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Jutta Assel und Georg Jäger

Georg Büchner: Dantons Tod

Illustriert von Paul Hübner, 1920

 

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Erster Akt
Erste Szene
Auszug

 

(Camille Desmoulins und Philippeau treten ein.)

Hérault. Philippeau, welch trübe Augen! Hast du dir ein Loch in die rote Mütze gerissen? Hat der heilige Jakob ein böses Gesicht gemacht? Hat es während des Guillotinirens geregnet? Oder hast du einen schlechten Platz dabei bekommen und nichts sehen können?
Camille. Du parodirst den Sokrates. Weißt du auch, was der Göttliche den Alcibiades fragte, als er ihn eines Tages finster und niedergeschlagen fand: "Hast du deinen Schild auf dem Schlachtfelde verloren, bist du im Wettlauf oder im Schwertkampf besiegt worden? Hat ein anderer besser gesungen oder besser die Cither geschlagen?" Welche klassischen Republikaner! Nimm einmal unsere Guillotinen-Romantik dagegen!
Philippeau. Heute sind wieder zwanzig Opfer gefallen. Wir waren im Irrtume, man hat die Hebertisten nur aufs Schafott geschickt, weil sie nicht systematisch genug verfuhren, vielleicht auch weil die Decemvirn sich verloren glaubten, wenn es nur eine Woche Männer gegeben hätte, die man mehr fürchtete, als sie.
Hérault. Sie möchten uns zu Antediluvianern machen. St. Just säh es nicht ungern, wenn wir wieder auf allen Vieren kröchen, damit uns der Advokat von Arras nach der Mechanik des Genfer Uhrmachers Fallhütchen, Schulbänke und einen Herrgott erfände.
Philippeau. Sie würden sich nicht scheuen, zu dem Behuf an Marat's Rechnung noch einige Nullen zu hängen. Wie lange sollen wir noch schmutzig und blutig sein, wie neugeborne Kinder, Särge zur Wiege haben und mit Köpfen spielen? Wir müssen vorwärts: Der Gnadenausschuß muß durchgesetzt, die ausgestoßenen Deputierten müssen wieder aufgenommen werden.
Hérault. Die Revolution ist in das Stadium der Reorganisation gelangt. – Die Revolution muß aufhören, und die Republik muß anfangen. – In unseren Staatsgrundsätzen muß das Recht an die Stelle der Pflicht, das Wohlbefinden an die der Tugend und die Notwehr an die der Strafe treten. Jeder muß sich geltend machen und seine Natur durchsetzen können. Er mag nun vernünftig oder unvernünftig, gebildet oder ungebildet, gut oder böse sein, das geht den Staat nichts an. Wir alle sind Narren, und keiner hat das Recht, einem Andern seine eigentümliche Narrheit aufzudringen. – Jeder muß in seiner Art genießen können, jedoch so, daß keiner auf Unkosten eines Andern genießen oder ihn in seinem eigentümlichen Genuß stören darf. Die Individualität der Mehrzahl muß sich in der Physiognomie des Staates offenbaren.
Camille. Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken. Die Gestalt mag nun schön oder häßlich sein, sie hat einmal das Recht zu sein wie sie ist, wir sind nicht berechtigt, ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneiden. %#150; Wir werden den Leuten, welche über die nackten Schultern der allerliebsten Sünderin Frankreich den Nonnenschleier werfen wollen, auf die Finger schlagen. – Wir wollen nackte Götter, Bacchantinnen, olympische Spiele, Rosen in den Locken, funkelnden Wein, wallende Busen und melodische Lippen; ach, die gliederlösende, böse Liebe! Wir wollen den Römern nicht verwehren, sich in die Ecke zu setzen und Rüben zu kochen, aber sie sollen uns keine Gladiatorenspiele mehr geben wollen. – Der göttliche Epicur und die Venus mit dem schönen Hintern müssen statt der Heiligen Marat und Chalier die Türsteher der Republik werden. – Danton! du wirst den Angriff im convent machen.
Danton. Ich werde, du wirst, er wird. Wenn wir bis dahin noch leben, sagen die alten Weiber. Nach einer Stunde werden sechzig Minuten verflossen sein. Nicht wahr, mein Junge?
Camille. Was soll das hier? das versteht sich von selbst.
Danton. O, es versteht sich alles von selbst. Wer soll denn aber alle die schönen Dinge ins Werk setzen.
Philippeau. Wir und die ehrlichen Leute.
Danton. Das "und" dazwischen ist ein langes Wort, es hält uns ein wenig weit auseinander, die Strecke ist lang, die Ehrlichkeit verliert den Atem, eh wir zusammen kommen. Und wenn auch! – den ehrlichen Leuten kann man Geld leihen, man kann bei ihnen Gevatter stehen, und seine Töchter an sie verheiraten, das ist aber Alles!
Camille. Wenn du das weißt, warum hast du den Kampf begonnen?
Danton. Die Leute waren mir zuwider. Ich konnte dergleichen gespreizte Katonen nie ansehen, ohne ihnen einen Tritt zu geben. Mein Naturell ist einmal so. (Er erhebt sich.)
Julie. Du gehst?
Danton (zu Julie). Ich muß fort, sie reiben mich mit ihrer Politik noch auf. – (Im Hinausgehen:) Zwischen Tür und Angel will ich euch prophezeien: die Statue der Freiheit ist noch nicht gegossen, der Ofen glüht, wir Alle können uns noch die Finger dabei verbrennen. (Ab.)
Camille. Laßt ihn! Glaubt ihr, er könne die Finger davon lassen, wenn es zum Handeln kommt?
Hérault. Ja, aber bloß zum Zeitvertreib, wie man Schach spielt.

 

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