „Payables“ (→ Nr. 36, 38), die auch, zumindest zeitweilig, gesellschaftlich aufstiegen und ihre Reize nicht mehr feilzubieten brauchten, aber mit der Geste „Hand aufs Herz“ erweist man u.a. auch ‒ schlicht ‒ seine Reverenz oder unterstreicht seine „herzlichen“ Gefühle (→ Nr. 33). Nach dieser einfacheren Lesart bekunden die beiden Mode-Heroinen lediglich ein wechselseitiges Entzücken an ihrer unterschiedlichen Aufmachung. Die modische Entblößung („n’chemise suffit“) scheint in den kalten Wintern der Direktorialzeit einige Opfer gefordert zu haben: „Sous un mince et léger costume / Elle cherchait des compliments / Et revenait avec un rhume.“ reimte ein unbekannter Poet und Chansonnier (37).

Anmerkungen:

35 S. anonym: Über Paris. Paris, den 25. Prairial (13. Juny) 1797, in: Der Neue Teusche Merkur, Bd. 2 (1797), S. 360-367, hier S. 361.
36 Albert Racinet: Geschichte des Kostüms in chronologischer Entwicklung (Le costume historique), deutsche Ausg. bearb. v. Adolf Rosenberg, Berlin: Wasmuth 1888, Bd. 5: Europa. 18. und 19. Jahrhundert (o. S.). Eine andere „griechische“ Stilrichtung mit langen fließenden Gewändern aus transparenter Musseline → Nr. 32, 35-37.
37 http://fr.wikisource.org/wiki/Le_Corset_(1905)_-_Chapitre_VIII.

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[Nr. 17]

Le Contraste.

Eine dickliche Frau in einem gewöhnlich albernen Costum scheint sich über eine lange flüchtige Person aufzuhalten, die ein leichtes flatterndes Gewand freylich sehr in die Höhe hebt.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Le Contraste

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LE CONTRASTE.

Radierung, z.T. in Punktiermanier; Plattenabdruck nicht erkennbar; Bild 26,8 x 32,5, unterer Rand 0,8; Pierre-Thomas Le Clerc del.; Pierre-Laurent Auvray sculp.; Bibliothèque nationale.

Der „Kontrast“ ist ein häufiges Motiv des Bilderwitzes und der Satire. Er besteht hier in dem hochgerafften Kleid der linken Figur, einer Merveilleuse, die durch eine raffinierte Raffung Bein und Unterrock zeigt und ihre Rundungen betont, und der rechten Figur, die zu ebendemselben Zweck ‒ vermutlich ‒ einen „cul de Paris“ verwendet, hier in einer moderaten Auspolsterung. Durch „paniers“ (Körbe) o.ä. weiter aufgebauschte Hinterteile (meist im Queroval) sind Nr. 39 u. 40 zu sehen, die die Goethesche „Recension“ unter „veraltete Fratzen“ rubriziert. Bemerkenswert ist, dass Goethe das „gewöhnliche“, d.h. ihm auch aus Weimar bekannte Kostüm der „dicklichen“ Dame rechts (38) als „albern“ bezeichnet. Seine Italienerfahrung mit Faustine und deren leicht lösbarem „wolligen Kleidchen“ (MA 3.2, 78, V. 23) sowie den „griechischen“ Attitüden der Lady Hamilton (MA 15, 258f.) hatten ihn eines Besseren belehrt. Während sich die standesgemäß bekleidete Dame über die Merveilleuse „aufzuhalten“ scheint, d.h. den modischen Aufzug kritisch oder spöttisch kommentiert, sympathisiert Goethe offenbar mit der neuen antikischen Natürlichkeit (39).

Anmerkungen:

38 Vgl. die Silhouetten (Scherenschnitte) der Herzoginnen Anna Amalia und Luise sowie der Frau von Stein mit ausgeprägten „culs“, in: Goethe. Sein Leben in Bildern und Texten, m. e. Vorw. v. Adolf Muschg hg. v. Christoph Michel, gest. v. Willy Fleckhaus, Frankfurt/M.: Insel 1982, S. 190 u. → Schätze aus dem Düsseldorfer Goethemuseum. Faltblätter der Austellungen, Bl. 70.
39 In einer Notiz zum „Journal des Luxus und der Moden“ vom Januar 1795 hatte Goethe allerdings „alle Modeneuigkeiten“ als „albern“ (MA 4.2, 476) bezeichnet.

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[Nr. 18]

L’observatrice au Boulvard de Coblenz

Ein Frauenzimmerchen mit ziemlich aufgehobenen gestreiften Kleide betrachtet durch die Lorgnette einen Incroyabel und seine Begleiterinn in einem langen Pelzkleide.
NB. Sämmtlich von keinem Kunstwerthe.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, L’observatrice au Boulvard de Coblenz

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L’OBSERVATRICE AU BOULEVARD DE COBLENZ

Radierung, z.T. in Punktiermanier; koloriert; Platte 29,0 x 38,3; Bild 26,8 x 32,8; Pierre Thomas Le Clerc del.; Auvray sculp.; 2 livres; Kunstbibliothek Berlin.

Der Boulevard de Gand, der in den Boulevard des Italiens überging, wurde nach dem Zentrum der französischen Emigration, Koblenz, ironisch in „le Petit Coblentz“ umbenannt: Treffpunkt („rencontre“) und Promenade alles Incroyables und Merveilleuses, die Sitten und Moden der emigrierten französischen oder der englischen Aristokratie nachahmten. Die von Goethe versehentlich falsch benannte Sehhilfe ist ein Perspektiv, d.h. ein kleines, einäugiges Fernrohr, das zum modischen Accessoire gehörte (→ Nr. 13, 23f., 26, 43) und als Ausdruck und Zeichen des genauen, erstaunten oder kritischen, Betrachtens eingesetzt wurde.

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[Nr. 19]

La Rencontre des Merveilleuses.

Ein Incroyabel mit seiner antik coiffirten Begleiterinn begegnet einer andern mit einem großen Schaubhute, beyde scheinen sich über Migraine zu beklagen, artig gezeichnet und sehr sauber punctirt.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, La Rencontre des Merveilleuses

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LA RENCONTRE DES MERVEILLEUSES.

Punktierstich; koloriert, Hintergrund schwarz getuscht; Bild 27,8 x 32,5; unterer Rand 5,0; Baubini inv.; F[em]me Le Fevre [ = Thérèse Eléonore Lignée] sculp.; A Paris chez Basset M.d d’Estampes, rue Jacques, au coin de celle des Mathurins, N° 670; 2 livres; Kunstbibliothek Berlin.

Als „antik coiffirt“ (frisiert) bezeichnet Goethe die Ringellöckchen der linken Merveilleuse (→ Nr. 16). Anders als Goethe diagnostiziert die zeitgenössische Interpretation keine Migräne bei den beiden Damen, die die linke Hand zur (schmerzenden?) Stirn führen ‒ das stark betonte Gegenlicht könnte sie aber auch blenden ‒, sondern kritisiert das affektierte Verhalten der beiden: „L’une, assez gauchement troussée […]. L’autre, par contenance, porte à son chapeau une main maladroite.“ (40) Bei der rechten Figur gut zu sehen ist der modisch lange Schal (châle, auch: schall oder schal < engl. shawl < hind. shal), den die meisten weiblichen Figuren tragen (→ Nr. 24, 33f., 37, 39) und dessen „Modeimport“ sich dem britischen Kolonialismus verdankt.

Anmerkungen:

40 Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, S. 60.

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[Nr. 20]

L’Anglomane.

Ein Incroyabel zu Pferd. Die Magerkeit und der Ausdruck beyder Kreaturen passt sehr gut zusammen. Nach Vernet von Darcis sehr schön punctirt.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, L’Anglomane

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, L’Anglomane

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L’ANGLOMANE.

Punktierstich; schwarz-weiß u. koloriert; Platte 34,2 x 34,4; Bild 29,3 x 30,2; Vernet del.; Darcis sculp.; A Paris, chez l’auteur, rue Montmartre, nos 110 et 98, près la rue Notre Dame des Victoires; 3 livres schwarz/weiß; 6 livres koloriert; Journal de Paris, 9. Februar 1797; dépot 16. Februar 1797; Bibliothèque nationale (schwarz-weiß) bzw. Graphische Sammlung Albertina (koloriert), auch Schloß Friedenstein Gotha.

Die Anglophilie, ja -manie der Incroyables erstreckte sich neben Mode und Teetrinken (zu den „thés“ → Nr. 23) insbesondere auch auf Reiten sowie Kutschenfahren (→ Nr. 21f., 45, auch Nr. 15). Als Pferderasse dürfen wir Englisches Vollblut annehmen (→ Nr. 22). Pferd wie Wagen dienen weniger dem Sport als der „promenade publique“, die neben Essen, Tanzen, Spielen usw. zu den zahlreichen „plaisirs“ der „jeunesse dorée“ zählt. Die „Magerkeit“ von Pferd und Reiter, die Goethe Vernets Stich entnimmt, stimmt mit Merciers Schilderung überein, der auch bemerkt, dass dem Pferd der Mode entsprechend Ohren und Schwanz gekürzt waren. (41) Vernet brillierte im übrigen auch in echten Pferdebildern; er hat deren hunderte angefertigt.

Anmerkungen:

41 Mercier: Le Nouveau Paris, S. 429: „[…] des espèces d’anglois, à courte queue, à courte oreille, maigres de vieillesse ou de famine, voilà en partie la monture de nos anglomanes.“

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[Nr. 21]

L’incroyable à Cheval.

Eine Copie im kleinen des vorigen Blattes mit sehr kleinen Nebenfiguren, geistreich callotisch radirt.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, L’incroyable à Cheval

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L’INCROYABLE À CHEVAL.

Radierung; Bild 11,4 x 11,9, Untertitel 0,7; anonym; Kopie nach Nr. 20; Bibliothèque nationale.

Hochschätzung für den französischen Kupferstecher und Radierer Jacques Callot ist bei Goethe zeitlebens nachzuweisen. Mit „callotisch“ könnte der bisweilen groteske, difforme Stil des genannten Künstlers gemeint sein. Im Hintergrund links sind ein Incroyable und eine Merveilleuse zu sehen, rechts ein Reiter in gestrecktem Galopp (vielleicht beim Pferderennen auf dem Champ de Mars oder in Longchamp).

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[Nr. 22]

L’inconvénient des Perruques.

Einem auf einem Engländer sitzenden von der Seite reitenden hübschen Mädchen nimmt der Wind im Gallopp Hut und Perücke. sie wird dadurch nicht häßlicher, weil ihr Haar nun erscheint das gar artig auf dem Kopf zusammengebunden ist, zu gleicher Zeit reißt der Gürtel der das Kleid zusammenhalten soll. mit viel Geschmack gezeichnet und sehr schön punctirt.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, L’inconvénient des Perruques

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupfertiche, 1797. Satire, Französische Revolution. L’inconvénient des perruques

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L’INCONVÉNIENT DES PERRUQUES.

Punktierstich; koloriert; Platte 34,4 x 34,2; Bild 28,0 x 30,0. Vernet del.; Darcis sculp.; Chez Darcis Rue Montmartre, N° 110 et 98; 3 livres; Journal de Paris, 23. März 1797; dépot 26. März 1797; Bibliothèque nationale (schwarz-weiß) bzw. British Museum (koloriert), auch Schloß Friedenstein Gotha.

Goethe erfasst hier das Motiv besser als andere zeitgenössische Interpreten wie etwa Mercier oder der anonyme Almanach-Herausgeber, indem er weniger das lächerliche Ungeschick der Reiterin hervorhebt als vielmehr ihre reizvolle Befreiung aus den Zwängen der Konvention. Dieser „prägnante Moment“, der Goethes Kunstgeschmack entgegenkommt, hebt Vernets Stich in der Tat aus der Vielzahl anderer Bildsatiren heraus. In seinem Hang zum Natürlichen, „Rein-Menschlichen“ übersieht Goethe jedoch, dass der „modernen Amazone“ (42) nicht der Gürtel „entzwei“ reißt ‒ solche massiven Gürtel wurden im Directoire absolut nicht getragen. Die „merveilleuse“ Sonntagsreiterin (vermutlich im Bois de Boulogne) ist in Wirklichkeit mit einem Sicherheitsgurt an den Sattel angeschnallt, und das eigentlich für den Rennsport gezüchtete Englische Vollblut, mag überraschend in Galopp verfallen sein. Dazu ist für ungeübte Reiterinnen der sog. Damensitz (Goethe: „von der Seite reiten“) nicht geeignet. Aber Vernet drapiert die Amazone auch derart aufs Pferd, dass sie „wie gewöhnlich“, so Goethe (zu Nr. 26), ihr Bein zeigen kann. Mercier schildert ähnlich missglückte Reitversuche auch bei den (männlichen) Incroyables: „Ils veulent tous monter à l’anglaise, mais ne sachant pas saisir le mouvement du cheval, ils se fatiguent et font rire de leurs sautillements convulsifs […].“ (43)

Der Windstoß, der hier zusätzlich zum mutwilligen Sprung des „Engländers“ Perücke und Jockeyhut löst, legt nicht, wie Goethe richtig erkennt, einen rasierten Schädel bloß (das ist in Nr. 26 der Fall), sondern artig zusammengebundenes Haar. (44) Sonst hätte Goethe den Stich wohl nicht goutiert. Das Motiv des Hinderlichen der direktorialen Mode wird im übrigen häufig karikiert, so z.B. „l’embarras des queues“, d.h. der Schleppen, die die Merveilleuses normalerweise raffen, damit niemand darauf tritt, (45) oder der breitkrempigen Hüte oder Schirmmützen, die Träger und Trägerinnen zu „invisibles“ machen.

Anmerkungen:

42 Mercier: Le Nouveau Paris, S. 624. Mercier bezeugt auch, dass die Verehrer der Reiterinnen üblicherweise so eifrig neben den Pferden herliefen wie Antonio Franconi, der berühmte Reitlehrer und Pächter des Amphitéâtre Anglais, später: Cirque Olympique, das bzw. den er von Philip Astley übernommen hatte. Astley gilt als der Begründer des modernen Zirkus.
43 Ebd., S. 428.
44 Vgl. dagegen den Almanach, der „des cheveux courts, que de loin, on dirait rasés“ sieht (Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, S. 18).
45 Vgl. auch den Stich „Ah! s’il y voyoit!...“, wo ein Blinder auf die Schleppe einer Merveilleuse tritt und dadurch ihr bloßes Hinterteil freilegt (da sie, wie für Frauen bis Ende des 19. Jahrhunderts üblich, keine Unterwäsche trägt ‒ nur durch ein Strumpfband gehaltene Strümpfe: Hosen, auch Unterhosen waren als „männlich“ verpönt), in: fr.wikipedia.org/wiki/Fichier:directoire_fashion_caricature_1797.jpg.

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[Nr. 23]

Café des Incroyables.

Ein geistreich radirtes Blatt. Zu einer Gesellschafft, die sich schon als gleich und gleich anerkannt hat, kommt ein neuer Incroyabel den sie mit Perspectiven und Lorgnetten anstaunen. Der neue Consort scheint etwas verlegen, seine Rolle will ihn nicht recht kleiden.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Café des Incroyables

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CAFÉ DES INCROYABLES.

Ma parole d’honneur ils le plaisante [il est plaisant].

Radierung; koloriert; Platte 25,8 x 37,7; Bild 23,0 x 34,0; Motiv auch in Fächerform; RLL(?) inv.; 15 sous; 1797; Musée du Louvre, Collection Edmond de Rothschild.

Beliebter Treffpunkt der Incroyables war auch das Kaffeehaus, z.B. das Café des Canonniers (oder: de Chartres) im Palais-Egalité, „ci-devant“ Palais-Royal. Hier diskutierte oder plauderte man, las die Zeitungen und pflegte das Sehen und Gesehen-werden. Ein Stich mit denselben Motiven in Fächerform trägt den (original belassenen) Titel: „Les Incroyables au Caffée en attendant le cour de la bourse“. Goethe beobachtet ein Aufnahmeritual; die Musterung des Neuankömmlings geschieht mittels Perspektiven, Brillen und Lorgnetten (→ Nr. 13, 18), den modischen Attributen der „jeunesse dorée“. Der Zeichner, der die Szene festhält, verewigt sich im Hintergrund („en abyme“) rechts außen. Mercier stellt eine längere Überlegung zu den aushäusigen Vergnügungen der neuen Zeit an. Früher speiste man bei Freunden zuhause, heute bei einem der zahlreichen „restaurateurs“ oder „traiteurs“; einzige Ausnahme: die „thés“, die Gepflogenheiten der privaten Salons fortsetzen: „Les thés au moins semblent rapprocher davantage; ils sont le premier pas pour remonter vers l’urbanité française, depuis longtemps si méconnue.“ (46)

Anmerkungen:

46 Mercier: Le Nouveau Paris, S. 427.

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[Nr. 24]

Copien in Rund von zwey obigen Blättern.
Le Merveilleuses u Les Incroyables.

Unter dem ersten steht die bedeutende Inschrifft:
Quoy a pied Citoyenne Françoise ou est donc votre Carosse? 
Ah Madame je nen serions pas moins dans la boue
.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Le Merveilleuses u Les Incroyables

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Quoy à pied citoyenne Françoise ou est donc votre carosse / ah madame je n’en serions pas moins dans la boue.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Le Merveilleuses u Les Incroyables

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Eh mais c’est impossible. Je le croyois emigré / ah C’est incroyable Voila La Fleur mon ci devant valet.

Punktierstich; [Oben] Platte 16,4 x ca. 15; Durchmesser Medaillon 12,9. [Unten] Platte 16,0 x ca. 15; Durchmesser Medaillon 12,7; anonym; Kopie nach Nr. 13 u. Nr. 15; Bibliothèque nationale.

In der Kopie erscheint der Stich seitenverkehrt. Vielfach wurden die Figuren auf anderen Stichen, Gemälden, Medaillons, Fächern etc. „abgekupfert“, auch auf Porzellan u.ä. übertragen. Goethe nimmt die Kopien wohl der zuvor (Nr. 13, 15) nicht erwähnten oder vorhandenen Bildunterschriften auf, zitiert aber nur die erste.

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[Nr. 25]

La Revanche donnée aux Sans-Culottes.

Ein mir unverständliches Blatt ohne Kunstverdienst.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, La Revanche donnée aux Sans-Culottes

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LA REVANCHE DONNÉE AUX SANS-CULOTTES.

[Der Sansculotte (links)]

       Va donc Madame la Merveilleuse,
       Comme tu fais ta Renflée
       Il Sembleroit que tu as tous,
       Les incroyables dans l’Ventre.

[Die Merveilleuse antwortet (rechts)]

       Laissez donc, Monsieur, le
       Citoyen, c’est ce qui vous
       Trompe; car j’ai tous ceux qui
       Nous ont contrefait dans le Cul …

Radierung; Platte 28 x 38; Bild 23,8 x 26,9; nach dem 12. Dezember 1794; Chez [Jean Dominique Etienne] Camus, Rue Bourg-l’abbé. N.° 60 Et chez Baron rue Martin N.° 290; Kunstsammlungen der Veste Coburg.

Goethes Unverständnis bzw. Missbilligung sind verständlich. Möglicherweise war der Dialog zwischen einem anscheinend leicht beschwipsten Sansculotten und einer Merveilleuse abgeschnitten, denn ansonsten schreibt Goethes Geist (47) textuelle Anhängsel getreulich ab. „pictura“ und „subscriptio“ stehen für den Betrachter in einer rätselhaften Beziehung, wenn er den „Schlüssel“ für den Bilderwitz nicht kennt. Der Stich erscheint aber nicht als „symbolisch“, weil er ‒ zumindest vordergründig ‒ nicht auf ein Allgemein-Menschliches verweist. Sorgfältig ausgearbeitet sind die architektonischen und sonstigen Konkreta: Brunnen, Schirm, Prellsteine, Verkaufsbuden (auf Stelzen) mit Auslagen (Stoffe, Tücher) usw. Es handelt sich um die (heute noch stehende) Fontaine des [Saints-] Innocents (48), um die herum ursprünglich die Verkaufsbuden und Schirme des Tuchmarkts standen (49), später ausgebaut zu kleineren Hallen (50). Daraus entwickelten sich dann die bekannten, 1971 abgerissenen „Halles“. Die genannten Marktbuden kontrastieren mit dem herrschaftlichen Haus. Die Merveilleuse ist also nur eine ehemalige Tuchverkäuferin… Zwar wirkt der Titel doppeldeutig: den Sansculotten wird Revanche gewährt oder gegeben, aber die Merveilleuse scheint doch das letzte Wort zu behalten. Entweder macht ihr die verhüllte Mutterschaft, eine Folge ungezügelten Liebeslebens, nichts aus, oder aber die Aufbauschung ihre Gewands („renflée) ist lediglich der Mode geschuldet. Jedenfalls gibt sie den Spott zurück ‒ wenn man das „contrefaire“ (seitens des Jakobiners) als ein „Nachäffen“ im Sinne von „Sich lustig machen über“ verstehen darf. Das vulgäre „avoir quelqu’un dans le cul“ (jmdn., pardon, am Arsch haben) bedeutet dann entweder ein „Verachten“ oder „Triumphieren über“. Die Merveilleuse spricht für die gesamte „jeunesse dorée“ („nous“); auch ist der Incroyable ein typischer Vertreter (eine Kopie) seines Standes.

Anmerkungen:

47 Goethes Schreiber und Sekretär Johann Jacob Ludwig Geist, den Schiller Goethes „Spiritus“ nannte.
48 S. Hippolyte Destailleur: [Marché et fontaine des Saint-Innocents. Au fond, la Halle aux Draps], Zeichnung ca. 1790 (Bibliothèque nationale).
49 Ein Schirm ist geöffnet; sechs im Hintergrund geschlossen, deren Größe die Brüder Goncourt bestätigen: „Sous quatre à cinq parasols en toile cirée de quinze pieds de diamètre et peints en rouge, ‒ regardé! tâtez! achetez! tout le linge de hasard de Paris est là.“ (Histoire de la société française pendant le Directoire, S. 74). 15 Fuß sind (15 x 0,324 cm) 4,86 m; es handelt sich demnach, auch wenn die Bildproportionen nicht stimmen, um recht große Schirme.
50 Es wird also wieder das Madame Angot-Thema angeschnitten, deren Tochter Clairette sogar Operettenstar wurde: „La fille de Madame Angot. Opéra comique en trois actes“, Mus. v. Charles Lecocq, Libr. v. Louis-F. N. Clairville, Paul Siraudin, Victor Koning, gedr. Paris: Brandus 1873 und u. d. T. „Angot die Tochter der Halle [!]“ (Wien: Rosner 1874) in der Bearb. f. das k.k. priv. Carltheater Wien v. Anton Langer.

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[Nr. 26]

H!A Quel Vent! C’est Incroyable.

Zwey Pärchen die spatzieren gehen. Dem einen Frauenzimmer nimmt der Wind die Perücke, die andere hebt wie gewöhnlich den Rock hoch auf.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, H!A Quel Vent! C’est Incroyable

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H!A QUEL VENT! C’EST INCROYABLE.

Aquatinta, z.T. radiert; Platte 24,5 x 32,8; Bild 19,3 x 28,8; anonym; A Paris Chez Bonvalet Rue des Chiens N° 2 près le Panthéon Français; Bibliothèque nationale.

Der Wind entblößt den glattrasierten Schädel der rechten Merveilleuse, was auch deswegen „unglaublich“ sein mag (→ Nr. 22), weil nach zeitgenössischen Quellen doch nur zwei von hundert Damen ihr Haupthaar der (meist blonden) Perücke opferten (51). Ansonsten die übliche Ausstattung der Figuren.

Anmerkungen:

51 Vgl. Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, S. 13.

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[Nr. 27]

Les Croyables au tripot.

Falsche Spieler, die alte Idee die von Caravaggio so schön ausgeführt ist, hier schlecht gezeichnet und schlecht gestochen.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Les Croyables au tripot

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LES CROYABLES / au tripot.

Punktierstich, z.T. radiert; Platte 35,1 x 38,6; Bild 27,7 x 33,4; anonym; Bibliothèque nationale.

Das Bild spielt ironisch mit seinem Titelwort: Ein „Croyable“, der einem Anderen in die Karten schaut, um seinem Komplizen ein Zeichen zu geben, ist eigentlich „incroyable“ (unglaubwürdig), während der Incroyable, der betrogen wird, eigentlich gutgläubig ist und sich naiv ablenken lässt (→ Nr. 51). Welches Kunstwerk Goethe mit der von Caravaggio „so schön ausgeführten“ Idee konkret verbindet, ist unklar. Auf der Italienischen Reise erwähnt er Caravaggios „Die Falschspieler“ nicht, obwohl er den Palazzo Madama des Caravaggio-Förderes und Sammlers Kardinal Francesco Maria Del Monte zweimal besucht. Er erwähnt das Bildmotiv auch nicht anlässlich seiner Besuche der Dresdner Gemäldegalerie, wo sich ein fälschlicherweise Caravaggio zugeschriebenes Gemälde, ebenfalls „Die Falschspieler“ betitelt, von Valentin de Boulogne befindet (vgl. auch MA 4.2, 485). Er kann natürlich einen Kupferstich oder eine Kopie beider Gemälde gesehen haben. Carravaggios Transzendierung des Karikaturalen zum Allgemein-Menschlichen ‒ „the interaction of gesture and glance evokes the drama of deception and lost innocence in the most human of terms“ (52) ‒ wird in der direktorialen Satire wieder rückgängig gemacht, was Goethe konsequenterweise missfällt.

Anmerkungen:

52 So treffend der Bildkommentar des Kimbell Art Museums, Fort Worth, Texas, wo sich das Gemälde seit 1987 nach einer obskuren Sammlungsgeschichte befindet (in: www.kimbellart.org/Collections).

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[Nr. 28]

Ah! Beaucoup vous critiquent!
Mais peu vous Imitent.

Ein Blatt zu Gunsten der Incroyabels. Ein junger Mensch in den bekannten Costum doch zu seinem Vorteil gekleidet giebt einer alten, mit einem Kinde belasteten Frau reichliches Almosen, indess sein Kamerad einen Savoiarden bedeutet wie er ihm die Stiefelchen zu schwärzen und zu putzen habe. Schwach aber sauber und von gutem Effekt.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Ah! Beaucoup vous critiquent! Mais peu vous Imitent.

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AH! BEAUCOUP VOUS CRITIQUENT! MAIS PEU VOUS IMITENT.

Aquatinta, z.T. radiert; Bild 31,7 x 45,7, unterer Rand 3,3; [Jean François] Bosio del.; J[acques] Marchand sculp.; A Paris chez Marchand, rue des Francs-Bourgeois, Place Saint-Michel N° 790; 2 livres; Bibliothèque nationale.

Die beiden wohlhabenden Incroyables sind von zwei sozialen Außenseitern eingerahmt, denen sie mit ostentativer Leutseligkeit begegnen. Der eine reicht einer verarmten Mutter eine Münze, der andere beschäftigt einen „Savoyarden“, der sich als Schuhputzer („décrotteur“) betätigt (→ Nr. 36). Als „Savoyarden“ werden aus Savoyen stammende Gelegenheitsarbeiter und Tagelöhner bezeichnet, meist Kinder und Jugendliche ‒ die sich noch im 19. Jahrhundert als Kaminkehrer („ramoneur“) verdingten (da sie klein waren, konnten sie in die Schornsteine einsteigen). Armut und geringe Verdienstmöglichkeiten zwangen viele Savoyarden, Arbeit und Brot außer Landes zu suchen. Die durch den Druck seitenverkehrte oder ungeschickt spiegelschriftlich angebrachte Aufschrift (Tafel rechts) ist nicht zu entziffern; der untere Teil könnte mit „AMOR“ zu tun haben, eventuell eine moralische Maxime. 

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[Nr. 29]

Les Marionnettes.

Ein Alter mit Pfeife und Tambourine bewegt auf die bekannte Weise zwey Modepuppen an einem Strick mit dem Knie. Schwach aber sauber und artig.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupfertiche, 1797. Satire, Französische Revolution. Les Marionnettes

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Les Marionnettes.

Punktierstich; 30,6 x 35,5; [Jean-Baptiste] Guyard inv. et fec.; A Paris chez l’Auteur, rue Jacob, N° 1221 ou 14 Et chez Louis Journeau, Md d’Estampes, Maison des Monnoies; 3 livres; British Museum.

Ein Straßenmusikant („bateleur“ → Nr. 30) mit Trommel und provenzalischer Flöte („galoubet“) lässt sog. Kniepuppen, einen Incroyable und eine Merveilleuse, nach seiner Musik tanzen. Die Puppen können hüpfen, zappeln, sich verbeugen, sich legen und sich um das Seil drehen. Als Motiv bei Louis-Léopold Boilly häufig dargestellt, waren diese Marionetten eine beliebte Unterhaltung für Jung und Alt (bei Boilly sind die Musikanten junge Savoyarden).

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[Nr. 30]

La Piece Curieuse
Boilly pinx. Darcis sculp
.

Ein wohlgedachtes, wohlcomponirt und gestochnes Blatt. Ein Alter mit Pfeife und Tambourin macht einem Hunde, der als Incroyabel, und einer Hündin die in durchsichtigen Linnon gekleidet ist, zu ihren Tanze Musik. Hinter ihm knurrt ein zusammengedruckter Bär, der mit Maulkorb und Kette gezämt und mit einer Mütze geziert ist; ein Affe als Nationalgardist vom höhern Grade sitzt vor ihm auf der Erde hat ihn mit der linken Hand beym Ohr und hält ihm die Säbelspitze vor die Nase

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, La Piece Curieuse

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LA PIECE CURIEUSE.

Punktierstich, z.T. radiert; Platte 32,4 x 36,5; Bild 27,8 x 33,3; [Louis-Léopold] Boilly pinx.; Darcis sculp.; A Paris chez Darcis, Rue Montmartre N° 110 et 98; dépot 26. März 1797; Bibliothèque nationale, auch Schloß Friedenstein Gotha.

Goethe bezeichnet den Stich als „wohlgedacht“. Möglicherweise sieht er den Tanzbären, der eine jakobinische Phrygiermütze auf dem Kopf trägt, als eine Allegorie des nach Thermidor „an die Kette“ gelegten Volkes ‒ wie Heinrich Heine in „Atta Troll“ rund 40 Jahre später. Der Nationalgardist als Affe hält den Bären, der sich eben erst seines Zustands zu besinnen scheint, mit einem Säbel im Schach ‒ ja, er kneift dem mit einem Maulkorb Entwaffneten spöttisch ins Ohr ‒, während die Kette allerdings am Boden schleift. Der Musikant und Bärenführer mit Flöte und Trommel (→ Nr. 29), der auch einen Tanzschrift macht, wendet seine ganze Aufmerksamkeit einem als Hunde karikierten Incroyablen-Paar zu, das sich sorglos seinem Tanzvergnügen (→ Nr. 35) hingibt. Das „kuriose“ Stück empfängt seine dramatische Spannung durch die tiersymbolisch dargestellten Machtverhältnisse des Jahres 1797. Die Hündin ist à la grecque in ein feines, durchsichtiges Baumwollgewebe („linon“) gekleidet (→ Nr. 35-37).

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[Nr. 31]

C’est Incroyable 
vingt trois mille prisoniers.

In groß octav ein geistreich radirtes Blatt in braunlavirter Manier, es ist offenbar Bounaparte [sic] selbst, der hier als Incroyabel, doch sehr günstig und geschmackvoll, vorgestellt ist. Im Hintergrund sind Zelten an einem Berge und ein Gefecht auf einer Brücke. Das Gesicht hat sehr viel bedeutendes und eigenthümliches.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, C’est Incroyable / vingt trois mille prisoniers.

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C’EST INCROYABLE / vingt trois mille prisonniers

Aquatinta in „braunlavierter Manier“ (wie Goethe treffend schreibt); Platte 22,0 x 14,0; Bild 17,3 x 11,4; anonym; nach dem 2. Februar 1797; Musée Carnavalet.

Im Unterschied zur typisierenden Incroyable-Satire ist hier Bonaparte mit individuellen Zügen ausgestattet, obwohl die Ähnlichkeit nicht sehr stark ist. Der Abgebildete kann jedoch ‒ oder zumindest der Anlass der Abbildung ‒ anhand des Untertitels identifiziert werden: „vingt trois mille prisonniers“ bezieht sich auf die Übergabe Mantuas am 2. Februar 1797 an die französischen Truppen, wobei der österreichische Feldmarschall Dagobert Sigmund von Wurmser, dem persönlich freier Abzug gewährt wurde, angeblich 23000 Gefangene zurückließ. In einem Brief an das Direktorium vom 17. Januar 1797 nennt Bonaparte, der ständig über Eroberungen, Gefangene und erbeutete Kanonen, Fahnen etc. Bericht erstattet, selber diese Zahl (53), die dann zu propagandistischen Zwecken weiter verbreitet wurde. Doch können weder das von Goethe erwähnte „Gefecht auf einer Brücke“ noch die „Zelte an einem Berge“ genau lokalisiert bzw. datiert werden. Beide im Bildhintergrund angeordnete Motive gehören aber zur Vorgeschichte der Einnahme von Mantua, wo es selber keinen bedeutenden Brückenkampf gab. Bonaparte ist freilich mehrfach als heroischer „Überwinder“ von vom Feind verteidigten Brücken stilisiert worden; die Wirklichkeit war weniger glorreich (54). Unklar ist, welche Ortskenntnis der Pariser Künstler besaß. Die Brücke von Lodi, die am 10. Mai 1796 genommen wurde (55), war eine flache langestreckte Holzbrücke (56), keine bogenförmige wie die abgebildete. Die strategisch bedeutsamere Brücke von Arcole ‒ die Schlacht tobte hier vom 15.-17. November 1796 ‒ war ebenfalls eher flach, mit Holzbohlen bedeckt, soweit man historischen Gemälden vertrauen kann (57). Es scheint, der Künstler habe nur ein „Brücken-Zeichen“ setzen wollen. Auf jeden Fall trägt das Motiv zum in Italien geprägten Mythos „Bonaparte“ bei, es ist ein ikonisches Mythem der „passage“, konkret: „(militärisch erzwungene) Überquerung einer Brücke“, im übertragenen Sinne: „Zeiten- und Machtwechsel“. Das Prädikat „incroyable“ wird zum einen ikonisiert, insofern Bonaparte als Incroyable kostümiert und keineswegs in Uniform oder zu Pferd oder gar „in action“ dargestellt wird. Wenn man die Zeichnung von Hilaire Le Dru, gestochen von Pierre Charles Coqueret daneben hält, die Bonaparte in ähnlicher Physiognomie (Nase, Frisur etc.) und vor ähnlichem Hintergrund darstellt (aber seitenverkehrt) (58), könnte man die anonyme Aquatinta als deren „zeitgeistige“ Karikatur verstehen: Die Kleider werden getauscht ‒ modischer statt militärischer „look“ ‒, auch wird der Säbel durch den modischen Stock (→ Nr. 13) ersetzt. Allerdings ist der Stich Coquerets schon September/Oktober 1796 ausgestellt, so dass sich das Brücken-Motiv ‒ wenn die Angabe stimmt ‒ nicht auf Arcole beziehen kann (59). Im Bildtitel wird „incroyable“ als ironischer Superlativ eingesetzt, im Sinne von „unglaublich, aber wahr“. Die Aquatinta gehört eigentlich mehr zu der außenpolitischen Gruppe Nr. 3-9 des Italienfeldzugs, als an die ihr von Goethe zugewiesene Stelle. Sie ist allerdings ein frühes Zeugnis von Goethes Napoleon-Verblendung, was aus seinem eigentlich ungerechtfertigten letzten Satz zu schließen ist, der nur mit sehr viel Empathie nachzuvollziehen ist (60). 

Anmerkungen:

53 S. Napoléon Bonaparte: Œuvres, Paris: Panckoucke 1822, Bd. 1, S. 271; vgl. [François-René-Jean de Pommereul]: Campagne du général Buonaparte en Italie les années IVe et Ve de la République Française, Paris: Plassan u. Bernard 1797, S. 228 u. Emmanuel Auguste Dieudonné Marius Joseph de Las Cases: Mémorial de Sainte-Hélène ou journal où se trouve consigné, jour par jour, ce qu’a dit et fait Napoléon durant dix-huit mois, Paris: Dépot du Mémorial u.a. 1824 (verb. u. erw. Neudr.), Bd. 3, S. 265.
54 Vgl. Gilles Candela: L’Armée d’Italie. Des missionnaires armés à la naissance de la guerre napoleonienne, Vorw. v. Francis Pomponi, Rennes: Presses Universitaires de Rennes (Coll. Histoire), bes. S. 229ff.
55 Diese Brücke meint Nicholas Boyle (Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, übers. v. Holger Fliessbach, 2 Bde., Frankfurt/M.: Insel 2004, Bd. 2: 1790-1803, S. 431) auf der Radierung zu erkennen. 
56 Es gibt zahlreiche Abbildungen, die aber kaum authentisch sind, z.B. von George Cruikshank oder Fyain.
57 Hier gilt dasselbe wie in Anm. 49; zu nennen wären etwa Gemälde von Carle Vernet und Horace Vernet.
58 Abb. s. Bibliothèque nationale. Catalogue général; der Stich stammt aus dem Jahr 1796.
59 Vgl. Roux: Inventaire analytique, Bd. 4, S. 36, zu De Vinck, Nr. 6819. Unter Nr. 22985 des Catalogue du vidéodisque, Bd. 3, S. 398, wird allerdings die Beziehung zur Bataille d’Arcole betont. 
60 Roux (ebd., zu De Vinck, Nr. 6819) kommentiert: „Après le 18 brumaire, Coqueret remania sa planche en substituant à la tête du général Bonaparte la tête, un peu plus ressemblante, du Premier Consul, avec les cheveux courts et le visage maigre.“

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[Nr. 32]

C’est Inconcevable
tu nest pas reconnoissable.

Ein kleines Bild in Rund. Eine Pastetenhändlerinn erstaunt über ein hübsches junges Mädchen, das im neusten Costum von einem Incroyabel geführt wird

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, C’est Inconcevable / tu nest pas reconnoissable

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C’EST INCONCEVABLE. / tu n’est pas reconnoissable.

Radierung, koloriert; Platte 24,3 x 15,6; Bild 20,5 x 13,4, Durchmesser Medaillon 10,9; www.lamesure.fr. 

Die Verkäuferin trägt Schürze und Haube (→ Nr. 10), während sich die ehemalige Freundin und/oder Standesgenossin in ein „griechisches“ Gewand geworfen hat (→ Nr. 16, 19, 26, 35-37). 

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2.) Paarweis in galanten und leidenschafftlichen Verhältnissen untereinander

[Nr. 33]

Le Dejeuner.

Ein Incroyable trinkt mit einem Mädchen Chocolade und sieht sie über den Tisch hinüber mit der Lorgnette an. Unbedeutend, ja schlecht.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Le Dejeuner

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LE DEJEUNER

Punktierstich; auch koloriert; Platte 33,9 x 37,9; Bild 27,9 x 33,3. Gabriel sculp.; Graphische Sammlung Albertina, auch British Museum.

Bemerkenswert ist hier eigentlich nur der Titel, der hinsichtlich der Darstellung und Goethes Kommentar nicht heutigen Vorstellungen entspricht. Emigration, Machtverlust und (teilweise) Verarmung des Adels setzen zahlreiche Köche auf die Straße und veranlassten sie zur Öffnung von Restaurants, Wirtshäusern etc. Diese wiederum befriedigen den gestiegenen Bedarf der Neureichen an Luxus auch im Bereich des Essens und Trinkens. Hinzu kommt ein Wandel in den kulinarischen Gepflogenheiten, was einen Wandel in der gastronomischen Terminologie zeitigt, der sich auch größtenteils durchgesetzt hat (61). Wird auf dem Stich unter dem Titel „Déjeuner“ allenfalls eine Schokolade, so Goethe, oder ein Kaffee serviert, so zeigen andere Stiche unter demselben Titel voller besetzte Tafeln (62). Entweder der Garçon bringt (wörtlich) nur ein „petit déjeuner“, was heute „Frühstück“ bedeuten würde, oder das mondäne Paar kann sich kein vollwertiges „déjeuner“, d.h. Mittagessen, leisten. Es wird in der Tat über hohe Preise und kleine Portionen geklagt. Der Incroyable lorgnettiert allerdings weniger den leeren Tisch als sein „merveilleuses“ Gegenüber (→ dessen Geste Nr. 16). Da Goethe zeitlebens „Dejeuner“ als Synonym bzw. Übersetzung von „Frühstück“ gebraucht, fällt ihm der eventuelle Kontrast nicht auf.

Anmerkungen:

61 An die Stelle von „déjeuner“ (< vulglat. disjunare = das Fasten brechen) im Sinne von „Frühstück“ tritt „petit déjeuner“; Nomen bzw. Verb halten sich aber in Redewendungen (z.B. partir tôt le matin sans déjeuner). „Déjeuner“ als Mittagessen wiederum verschiebt „dîner“ und „souper“ auf die Abend- und Nachtzeit.
62 So z.B. die Abb. 14 aus dem Jahr 1802 in: Goncourt: Histoire de la société française pendant le Directoire, o.S.: „Le Déjeuner (Café Frascati)“; → Nr. 34.

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[Nr. 34]

La Science du Jour

M.lle Manon, nicht die frischeste Schönheit, verwundert sich daß sie einen albernen Jungen, den sie sonst als Perückenmacher gekannt haben mag, nunmehr als Fournisseur, als Leckerbissenhändler an seinem wohlbesetzten Tischchen findet.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, La Science du Jour

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LA SCIENCE DU JOUR

M.lle MANON
Quoi! de Perruquier fournisseur!
Trinquons, Buvons / Tandis que nous vivons

LE PERRUQUIER 
Que veux tu, mon enfant, faut bien prendre l’argent comme il vient!
La Parque file et de sa main, / Le fuseau peut tomber demain &c.

Radierung, z.T. punktiert; Platte 31,0 x 35,9; Bild 27,5 x 32,8; anonym; Se vend à Paris chez Toulouse Cloitre S.t Germain l’Auxerrois; Bibliothèque nationale.

Hier darf gesagt werden: Goethe irrt. Ein „fournisseur“ ist kein „traiteur“ (→ Nr. 23), also kein Gastronom oder gar „Leckerbissenhändler“, sondern ein Heereslieferant. Verpflegung, Ausrüstung und Munitionierung der französischen Armee waren seit Thermidor wieder über private Unternehmer organisiert, ein „Erbe“ des Ancien Régimes. Das liberale Bürgertum vertrat die Auffassung, dass der Staat „keine Geschäfte“ machen dürfe. Die „fournisseurs“ beschafften dem finanzschwachen Staat die erforderlichen Waren, indem sie sich auf verschiedenste Art und Weise entschädigen ließen bzw. schadlos hielten. Betrug und Korruption (bis in die Regierungsspitzen und Generalität hinein) waren an der Tagesordnung. Nicht zuletzt durch Spekulation gelang es etlichen Unternehmern ungeheure Vermögen anzuhäufen und dadurch einen Markt für Luxus jeder Art zu schaffen. Der „fournisseur“ auf dem Bild genießt also („Trinquons, Buvons“), was auf seinem „wohlbesetzten Tischchen“ aufgetürmt ist.

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[Nr. 35]

La Folie du Jour.

Indessen ein alter frazenhafter Kerl, auf einem Tabourett sitzend mit vielen Bouteillen umgeben ist, tanzt ein Incroyabel mit einer Tochter der Natur eine figurirte Allemande.

Töchter der Natur, so möchte ich einstweilen diejenigen Mädchen nennen, die nunmehr öfters vorkommen und Arme, Nacken, Busen ganz entblößt und den übrigen Cörper nur durchsichtig bekleidet zeigen.
Obiges Bild ist geschmackvoll und das tanzende Paar sehr zierlich gezeichnet.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, La Folie du Jour

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LA FOLIE DU JOUR.

Punktierstich; Platte 35,2 x 39,2; Bild 27,8 x 33,3; auch in Medaillon-Form und in Mezzotinta; nach einem Ölgemälde von Boilly; [Salvatore] Tresca sculp.; A Paris chez l’Auteur, Rue des Mathurins N° 334; 3 livres; dépot 18. Februar 1797; Bibliothèque nationale, auch British Museum.

Ob nun das elegante Paar eine „Allemande“, wie Goethe meint, oder eine „Anglaise“, wie es der Almanach vermutet (63), oder einen „pas de deux“, Mercier zufolge (64), tanzt ‒ oder aber (nicht unwahrscheinlich) einen aus der Hauptstadt des Feindes, Wien, importierten Walzer ‒, gleichviel: der Stich bezeugt so oder so die „dansomanie“ des Directoire, von der auch der schon genannte Mercier immer wieder berichtet. Dieser beschreibt auch das harte „métier“ des „ménétrier“, des Geigenspielers, den man zu jeder Tages- und Nachtzeit herbeiruft: „Quel chien de métier! dit-il; il se lève, il gronde, il s’habille; il va gagner six écus de six livres, sans compter trois bouteilles de vin dont il ne laissera pas une goutte.“ (65) Für diesen musikgeschichtlichen Hintergrund interessiert sich Goethe nicht. Er erkennt auch nicht, dass der auf einem Schemel sitzende Geiger dem Lyra spielenden Gott Chronos in einem Gemälde Nicolas Poussins nachgebildet ist (66), obwohl er den Künstler schätzt (vor allem als Landschaftsmaler) und 22 Kupferstiche von ihm besitzt. Freilich tanzen vor Chronos vier Personen: einen Rundtanz. Das barocke zwischen „vanitas“ (Stundenglas!) und „carpe diem“ (→ Nr. 34: „Trinquons. Buvons“) oszillierende Motiv übersetzt Louis-Léopold Boilly 1796 oder 97 in ein Ölgemälde (67), von dem aus dann Salvatore Tresca den vorliegenden Stich angefertigt hat. Boillys Bildnis ist gänzlich entmythologisiert ‒ anstelle des Stundenglases vier Weinflaschen (eine mehr als üblich)! ‒ und hochgradig erotisiert. Das zeigt das sardonische Grinsen des „fratzenhaften“ Musikanten, der sich wollüstig, wie auch der Almanach bekundet, mit der Zunge über die Lippen fährt (68). Schuld daran sind nicht nur Wein und Musik, sondern auch das durchsichtige Gewand der wohlgestalteten Tänzerin, die anakreontische Trias also: Wein, Weib und ‒ Musik.

Goethe prägt für die weibliche Figur eigens einen Begriff, den er unterstreicht: „Tochter der Natur“. Er hat die gräkomane „Nuditäten-Mode“ (69) schon auf anderen Stichen wahrgenommen (→ Nr. 16, 32, 36f.) und zeigt sich auch stets für die Enthüllungen des weiblichen Beins empfänglich (→ Nr. 15, 17f. u.ö.). Die Merveilleuse trägt wie Madame Tallien unter dem ziemlich durchsichtigen „griechischen“ Gaze-Kleid eine Art „Minirock“, der, fleischfarben, wie Mercier schreibt, die Imagination reize (70). Goethe nimmt an der Lockerung des Sittenkodexes keinerlei Anstoß. Kaum ironisch greift er zu einem Euphemismus, um den modischen Kult der Nacktheit, der an die (aristokratische) Frivolität des Ancien Régimes wieder anknüpft, zu rechtfertigen. Er folgt darin sowohl seinen eigenen in Italien geprägten erotischen Erfahrungen (→ Nr. 17) als auch dem Modereporter des „Journals des Luxus und der Moden“, welcher schreibt: „Jede Mode behagt mir, und sollte, meyn‘ ich, uns allen behagen, die den Wuchs des Körpers hebt, sich ihm anschmiegt, der Natur sich nähert, die der Modegöttin zu Regeln der Bekleidung und des Putzes so schöne, leichtverständliche Winke gibt.“ (71)

Anmerkungen:

63 Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, S. 11.
64 Mercier: Le Nouveau Paris, S. 626,
65 Ebd., S. 402.
66 Nicolas Poussin: Dance to the Music of Time, 1638, in der Wallace Collection, London. Das signifikante Stundenglas hält ein Putto zu Chronos’ Füßen.
67 Öl auf Leinwand; 31 x 40; Abb. 9 in: Cinquantenaire du Musée Marmottan: Louis Boilly 1761-1845, Ausst. 3. Mai - 30. Juni 1984, Paris: Musée Marmottan, S. 32. Im Städel Museum, Frankfurt/M. (Graphische Sammlung/18. Jahrhundert, in: www.staedelmuseum.de/sm/index.php) findet sich eine Federzeichnung Boillys (32 x 40), wo der im Profil sehr „knochige“ Musikant eher als auf dem Gemälde den Tod personifiziert/assoziiert. Dieser Aspekt ist bei Tresca verschwunden.
68 http://www.lamesure.fr/rubriques/modeselegants.html vertritt die (weniger wahrscheinliche) Ansicht, dass der Musiker das sauer verdiente Geldstück zwischen den Zähnen hält. Man darf aber wohl auch den auf Toulouse-Lautrecs Cancan-Plakate vorausweisenden Geigenhals als phallisch interpretieren. Der Musikus partizipiert jedenfalls am Vergnügen.
69 Anonym: Frankfurt a. M., den 8. April 1797, in: Journal des Luxus und der Moden, Jg. 12 (Mai 1797), S. 268-271, hier S. 268.
70 Mercier: Le Nouveau Paris, S. 412, vgl. S. 338.
71 Journal des Luxus und der Moden, Jg. 12 (September 1797), S. 436.

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[Nr. 36]

Point de Convention.

Ein Incroyabel, dem eben ein Savoiard an den Stiefel pinselt, bietet herumgewendet einer Tochter der Natur ein Geldstück. Heiter und ruhig steht sie vor ihm und scheint, indem sie beyde Zeigefinger, über einander schlägt, auf ein allzukleines Maas zu deuten; sehr artig componirt und trefflich gestochen.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Point de Convention

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POINT DE CONVENTION

Punktierstich; Platte 35,5 x 39,6; Bild 27,8 x 33,6; nach einem Ölgemälde Boillys; (72) Tresca sculp.; Chez l’auteur Rue des Mathurins N° 334; 5 livres; Bibliothèque nationale.

Die hier abgebildete „Tochter der Natur“ ist offensichtlich eine „payable“ (→ Nr. 38), eine käufliche: eine von ca. 30000 Prostituierten ‒ bei einer Einwohnerzahl von 600000-800000 im Paris des Directoire (73). Goethe berührt diesen Sachverhalt nicht im mindesten. Der Titel scheint anzudeuten, dass der Preis zu gering ist, den der Incroyable für welche Dienste auch immer bietet. Goethe, keineswegs prüde, könnte aber auch die obszöne Geste (gespreizte Finger der linken Hand für weibliches Genital und Zeigefinger der rechten Hand für Penis) missverstanden haben ‒ wie möglicherweise schon einmal, als ihm die römische Faustine „das Zeichen der römischen Fünfe / Und ein Strichlein davor“ (MA 3.2, 64) auf den Wirtshaustisch malt. Der Almanach hält die Zweideutigkeit der Geste fest, die das Objekt der Begierde aus zweierlei Perspektive, einer sexuellen und einer finanziellen, zeigt (74). Boillys Gemälde und die Brüder Goncourt belegen, dass es um das Palais-Royal herum (75) Edelkurtisanen ganz nach Goethes Geschmack gegeben hat: „vêtues d’un goût meilleur, et provocantes de simplicité: robe, châle, tout ce qui a mission de les voiler à peu près est gaze et linon; elles sont toutes blanches, toutes aériennes […]“. (76

Anmerkungen:

72 Öl auf Leinwand; 31 x 40; Abb. 8 in: Cinquantenaire du Musée Marmottan: Louis Boilly 1761-1845, S. 31.
73 Vgl. schon in vorrevolutionären Zeiten Mercier: Le Tableau de Paris, S. 238ff.
74 Quelle Folie, S. 45: „refus“ und „article“, d.h. es geht um die „Sache“, um den Schwabinger Kultfilm der späten 60er Jahre („Zur Sache Schätzchen“) zu zitieren.
75 Vgl. Les Demoiselles Chit-Chit du Palais-Royal. Suivies de la Declaration des droits des citoyennes du Palais, les Œufs de pâques des demoiselles du Palais-Royal, Pétition des 2100 filles du Palais-Royal, Requête présentée par les filles d’amour, Tarif des filles du Palais-Royal, Nouvelles liste des plus jolies femmes publiques; pièces révolutionnaires publiées de 1790 à 1801, San Remo: Gay & fils 1874.
76 Goncourt: Histoire de la société française pendant le Directoire, S. 68.

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[Nr. 37]

Faites la Paix.

Eine Tochter der Natur bestrebt sich lebhaft zwey, die den Degen gezogen haben, auseinander zu bringen; sie wirft sich auf die Seite des roheren Incroyabels und hält den andern, der in ein mäßiges Costum gekleidet ist, mit der ausgestreckten Hand zurück. Gut gedacht und komponiert, schwach gestochen.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Faites la Paix

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FAITES LA PAIX.

Punktierstich; auch koloriert; Platte 35,5 x 39,2; Bild 27,9 x 33,2; andere Version in ovalem Medaillon („II faut faire la paix“); nach einem Ölgemälde Boillys (77); [J. P.] Levilly sculp.; A Paris chez Tresca Rue des Mathurins N. 334; 3 livres; Bibliothèque nationale.

Der Unterschied in Haartracht, Frack- und Hutform der beiden männlichen Figuren könnte anzeigen, dass es sich um eine Eifersuchtsszene zwischen einem Aristokraten (links) und einem bürgerlichen Incroyable (rechts) handelt. Letzterer ist eindeutig zu identifizieren. Sein aristokratischer Rivale trägt jedenfalls eine altmodisch gerollte Perücke „à bourse“ mit einem „catogan“ (Haarknoten), sein Frack ist nicht „gerade“ geschnitten, der Hut kann nicht genau bestimmt werden, entspricht aber nicht dem von den Incroyablen bevorzugten Typ (→ Nr. 13). Der Appell der Merveilleuse versteht sich vor dem Hintergrund der royalistischen Neigungen der „jeunesse dorée“ und beschwört somit eine Gemeinschaft.

Anmerkungen:

77 Öl auf Leinwand; 32 x 40; Abb. 10 in: Cinquantenaire du Musée Marmottan: Louis Boilly 1761-1845, S. 33.

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[Nr. 38]

Les Payables.

Ein Incroyabel zwischen zwey Frauenzimmer, die nach den Stickereien ihrer Gewändter und den Spitzen und Schleyer ihrer Schürzen eine Dame und ein Kammermädchen aus früherer Zeit seyn könnten, hält einen vollen Beutel in die Höhe, nach dem sie beyde lüstern zu seyn scheinen. Einfach aber mit Verstand componirt, die Figuren sind sehr characteristisch und der Stich in allen Details sehr ausführlich.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Les Payables

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LES PAYABLES.

Radierung, z.T. in Punktiermanier; Bild 27,1 x 42,6; unterer Rand 2,2; anonym; A Paris chez Darcis, Rue Montmartre N° 110 et 98; 2 livres; Bibliothèque nationale

Als Modekenner beobachtet Goethe auch eine Mobilität im Bereich der käuflichen Liebe: eine möglicherweise von der Not getriebene Aristokratin (links; → Nr. 47) und ‒ wie Goethe annimmt ‒ ihre frühere Zofe (rechts) finden sich wie Herr und Diener in Stich Nr. 13 auf derselben sozialen Ebene wieder, d.h. aber hier im „horizontalen Gewerbe“. Der erhobene Beutel des Incroyable signalisiert auch, dass Bargeld zur Zeit der Inflation und des Papiergelds (→ Nr. 46) äußert rar und wertvoll war, d.h. hoch im Kurs stand. Der Tarif für eine „Tochter der Natur“ reicht nach zeitgenössischen Quellen von schlichten 3-4 livres ‒ der Preis etwa für einen Kupferstich ‒ über 18 livres „le souper et la nuit“ bis ca. 36 livres „la journée“ usw. Manches war freilich „impayable“.

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3.) In Verhältnissen zu veralteten Fratzen.

[Nr. 39]

Monsieur le Baron et Madame la Baronne de Sotenville choqués de la mise ridicule des citoyens incroyables et des citoyennes, pas possible.

Ein schlechtes Blatt das aber doch, indem es die neuen und alten Absurditäten gegeneinander setzt, interessant ist.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Monsieur le Baron et Madame la Baronne de Sotenville choqués de la mise ridicule des citoyens incroyables et des citoyennes, pas possible.

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Monsieur le Baron et Madame la Baronne de Sotenville choqués de la mise ridicule des citoyens incroyables et des citoyennes, pas possible.

Radierung; Platte 22,1 x 26,8; Bild 19,5 x 24,0; DW inv. [Rest unleserlich]; Bibliothèque de l’Arsenal.

Monsieur et Madame de Sotenville sind Figuren aus Molières Komödie „Georges Dandin ou Le Mari confondu“ (→ Nr. 1). Monsieur ist „gentilhomme campagnard“, gehört also dem Landadel an. Sein Name ist sprechend und bedeutet so viel wie „Stadt-Tölpel“. Damit wird auch deutlich, dass der geographische Fokus der satirischen Stiche, abgesehen von den kaum spezifizierten italienischen Kriegsschauplätzen, Paris ist; die Provinz bleibt außen vor. Während Incroyable und Merveilleuse im bekannten Outfit vorgestellt werden (→ Nr. 13ff.), tragen Monsieur und Madame die aristokratische Tracht „de cérémonie“ vergangener Zeiten: „habit“ oder „frac“ bzw. „robe à la française“, letztere durch querovale „paniers à coudes“  ausgebuchtet. Man beachte besonders auch die aufgetürmte Frisur der Dame, die von einem „panache de plumes“ gekrönt ist.

Anmerkungen:

78 „à coudes“, weil man die Ellbogen (frz. le coude) darauf ablegen konnte.

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[Nr. 40]

Ah! Quelle Antiquité!!!
Oh! Quelle Folie que la Nouveauté…

Ein grösseres Blatt besser gearbeitet und in dem Sinn wie das vorige interessant.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Ah! Quelle Antiquité!!! / Oh! Quelle Folie que la Nouveauté…

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AH! QUELLE ANTIQUITÉ!!! OH! QUELLE FOLIE QUE LA NOUVEAUTÉ …

Radierung; Platte 26,5 x 40,3; Bild 23,9 x 39,4; [Alexis] Chataignier inv. sculp.; A Paris, chez [François-Jules-Gabriel] Depeuille, rue des Mathurins S.t Jacques N° 174; Bibliothèque nationale.

Das aristokratische Kostüm des Ancien Régime (→ Nr. 39) wird witzigerweise im Kontrast zur Antikomanie der Merveilleusen (→ Nr. 16, 35-37) als „Antiquität“ bezeichnet. Zum epochalen Motiv der „folie“ → Nr. 35.

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4.) In Finanz oder andern politischen Verhältnissen.

[Nr. 41]

L’Incroyable chez le Dentiste.

Es wird ihm auf eine bösliche Weise sein Zahn gegen die Republik ausgezogen.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, L’Incroyable chez le Dentiste

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L’INCROYABLE CHEZ LE DENTISTE.

Contre les Républicains ils ont conservés / Une dent implacable qu’il faut arracher.

Punktierstich, z.T. radiert; Platte 31,7 x 23,9; Bild 27,5 x 20,9; anonym; A Paris Chez [Jean Baptiste] Huet fils rue des Fossés M.r le Prince N 88; 1 livre, 10 sous; Bibliothèque nationale.

Der Zahnarzt trägt als Berufskleidung eine Zipfelmütze. Mit Hilfe einer Brechstange, die sein junger Gehilfe zwecks Verstärkung der Hebelwirkung bedient, extrahiert er einem bekanntlich royalistisch ‒ und hier auch noch katholisch ‒ gesonnenen Incroyable (→ Nr. 13) einen Zahn (ohne Anästhesie). Die Länge des Hebels scheint übertrieben, wohl um die Schwierigkeit der Operation darzustellen. (Normalerweise verwendete man einen sog. Geißfuß von max. 20 cm Länge.) Die an der Wand aufgehängten Zahntrophäen tragen das Zeichen des christlichen Kreuzes und der bourbonischen Lilien.

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[Nr. 42]

La Faction Incroyable.

Ein junger Mensch muß im Regenwetter einen alten zerlumpten Kerl von seinen Posten ablösen, der ihm einen zerlöcherten Ueberrock anbietet.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, La Faction Incroyable

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LA FACTION INCROYABLE.

C’est affreux! Par un tems comme cela… ‒ eh! ben Camarade endosse la Capote?

Radierung; Platte 25,9 x 36,9; Bild 23,5 x 31,9; anonym; A Paris, chez Charon Libraire M.d d’Estampes et de Musique: Passage Feydeau; 1 livre; Bibliothèque nationale.

Eine allgemeine Wehrpflicht wurde in Frankreich erst am 5. September 1798 eingeführt, das entsprechende Gesetz nach seinem Urheber benannt: „la loi Jourdan“. Da Goethe die Stiche etwa ein Jahr zuvor gesehen hat, kann sich das in Frage stehende Blatt nicht konkret auf die „conscription“ der „jeunesse dorée“ beziehen, eher auf die vorausgehende Diskussion des Sachverhalts im Modus des „wie wäre es, wenn…“. Hatte die „levée en masse“ 1793 die Heeresstärke auf rund eine Million Soldaten anschwellen lassen, so stellte die nachlassende Wehrwilligkeit der Jugend und eine nach den Siegen der Republik zunehmende Desertion die Armee vor beträchtliche personelle Schwierigkeiten. Sie war 1796 auf etwa 400.000 Mann geschrumpft. Um die Unerfahrenheit der Freiwilligen zu kompensieren und Reibungen mit dem stehenden Heer zu vermeiden, wurde das sog. „Amalgam“-Prinzip erprobt, d.h. die Zusammenlegung von zwei Bataillonen Freiwilliger und einem Bataillon Linientruppen zu einer „Halbbrigade“(weil „Regiment“ zu royalistisch klang). Wenn der Incroyable wiederum (→ Nr. 2, 3, 13) den Epochaltyp der jungen Generation symbolisiert ‒ denn natürlich trug diese im Dienst auch Uniform ‒, dann wird hier das „rencontre“ von neueingezogenen und altgedienten Soldaten thematisiert. Deren Uniform und Ausrüstung wirken heruntergekommen, was sich in Bonapartes Proclamation à l’Armée vom 27. März 1796 widerspiegelt: „Soldats, vous êtes nus, mal nourris; le Gouvernement vous doit beaucoup, il ne peut rien vous donner. Votre patience, le courage que vous montrez au milieu de ces roches [les Alpes] sont admirables; mais il ne vous procure aucune gloire, aucun éclat ne rejaillit sur vous. Je veux vous conduire dans les plus fertiles plaines du monde. De riches provinces, de grandes villes seront en votre pouvoir; vous y trouverez honneur, gloire et richesses.“ Die Wache Schiebenden tragen das Steinschlossgewehr Charleville.

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[Nr. 43]

Ah! Quil est donc Drole!
Hai! dis donc ma lorgnette te Fait peur?

Ein ungeheurer Septembrisirer ergreift einen Incroyabel und betrachtet sein erschrocknes Gesicht durch eine große Lorgnette; ein Knabe läuft vorbey und lacht über den Erschrocknen.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Ah! Quil est donc Drole! / Hai! dis donc ma lorgnette te Fait peur?

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AH! QUIL EST DONC DROLE! HA! DIS DONC MA LORGNETTE TE FAIT PEUR?

Punktierstich; Platte 31,9 x 39,2; Bild 26,4 x 34,4; anonym; Bildzitat im Bild links → Nr. 13; 2 livres; Bibliothèque nationale, auch British Museum.

Der Text links ist dem Knaben zuzuweisen, der den Stich Nr. 13 in der linken Hand hält, der Text rechts dem „Septembrisierer“ (< frz. septembriseur). Mit diesem Neologismus (79) spielt Goethe auf die sog. Septembermassaker vom 2.-7. September 1792 an: eine von Fréron publizistisch vorbereitete Terroraktion gegen inhaftierte Priester, die den Eid auf die Verfassung verweigerten, sowie andere der Konterrevolution Verdächtige. Die Erinnerung daran dürfte fünf Jahre später wohl schon verblasst sein, anders als es Goethe sieht, vielmehr geht es um ein Wiedererstarken der jakobinischen Bewegung, zu deren Niederschlagung 1794 die Incroyables ja wesentlich beigetragen hatten (→ Nr. 13). Der den Incroyable bedrohende Jakobiner, der zwar die Carmagnole (die ärmellose Weste) trägt, aber keine „pantalons“, könnte auf die „Conjuration des Egaux“ François Noël Babeufs hinweisen, die in den Jahren 1795/96 einen kommunistischen Staat einzurichten versuchte; Babeuf wurde schließlich am 27. Mai 1797 hingerichtet. Der (angenommene) „Babouvist“ nimmt den Incroyable mit dessen Lieblingsspielzeug, der Lorgnette, ins Visier (→ Nr. 13, 18, 23, 33), was bedeutet: Meine Sicht der Dinge macht dir wohl Angst? (80

Anmerkungen:

79 Er findet sich auch bei Jean Paul, Georg Büchner („Dantons Tod“) u.a.
80 Zum revolutionären „tutoiement“ → Nr. 15.

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[Nr. 44]

Les incorrigibles au Palais égalite.

Ein Rentenier scheint von einem wunderlich gekleideten Kerl Mandate einzulösen, indem ein junger Bursche auf der andern Seite seine Taschen bestiehlt, ein Mädchen das dabeysteht scheint auf der Stelle des Verkäufers zu seyn.

Fehlt in allen mir zugänglichen Quellen; zum Motiv → Nr. 51. Als „Palais-Egalité“ wurde das 1624 von Kardinal Richelieu gekaufte und erweiterte, 1643 in den Besitz des Königs übergegangene Palais-Royal bezeichnet; später als Apanage Louis-Philippe-Joseph duc d’Orléans zugesprochen, der sich ‒ liberal eingestellt ‒ Philippe Egalité nennen ließ. Er erweiterte nochmals den Bau und öffnete die Anlage samt Park dem Volk (daher ‒ vorübergehend ‒ der Name). Auf Grund seiner Nähe zur Börse wurde das Anwesen zum Ort verschiedenster Laster und Vergnügungen ‒ wie auf zahlreichen Gemälden und Stichen dokumentiert. Eindrucksvoll hat vor allem Louis-Léopold Boilly Prostitution und Agiotage in den Galerien des Palais abgebildet (81).

Anmerkungen:

81 S. Susan L. Siegfried: The Art of Louis Léopold Boilly. Modern Life in Napoleonic France, New Haven u. London: Yale University Press 1995, S. 57ff.

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[Nr. 45]

Promenade du Parvenu et du Rentier.

Aus einem einspännigen hohen Wagen, dessen Pferd ein Frauenzimmer regirt, sieht ein junger Mensch im neuen Costum auf einen Mann im Mittelalter vom vorigen Costum herunter, dieser erkennt mit Verwunderung in dem Vorbeyfahrenden seinen ehemaligen Bedienten

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupfertiche, 1797. Satire, Französische Revolution. Promenade du parvenu et du rentier

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PROMENADE DU PARVENU ET DU RENTIER.

Bon jour mon ami… Ah! te voila Lapierre comme tu est beau / depuis tu n’est plus chez moi

Radierung und Aquatinta; Platte 27,5 x 35,8; A Paris chez Depeuille, rue des Mathurins, aux deux Pilastres d’or; 15 sous; British Museum.

Spaziergang oder Spazierfahrt gehörten zu den Vergnügungen der postrevolutionären Gesellschaft und dienten insbesondere dem „Sehen und Gesehen-werden“. Zeichen der sozialen Mobilität, boten sie Anlass zu unterschiedlichen Begegnungen. Hier promenieren ein Parvenu mit Begleiterin ‒ beide in der typischen Montur eines Incroyable bzw. einer Merveilleuse (→ Nr. 15, 22) ‒ in einem „Wiski“ (< engl. whisk: schnelle Bewegung), d.h. in einem leichten zweirädrigen Cabriolet mit einem Zugpferd, während ein verarmter, altmodisch gekleideter Rentier zu Fuß geht. Der Incroyable erkennt in diesem seinen ehemaligen Herrn (→ Nr. 13), den er herablassend mit „bon jour mon ami“ begrüßt (82). Das besondere Vergnügen der Merveilleuse besteht darin, selbst zu „chauffieren“ (→ Nr. 22).

Anmerkungen:

82 In „Goethe und die postrevolutionäre Bildsatire“ (S. 329) hatte ich eine seitenverkehrte Kopie des Originals abgedruckt; statt einer Allee wurde hier ein herrrschaftliches Haus im Hintergrund abgedruckt (→ Nr. 25).

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[Nr. 46]

Pauvre Rentier ruiné
Merlan à frire-à-frire…

Eine Fischhändlerin flieht vor dem Gespenste eines Renteniers indem es ihr [ihm!] ein Almosen zurück reicht.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Pauvre Rentier ruiné Merlan à frire-à-frire…

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Pauvre Rentier ruiné / Merlan à frire-à-frire…

[In der Tasche links]
Extrait d’Inscription au Grand Livre.

Radierung, z.T. in Punktiermanier; Bild 27,8 x 32,8; unterer Rand 2,2; gravé par [Laurent-Joseph] Julien; A Paris, chez l’Auteur, rue Dauphine, vis-à-vis celle Contrescarpe, Maison du Sellier, au 2e; dépot 9. März 1797; Journal de Paris, 24. März 1797; Bibliothèque nationale.

Dieser sozialkritische Stich spielt auf den Zusammenbruch des französischen Finanzsystems an. die sog. Assignaten (assignats) waren zunächst verzinsliche Staatsobligationen, die seit dem 19. Dezember 1789 auf enteignete Kirchengüter, königliche Domänen usw. ausgestellt wurden (< assigner = anweisen), um die enorme Schuldenlast des Staates zu tilgen. Indessen heizten die finanzpolitisch unerfahrenen „Revolutionäre“ durch immer weitere Emissionen die Inflation an. Nachdem die Assignaten durch Spekulation und nicht zuletzt auch durch Fälschungen (83) ihren Wert als Zahlungsmittel verloren, sollten sie nach dem 18. März 1796 in sog. Territorialmandate (mandats territoriaux) umgetauscht werden. Binnen weniger Monate verfiel auch diese Währung der Inflation. Am 4. Februar 1797 wurde das Papiergeld abgeschafft. Die gesellschaftlichen Auswirkungen, die Goethe aus eigener Anschauung mit „grenzenlosem Unglück“ (MA 14, 427) und „ungeheurem Übel“ (MA 14, 440) beschreibt, waren in der Tat verheerend. Alle, die mit Assignaten bezahlt wurden (84), oder deren Einkünfte staatliche „Renten“ waren (85), sowie diejenigen, die Assignaten angesammelt hatte, wurden ruiniert.

Der ruinierte Rentier, der seiner Kleidung und des Degens wegen als Aristokrat zu identifizieren ist, macht einen so erbärmlichen Eindruck, dass ihn selbst eine einfache (ambulante) Fischverkäuferin ein Almosen reicht, indem sie sich entsetzt von ihm abwendet. 
Goethe hat in „Faust II“ die Erfindung des Papiergelds dramatisch gestaltet. Seine Erfahrungen mit „assignats“ und „mandats territoriaux“ liegen zwar mehr als 30 Jahre zurück, aber die Schilderung des durch die „Zauber-Blätter“ (MA 18.1, 152, V. 6157) ermöglichten („payable“ → Nr. 38) „savoir vivre“ (Essen, Trinken, neue Kleidung, Liebesgunst etc.) erinnert stark an das leichte Leben im Directoire (vgl. MA 18.1, 150, V. 6083ff.).

Anmerkungen:

83 Emigranten führten eigene Papiergeld-Druckmaschinen mit sich; Goethe besieht eine solche „Assignatenfabrik“ (MA 14, 427) auf der „Campagne in Frankreich“ bei Arlon. Offenbar brachte das feindliche Großbritannien auch gezielt Falschgeld in Umlauf, um den französischen Staat in den Ruin zu treiben.
84 Da auch der Sold der Soldaten in „assignats“ ausgezahlt wurde, versteht sich deren Gier nach Plünderungen.
85 Diese Staatsschulden, die sich 1789 auf 50% der staatlichen Ausgaben beliefen, wurden am 24. August 1793 im „Grand livre de la dette publique“ verzeichnet. Durch die Umstellung der Renten auf Assignate war zwar der Staat seine Verpflichtungen los, hatte aber sämtliche Rentiers ins Elend gestürzt.

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[Nr. 47]

Le Riche du Jour ou le Préteur Sur Gages.

Das Gespenst einer ehemalig wohlhabenden Frau bietet einem Ungeheuer, von grobem dicken Wuchrer einige altmodische Bijous an.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Le Riche du Jour ou le Préteur Sur Gages

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LE RICHE DU JOUR OU LE PRÉTEUR SUR GAGES.

Je prête, Madame, à mes Concitoyens à deux cent pour cent d’intérêts.

Radierung, z.T. in Punktiermanier; auch koloriert; Bild 27,3 x 32,6; unterer Rand 2,9; gravé par J. L. Julien; A Paris, chez l’Auteur, rue Dauphine, vis-a-vis celle Contrescarpe. M.on du Sellier. N° 71. Et chez Depeuille, rue des Mathurins, aux deux Pilastres d’Or; 2 livres; Bibliothèque nationale.

Die in Nr. 46 thematisierte Finanzkrise machten sich skrupellose Pfandleiher zunutze, um verbliebene Wertsachen zu überhöhten Zinsen in Bargeld umzutauschen oder einfach aufzukaufen. Wie Goethe wohl richtig vermutet, gehört die verschleierte Dame dem verarmten Adel an. Sie möchte der Schande wegen, Familienschmuck, ja ein Kreuz zu versetzen oder zu verkaufen, ihr Inkognito wahren. Sie verhandelt gerade wegen eines vermutlich wertvollen Stocks, vermutlich ihres Ehegatten (86). Der Pfandleiher ist als Incroyable karikiert.

Anmerkungen:

86 Auf fast allen Stichen, die männliche Figuren zeigen, tragen diese einen Gehstock (canne), keulenförmig oder in schlanker Ausführung, Adlige oder Militärs tragen Degen (Säbel die unteren Dienstgrade), der Papst geht an Krücken (→ Nr. 7f.).

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[Nr. 48]

L’Impayable Rentier de l’Etat.
Que ne suis-je Camus…

Ein langnäsiger, hagrer, zerlumpter Rentenier deutet bedächtig auf seinen Nahmen

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, L’Impayable Rentier de l’Etat. / Que ne suis-je Camus…

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L’IMPAYABLE Rentier de l’Etat.

Que ne suis-je Camus …

Radierung; Platte 25,1 x 17,7; Bild 19,9 x 13,3; auch Kopie in Medaillon-Form; B.(?) inv.; G. D.(?) pinx.; 15 sous; zwischen dem 23. Januar 1796 und dem 20. Mai 1797; Bibliothèque nationale, auch Schloß Friedenstein Gotha.

Goethe kennt offenbar Armand-Gaston Camus nicht (daher lässt er wohl den Namen unterstreichen). Er scheint im übrigen die Bedeutung von „camus“ missverstanden oder seinen Kommentar missverständlich formuliert zu haben, denn in der darauffolgenden Nr. 48 unterscheidet er „stumpf-„ und „spitznasig“ richtig.

Für die Personalsatire auf Camus gibt es mehrere Ansätze. Wegen der Geldentwertung waren die vom Staat ausbezahlten Assignaten so gut wie wertlos. Der daher „unbezahlbar“ genannte, sichtlich verarmte, weil eben nicht ausbezahlte, Rentier (87) zeigt auf seine lange Nase, die gleichsam antithetisch zum Namen Armand Gaston Camus’ steht (camus = stumpfnasig), der aber weder eine stumpfe Nase besaß, noch überhaupt für die finanzielle Misere verantwortlich war. Vermutlich ist Camus, der nach langer österreichischer Gefangenschaft vom 23. Januar 1796 - 20. Mai 1997 zum Präsidenten des Conseils der Cinq-Cents gewählt wurde, Opfer einer Intrige. Am 19. Februar 1797 hatte das Directoire exécutif Camus persönlich die Verantwortung für die Aussetzung der Armenfürsorge zugeschoben ‒ was am Folgetag in die Presse gelangte ‒, worauf dieser am 22. Februar zusammen mit seinen Kollegen der Trésorerie nationale eine vierseitige Gegendarstellung veröffentlichte (88). Die Unterbrechung der Auszahlung könne rechtens gar nicht von ihm allein veranlasst sein; vielmehr gehe sie auf verschiedene Dekrete zurück, dass angesichts der leeren Kassen „la solde des troupes, les subsistances militaires, les rentes et les charges locales“ vor allen anderen Verpflichtungen Vorrang habe. Die beiden satirischen Stiche Nr. 48 und 49 kennen oder glauben Camus’ Unschuldsbeteuerung jedoch nicht, hatte er doch in den Anfängen der Revolution als Archivar der Assemblée nationale das „Livre rouge“, d.h. das in rotes Leder gebundene Ausgabenbuch des Königs publik gemacht und daher den Ruf eines restriktiven Finanzpolitikers (89) erworben ‒ obwohl die „Pensionen“, die Ludwig XVI. seinem Bruder zahlte und die Mittel, der Ludwig für sich und seine Gemahlin beanspruchte etc., mit den Renten oder der Armenfürsorge des Directoire absolut nichts zu tun hatten.

Der Charakterkopf der Figur ist vermutlich ein Konterfei von Camus selbst (90), dessen überlang karikierte Nase seinem Namen und damit auch seiner Behauptung „widerspricht“, an dem Zahlungsstopp unschuldig zu sein. Camus’ zerlumpte Kleidung spielt dabei metonymisch auf die seiner (angeblichen) Opfer an. Eine wohl zu diffizile Bildlektüre wäre die folgende: Dass Camus eine Berufung sowohl zum Polizei- als auch zum Finanzminister ablehnte und sich stattdessen ‒ frustriert‒ literarischen Arbeiten widmete, also auf ein beträchtliches Einkommen verzichtete, könnte in übertriebener Weise durch sein armseliges Gewand im voraus angedeutet sein.

Anmerkungen:

87 Vgl. Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, S. 8, wo, freilich ohne weitere Differenzierung, ein Bezug zwischen dem „unbezahlten“ Rentier und dem Finanzkommissar Camus hergestellt wird.
88 A.G. Camus, l’un des représentans du peuple; A ses Collègues et a ses Concitoyens, A Paris, le 4 ventôse, an 5, in: libx.bsu.edu/cdm4/resultats.php.
89 Camus war ein erklärter Feind von Adel und Klerus und auch kein Freund von Bonaparte.
90 Karikaturen sind keine Porträts; das Publikum erkennt die Betroffenen meist nur in einem aktuellen Kontext; vgl. die Abb. in: www.wikipedia.org/wiki/Fichier:Armand_Gaston_Camus.jpg, wo das Epigramm Camus als „ennemi des abus“ preist.

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[Nr. 49]

Hélas! de vous à moi tel est la difference!!
C’est incroyable…

Ein hagrer zerlumpter Rentenier mit spitzer Nase und Kinn präsentiert Papiere einem wohlgenährten stumpnäsigen Manne, der mit drey Schlüsseln in der linken Hand sich auf einen wohl mit Eisen beschlagnen dreyfach verschloßnen Kasten lehnt.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Hélas! de vous à moi tel est la difference!! C’est incroyable…

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Hélas! de vous à moi tel est la différence!!! C’est incroyable …

Radierung, z.T. in Punktiermanier; koloriert; Platte 26,9 x 32,4; Bild 22,9 x 30,0. P un M… (?); Rentier fec.; A Paris, chez tous les M.ds de Nouveautés; 1 livre, 10 sous; zwischen dem 23. Januar 1796 und dem 20. Mai 1797; Slg. Kiefer, auch Bibliothèque nationale, British Museum, Schloß Friedenstein Gotha.

Dem Stich liegt derselbe Sachverhalt zu Grunde wie Nr. 48. Entweder macht ein ausgezehrter Rentner oder sonst ein Bedürftiger (91) Armand-Gaston Camus, der (zusammen mit fünf anderen Kommissaren) den Staatsschatz verwaltet, für den Notstand der Geldentwertung oder der ausbleibenden Fürsorgezahlungen verantwortlich oder aber die beiden Figuren repräsentieren Camus doppelt: den allein verantwortlichen „üppigen“ Schatzmeister bzw. den rechtschaffenen „mageren“ Beamten, der seine in Nr. 48 zitierte Rechtfertigungsschrift vorweist. Camus, ein Opfer seines Namens, wird in dem Stich als unglaubwürdig („incroyable“) dargestellt, denn seine Nase „widerspricht“ ihm. Für diese Interpretation spricht, dass die linke Figur, deren Kleidung nicht gar so zerlumpt erscheint wie die in Nr. 48 ‒ lediglich der rechte Schuh ist zerschlissen ‒, eine Camus ähnliche Physiognomie besitzt.

Möglicherweise hat Goethe aus welchem Repertoire auch immer die beiden Stiche und auch den folgenden dieser rein äußerlichen Ähnlichkeit wegen ausgewählt und zusammengestellt. Der Almanach, wenn er ihm denn vorlag, war ihm hierbei keine Hilfe, denn der Kommentator zeigt bei Nr. 49 keinerlei Verständnis (92).

Anmerkungen:

91 Die Figur würde in diesem Fall die abgewerteten Assignaten vorweisen; Bedürftige („indigens“) hätten freilich solche Papiere nicht.
92 Vgl. Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, S. 17.

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[Nr. 50]

Les dégraissés donnant la pelle au cul au dégraisseur.

Der vorige stumpfnäsige, doch viel ärger in Caricatur mit seinen drey Schlüsseln und vielen Finanzpapieren unterm Arm, macht ein paar pensionirten krüppelhaften Soldaten rückwärts eine Faust, die ihn mit Schaufel und Besen verfolgen; ein magrer Gelehrter im Schlafrock faßt mit Verwunderung die hohle Weste eines Renteniers, zieht sie weit heraus und fragt: pour quoi ètes vous si Maigre. Dieser indem er auf seine Nase und auf die stumpfnasigen Theile deutet antwortet: pars ce que je ne Suis pas… (Camus)

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Les dégraissés donnant la pelle au cul au dégraisseur

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LES DEGRAISSÉS DONNANT LA PELLE AU CUL AU DÉGRAISSEUR.

[Text im Bild links]
Pour quoi ètes vous si Maigre; pars ce que je ne suis pas …

[Mitte]
Motion sur les Finances / Projet sur les Finances / 2 Bils. / Dépense

[rechts]
Pension sur l’Etat

Radierung; Platte 29,7 x 39,6; Bild 25,0 x 36,7; J. Marchand sculp.; A Paris chez Marchand, Rue des Francs-Bourgeois, Place Saint-Michel, N° 790; dépot 31. März 1797; Bibliothèque nationale.

Die Bildsatire als politische Waffe nimmt hier offenbar ein erwünschtes Ereignis vorweg, nämlich Camus’ Rücktritt, der am 20. Mai 1797 erfolgte, also nach Erscheinen des Blatts. Dieses vereinigt zwei Opfer des angeblich von Camus verantworteten Spardiktats (→ Nr. 48f.), die verarmten (adligen) Rentiers (93) und die einfachen Bedürftigen, wie z.B. hier (rechts außen) die Invaliden und Veteranen. Schaufel und Besen (→ Nr. 1) sind häufig Instrumente der satirischen Bestrafung. Ob Camus zu Recht oder zu Unrecht Sündenbock dieser Pressekampagne war, ist kaum mehr festzustellen; Tendenz ist aber, ihn zu diskulpieren. Vermutlich sollte er aus dem Amt gedrängt werden, weil er der Finanz- und Kriegspolitik des Direktoriums ‒ und Bonaparte ‒ im Wege stand. Er wurde 1800 mit dem Titel eines „Garde des Archives générales“ „entschädigt“.

Anmerkungen:

93 Die Figur links außen, als Aristokrat an seinem Degen zu erkennen, scheint mir kein „magrer Gelehrter im Schlafrock“, sondern eher die Ehefrau des Betroffenen, die diesem Vorhaltungen macht.

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[Nr. 51]

Les Croyables.

Ein Incroyabel verhandelt Territorialmandate an eine verwogne Figur, indessen ihm ein alter Kerl das Schnupftuch aus der Tasche stiehlt.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Les Croyables

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Les CROYABLES, / au Péron.

Punktierstich; Platte 34,9 x 39,2; Bild 27,8 x 33,2; nach einem Ölgemälde Boillys; (94) Tresca sculp.; A Paris chez l’Auteur, Rue des Mathurins N° 334; 3 livres; nach dem 18. März 1796; auch Kopie in Medaillon-Form (Levilly sculp.) und Abdruck in Zeitungen; Bibliothèque nationale.

„Agiotage“, d.h. Börsenspekulation, Wechselgeschäfte, Geldumtausch etc., blühten schon zur Zeit der Assignaten, erst recht nach Einführung der „mandats territoriaux“, die der rechtschaffen und naiv dreinschauende Incroyable hier gegen Bargeld eintauscht. Der Tausch wird für ihn als verlustreich gekennzeichnet, denn er merkt nicht einmal, dass ihm zur gleichen Zeit sogar das Schnupftuch entwendet wird, Die wenig vertrauenswürdigen „agioteurs“ werden als „croyables“ ironisiert. Sie trugen eine bestimmte „Berufskleidung“, u.a. eine Pelzmütze mit Fuchsschwanz, an der sie zu erkennen waren, was Goethe möglicherweise nicht wusste, da ihm die Figur rechts lediglich „verwegen“ erscheint. Der Perron führte von der Bourse zum Palais-Royal (→ Nr. 44); heute: rue Vivienne. Der Almanach zitiert, ohne den Autor zu nennen, ausführlich aus Merciers „Nouveau Paris“ (95), von dem einige Kapitel in Zeitungen vorveröffentlicht worden waren.

Anmerkungen:

94 Öl auf Leinwand; 32,5 x 40,5; Abb. 11 in: Cinquantenaire du Musée Marmottan: Louis Boilly 1761-1845, S. 34.
95 S. Mercier: Le nouveau Paris, S. 378f. mit einigen Varianten.

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[Nr. 52]

Aristide et Brise Scellé 
Revenant de travailler la Marchandise
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Zwey abscheuliche Figuren einer in der Jacke mit blossen Armen der andere im zerlumpten Ueberrock, die sich wechselsweise ihrer Beute freuen.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, Aristide et Brise Scellé / Revenant de travailler la Marchandise.

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ARISTIDE et BRISE SCELLÉ / Revenant de travailler la Marchandise.

Punktierstich, z.T. radiert; Platte 30,1 x 36,6; Bild 27,3 x 33,2; J.A. Payen; 2 livres; Bibliothèque nationale.

Pantalons der Figur links (→ Nr. 13) und Carmagnole der Figur rechts (→ Nr. 43) weisen beide als Jakobiner aus, ein antijakobinischer Stich also, der eigentlich in die Abteilung „Gegen das alte Schreckensreich“ gehört. Mitglieder der Revolutionskomitees (→ Nr. 12) pflegten sich an den versiegelten Wertsachen von Denunzierten und Verhafteten zu bereichern (wie die Figur links, die dem Almanach zufolge „un sac d’écus“ (96) unter dem Arm trägt); gegen diesen Machtmissbrauch wurden mehrere Stiche veröffentlicht, in denen die Revolutionäre etwa das Silberbesteck der Inkriminierten mitgehen lassen. Das „Siegelbrechen“ wird ‒ dem Untertitel zufolge ‒ gleichsam „gewerbemäßig“ betrieben (la marchandise = die Ware). Beider Namen sind symbolisch: der eine „sprechend“ (Siegelbrecher), der andere ironisch gemeint: der „Aristide moderne“ (so im Untertitel des in Nr. 12 zitierten Stücks) kontrastiert mit dem Aristides der Antike, genannt der Gerechte, dem Athener Staatsmann, dessen Name und Ehrentitel sich auch Robespierre aneignete (97).

Wie schon in Nr. 12 scheint Goethe diese revolutionsgeschichtlichen Zusammenhänge nicht zu kennen, obwohl er im „Groß-Cophta“ und im „Bürgergeneral“ das Motiv der persönlichen Bereicherung unter dem Deckmantel einer großen Unternehmung gestaltet.

Anmerkungen:

96 Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, S. 23.
97 Auch in Büchners Drama „Dantons Tod“ wird Robespierre mit „Aristide“ angesprochen. Solche „sprechende“ und meist auch antike Übernamen waren Sitte bei den Freimaurern. Goethe erhielt bei seinem Eintritt in den Illuminatenorden 1783 den Übernamen Abaris (nach einem mythischen Apollopriester, der zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. gewirkt haben soll).

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[Nr. 53]

L’Anarchiste.
Je le trompe tous deux.

Ein Mann mit doppeltem Gesichte, halb als Sans-culott und halb als Incroyabel gekleidet, bezeigt auf der einen Seite einer guten Bürgersfrau, auf der andern einem Incroyabel eine prodigirende Vertraulichkeit.

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, L’Anarchiste. Je le trompe tous deux.

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L’ANARCHISTE. /Je les trompe tous deux.

[Text auf dem Brief]
Assignats

Punktierstich; auch radierte Kopie („L’Anarchiste ou le Nouveau janus français 1797“); Platte 32,5 x 37,5; Bild 26,6 x 32,2; S[imon] Petit, peintre, sculp.; A Paris, chez l’auteur, rue de Grenelle Honoré, N° 90; 2 livres; dépot 19. März 1797; Bibliothèque nationale.

Als „anarchistisch“ wird hier das Directoire angeprangert, dessen „politique de bascule“ (Schaukelpolitik) einerseits mit den verbliebenen Sansculotten (linke Bildhälfte), andererseits mit der neuen Generation der Incroyables (rechte Bildhälfte) zu paktieren sucht. Der Almanach identifiziert die nach Goethe „gute Bürgersfrau“ freilich als „tricoteuse“, da sie ein Kopftuch „à la Marat“ (98) trägt. Sie gehört damit zu den berüchtigten „tricoteuses jacobines“, die in den Komitees saßen und strickten und den radikalen Entscheidungen Robespierres lautstark akklamierten ‒ und dafür 40 Sous pro Tag erhielten. Angeblich wohnten sie auch begeistert den Hinrichtungen bei. Wie die „poissarde“ (→ Nr. 15) oder die „merveilleuse“ war die „tricoteuse“ ein epochaler Frauentyp der Revolution. Doch hatte diese Menschenrechte für alle proklamiert, so galt das Prinzip der „égalité“ nicht für Frauen; sie besaßen z.B. kein Wahlrecht, durften keine Ämter bekleiden etc. und unterstanden völlig der Autorität des Ehemanns. Die Frauenclubs wurden 1793 verboten, Olympe de Gouges, die eine „Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne“ verfasst hatte, wurde im selben Jahr hingerichtet. Es ist unwahrscheinlich, dass das Directoire, das sich durch Wahlen legitimieren musste, für Frauenrechte stark machte, d.h. die Geschlechteropposition auf dem Stich hat keinerlei politische Bedeutung. Die janusartige Figur unterschiedlicher Zusammensetzung ist ein häufiges Motiv schon der frühen revolutionären Karikatur.

Anmerkungen:

98 Quelle Folie! ou Galerie des Caricatures, S. 17; vgl. die Abb. Nr. 48 in: Lesueur: Gouaches révolutionnaires. Collections du musée Carnavalet, hg. v. Philippe de Carbonnières, Paris: Chaudun 2005, S. 196.

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c.) Gegen Künstlerfeinde.

2 sehr merkwürdige Blätter, theils weil beyde in ihrer Art sehr gut gemacht sind, theils weil sie fast allein einen lebhaften Haß anzeigen

[Nr. 54]

M.·.R. L’ane comme il n’y en a point.

Ein Esel mit einem menschlichen Portraitkopfe, der sehr kenntlich seyn muß, von welchem zwey Eselsohren und zwischen demselben zwey Strahlenscheine, wie Moses gemahlt wird, ausgehen, ist mit Besemen aller Art, Blasebälgen, Tuchkratzen und ähnlichem Hausrath dieser Art bepackt; hinten schlägt er aus gegen das Gemählde der Transfiguration von Raphael, das aufgerichtet steht und gegen den Kopf des Apoll, der auf der Erde liegt neben dem auch seine Excremente die er fahren läßt hinfallen. Über die architectonische Ordnung des Vignol ist er weggeschritten und tritt eben auf die Werke des Descart und Racin, in welchen letzten die Athalie aufgeschlagen ist, mit den Vorderfüssen. Etwas hinterwärts liegt Rousseau und auf seinem Wege Abraham Bosse, beyde Bücher zugeschlagen. An seinem Halse hängt der Schubkarren eines Essighändlers, den er vor sich hinschiebt und so eben das Rad an den Werken des Sophokles, Xenophons, Homer, Euripides und Virgils zerstößt. An der Seite ist ein grosser Distelbusch und hinten Windmühlen. Das Gesicht scheint sehr kenntlich, es ist eines wohlgebildeten aber flach eiteln Mannes. Das Kupfer ist in der saubersten französischen Manier mit der größten Sorgfalt gestochen, unten stehen noch folgende harte Worte:

Peu m’importent les chefs d’œuvres de tous les Arts, pourvu que j’écrase, que je m’élève, et que le chardon ne me manque pas.
Ô Gens de goût reconnaissez la bête!

Goethe, Recension einer Anzahl französischer satyrischer Kupferstiche, 1797. Satire, Französische Revolution, M.·.R. L’ane comme il n’y en a point.

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M.·.R. L’ANE COMME IL N’Y EN A POINT.

Peu m’importent les chefs d’œuvres de tous les Arts, pourvu que j’écrase, que je m’élève, et que le chardon ne me manque pas.
Ô Gens de goût reconnaissez la bête!

Radierung, z.T. in Punktiermanier; Platte 23,6 x 26,3; Bild 17,9 x 25,7; Inspiré par Crémier; anonym; 1 livre, 5 sous; nach dem 16. Oktober 1796; Bibliothèque nationale, auch British Museum.

Louis-Sébastien Mercier hatte als Mitglied des Rates der Fünfhundert am 16. Oktober 1796 ein höchst despektierliches Gutachten (99) über die bildenden Künste abgegeben und sich gegen jeden Rechtsschutz ihrer Werke ausgesprochen. Er wirft den Künstlern mangelnde „Intellektualität“ und unmoralische „Idolatrie“ vor: „C’est à la poésie, à elle seule, à créer des tableaux qui imitent le vol de la pensée et rendent la profondeur du sentiment.“ Möglich, dass er damit sein eigenes Werk, „Le Tableau de Paris“, ein „Bild“ der letzten Jahre des Ancien Régime und Vorläufer seines „Nouveau Paris“, herausstellen wollte (→ Nr. 55). Merciers „Rapport“ provozierte etliche satirische Reaktionen, in denen er u.a. als „Erostrate moderne“, der blind über die bildende Kunst schreibe, karikiert wird (100). In mehreren Zeitungsartikeln beharrt er auf seiner Meinung: „La peinture est un enfantillage de l’esprit humain. La peinture n’existe que dans la langue écrite.“ (101) Merciers Vorbild ist Diderot, dessen „Essais sur la peinture“ Goethe im Sommer 1796 liest ‒ freilich ohne dabei auf Mercier zu kommen. Er identifiziert Mercier auch nicht, obwohl das Porträt (mit der fleischigen Nase) Mercier durchaus ähnlich ist und die Indizien, die auf Mercier hinweisen, dicht erscheinen. Goethe nennt auch selber viele Details. Man muss ihm zugutehalten, dass er unterwegs war und nur einen ersten Eindruck niederlegte. Interessanterweise trifft seine Analyse der Titelfigur als eines “wohlgebildeten aber flach eitlen Mannes“ durchaus zu.

Mercier wird in dem Stich als Verfasser des Dramas „La Brouette du vinaigrier“ (102) karikiert, und der „dumme Esel“ schreitet u.a. über die Werke René Descartes’, des Begründers des französischen Rationalismus, hinweg, weil sich Mercier am 7. Mai 1796 gegen Descartes’ Überführung ins Panthéon erklärt hatte (103). Zum Motiv von Schaufel und Besen → Nr. 1, 50). Die Windmühlen im Hintergrund könnten auf Cervantes’ „Don Quijote“ hinweisen.

Goethe ist die Rolle der Kunst, der er mit den Stichen 54 und 55 eine eigene Abteilung, und die abschließende seiner „Recension“, widmet, signifikant für die Charakteristik einer Epoche. Obwohl kein Freund der Karikatur, scheint ihn der Umgang des Directoire (als Epoche) mit der bildenden Kunst für eben diese postrevolutionäre Phase einzunehmen.

Anmerkungen:

99 Zu Merciers Geringschätzung der bildenden Kunst s. Mercier (Corps législatif. Conseil des cinq-cents): Rapport et projet de résolution au nom d’une commission sur la pétition des Peintres, Sculpteurs, Graveurs, Architectes, relativement au droit de patente, Paris: Imprimerie nationale, Séance du 25 vendémiaire An V [16. Oktober 1796], bes. S. 5 u. 10; vgl. auch Journal de Paris, 1. Januar 1797, S. 409-410.
100 Drei Bildsatiren gegen Mercier sind abgedruckt in: Louis-Sébastien Mercier (1740-1814). Un hérétique en littérature, hg. v. Jean-Claude Bonnet, Paris: Mercure de France 1995, o. S. → Nr. 55.
101 Mercier: Dictionnaire d’un polygraphe, hg. u. eingel. v. Geneviève Bollème, Paris: Union Générale d’Ed. 1978 (Le Monde en 10/18), S. 316.
102 Mercier: La Brouette du vinaigrier, drame en trois actes, London u. Paris: chez les Libraires, qui vendent des Nouveautés 1775.
103 Mercier: Discours, prononcé le 18 floréal, sur René Descartes, Paris: Imprimerie nationale, prairial An VI [1796].

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[Nr. 55]

Le Peintre Créateur, que le génie inspire,
Par de Savants Tableaux peut Charmer et instruire;
De l’immortalite, il s’ouvre le Chemin,
En dépit des efforts d’un Jalaux Ecrivain.
E. le Sueur. P.tre sculp
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Ein sehr gut, mit mahlerischer Meisterhand radirtes gut componirtes und beleuchtetes Bild. Ein Mahler sitzt in einer antiken Kleidung in einer energischen Stellung in seinen Studio, mit dem linken Arm hat er eine Büste des Apoll umfaßt, die linke Hand, in der er einen Lorbeerzweig hält, ruht über einem Piedestal auf welchem die Worte stehen: Celui qui méprise Les Arts et n’en Sent pas L’utilité est und hier steht gleich ein Krug dabei; ob dies nun bloß ein Rebus für den Schimpfnamen Cruche sein soll, oder ob vielleicht gar der Widersacher des Künstlers, der sich hier rächen will, diesen Nahmen führt, will ich nicht entscheiden. Die Stellung der Figur ist von der französisch pathetischen Art überhaupt aber so wie alles Beywesen sehr characteristisch und mit gutem Effekt radirt.

Dieser Stich ist trotz detaillierter Angaben (und intensiver Recherchen) nicht zu identifizieren bzw. aufzufinden. Die „jalousie“ eines Schriftstellers passt gut zu Louis-Sébastien Mercier (→ Nr. 54), aber wie Philippe de Carbonnières aufzeigt, ist nicht einmal die von Goethe überlieferte Signatur „E. le Sueur“ sicher aufzulösen. Es gab etliche Le Sueur oder Lesueur. Möglicherweise war der Künstler oder Stecher (sculpsit) Pierre-Etienne Le Sueur oder Jean-Baptiste Lesueur (104) oder aber ein unbekannter Namensvetter.

Anmerkungen:

104 Vgl. Lesueur. Gouaches révolutionnaires, S. 34. Ich danke hier Philippe de Carbonnières für seine briefliche Auskunft vom 13. April 2012.

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Anhang

Ein Blatt, die Kleidungen der sämmtlichen neuen Staatsbeamten darstellend.
Ein Blatt die sämmtlichen Münzen nebst dem Papiergelde vorstellend.

[Nr. 56] und [Nr. 57]

Da die Abbildungen der Beamtenkleidung des Directoire sowie der Zahlungsmittel überaus zahlreich sind, kann nicht ermittelt werden, welche Stiche Goethe tatsächlich gesehen hat. (105) Die Bemühungen des Direktoriums, „Ordnung“ in das finanzielle (→ Nr. 46 u.ö.) und gesellschaftliche Chaos zu bringen, sind verständlich. Auf jeden Fall sei die Bedeutung des „code vestimentaire“ ‒ auch und gerade des amtlichen ‒, die sich in den meisten Stichen spiegelt, noch einmal unterstrichen.

Anmerkungen:

105 Vgl. Goethe: Recension einer Anzahl französischr satyrischer Kupferstiche, S. 142ff., wo zwei Beispiele abgedruckt sind.

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Anschrift und Email des Autors

Prof. Dr. Klaus H. Kiefer
Ludwig-Maximilians-Universität
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
D-80799 München

Email:khkiefer@germanistik.uni-muenchen.de

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