goethe


Jutta Assel | Georg Jäger

Federzeichnungen von Hans Bender
zu Heinrich Pestalozzis Volksbuch
"Lienhard und Gertrud"

 

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Erstes Kapitel:
Ein herzguter Mann, der aber doch Weib und Kind höchst unglücklich macht.

 


Auszug

Es wohnt in Bonnal ein Maurer; er heißt Lienhard und seine Frau Gertrud.(1) Er hat sieben Kinder und ein gutes Verdienst; aber er hat den Fehler, daß er sich im Wirthshaus oft verführen läßt. Wenn er da ansitzt, so handelt er wie ein Unsinniger; und es sind in unserm Dorf schlaue, abgefeimte Bursche, die darauf losgehen, und daraus leben, daß sie den Ehrlichern und Einfältigern auflauern, und ihnen bei jedem Anlaß das Geld aus der Tasche locken. Diese kannten den guten Lienhard, und verführten ihn oft beim Trunk noch zum Spiel, und raubten ihm so den Lohn seines Schweißes. Aber allemal, wenn das am Abend geschehen war, reute es Lienharden am Morgen, und es gieng ihm ans Herz, wenn er Gertrud und seine Kinder Brot mangeln sah, daß er zitterte, weinte, seine Augen niederschlug, und seine Tränen verbarg.

Gertrud ist die beste Frau im Dorf; aber sie und ihre blühenden Kinder waren in Gefahr, ihres Vaters und ihrer Hütte beraubt, getrennt, verschupft, (2) ins äußerste Elend zu sinken, weil Lienhard den Wein nicht meiden konnte.

[...]

Bis jetzt konnte sie zwar ihr stilles Weinen vor den Kindern verbergen; aber am Mittwoch vor der letzten Ostern, da ihr Mann auch gar zu lang nicht heimkam, war ihr Schmerz zu mächtig, und die Kinder bemerkten ihre Thränen. Ach Mutter, riefen sie alle aus Einem Munde, du weinst! und drängten sich enger an ihren Schoß. Angst und Sorge zeigten sich in jeder Geberde; banges Schluchzen, tiefes, niedergeschlagenes Staunen, und stille Thränen umringten die Mutter, und selbst der Säugling auf ihrem Arme verrieth ein bisher ihm fremdes Schmerzgefühl. Sein erster Ausdruck von Sorge und von Angst, sein starres Auge, das zum erstenmal ohne Lächeln hart und steif und bang nach ihr blickte - alles Dieses brach ihr gänzlich das Herz. Ihre Klagen brachen jetzt in lautes Schreien aus; alle Kinder und der Säugling weinten mit der Mutter, und es war ein entsetzliches Jammergeschrei, als eben Lienhard die Thüre öffnete.

Gertrud verbarg ihr Antlitz, hörte das Öffnen der Thüre nicht, und sah nicht den kommenden Vater. Auch die Kinder wurden seiner nicht gewahr; sie sahn nur die jammernde Mutter, und hiengen an ihren Armen, an ihrem Hals, und an ihren Kleidern. So fand sie Lienhard.

 

Anmerkungen:

(1) Ich muß hier melden, daß in der ganzen Geschichte ein alter angesehener Einwohner von Bonnal redend eingeführt wird.
(2) Diese Geschichte ist schweizerisch. Die Scene davon ist in der Schweiz, und ihre Helden sind Schweizer. Man hat deshalb die schweizerischen Namen beibehalten und sogar schweizerische Provinzialworte, wie z. E. verschupfen, welches den Fall bedeutet, da ein Mensch von einem Orte zum andem mit einer Art von Druck und von Verachtung verstoßen wird.

 

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