Federzeichnungen von Hans Bender
zu Heinrich Pestalozzis Volksbuch
"Lienhard und Gertrud"
Zweites Kapitel:
Eine Frau, die Entschlüsse nimmt, ausführt, und einen Herrn findet, der ein Vaterherz hat.
Auszug
O Gertrud, Gertrud! Es bricht mir das Herz, dir mein Elend zu sagen und deine Sorgen zu vergrößern; und doch muß ich es thun! Ich bin Hummel, dem Vogt (1), noch dreißig Gulden schuldig, und der ist ein Hund und kein Mensch gegen die, so ihm schuldig sind. Ach, daß ich ihn in meinem Leben nie gesehn hätte! Wenn ich nicht bei ihm einkehre, so droht er mir mit den Rechten, und wenn ich einkehre, so ist der Lohn meines Schweißes und meiner Arbeit in seinen Klauen. Das Gertrud, das ist die Quelle unsers Elends.
O Lieber, sagte hierauf Gertrud, darfst du nicht zu Arner, dem Landesvater, gehen? Du weißt, wie alle Witwen und Waisen sich seiner rühmen. O Lieber, ich denke, er würde dir Rath und Schutz gewähren gegen diesen Mann.
O Gertrud, erwiederte Lienhard, ich kann nicht! ich darf nicht! Was wollte ich gegen den Vogt sagen, der Tausenderlei anbringt, und kühn ist und schlau, und hundert Helfershelfer und Wege hat, einen armen Mann vor der Obrigkeit zu verschreien, daß man ihn nicht anhört?
[...]
Ja, ich will gehen, sagte Gertrud, und schlief keine Stunde in der Nacht; aber sie betete in der schlaflosen Nacht, und ward immer stärker und entschlossener, zu gehen zu Arner, dem Herrn des Orts.
Und am frühen Morgen nahm sie den Säugling, der wie eine Rose blühete, und gieng zwei Stunden weit zum Schlosse des Junkers.
Arner saß eben bei seiner Linde, vor der Pforte des Schlosses, als Gertrud sich ihm nahete. Er sah sie, er sah den Säugling auf ihrem Arme und Wehmuth und Leiden und getrocknete Zähren auf ihrem Antlitz.
Was willst du, meine Tochter? was willst du? sagte er so liebreich, daß sie Muth faßte zu reden.
Anmerkung:
(1) Vogt ist in der Schweiz, was in Deutschland der Schulze im Dorfe ist.