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Clemens Brentano:
Die Chronik des fahrenden Schülers

Historistisches Buchdesign
mit Illustrationen von Eduard von Steinle


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[Aus der Erzählung der Mutter des Johannes.] Mein Vater ward den folgenden Tag neben meine Mutter in's Kloster begraben. Siegmund und seine Mutter gingen mit zur Leiche, mich ließen sie aber nicht mitgehen, damit ich nicht so traurig sein möchte; ich blieb also auf dem Schlosse zurück und wie sie aus dem Thore hinauszogen, stieg ich auf den höchsten Thurm des Schlosses. [...] Ich sahe mich rings in der Gegend um und empfand Vieles, was ich vorher nie empfunden hatte. Wie Siegmund mit seiner Mutter in das Schifflein stieg, erinnerte ich mich, wie ich ihn zum Erstenmale gesehen, das war, als meine Mutter starb, da saß ich vor meines Vaters Hütte und spielte ganz fröhlich und verstand das Leid der anderen Menschen nicht, da sah ich ihn auch in demselben Schifflein überfahren. Ach, wie viele Jahre sind schon hin, jetzt bin ich auch schon unter den erwachsenen Leuten, die den Schmerz wohl verstehen, wenn ein lieber Freund von ihnen scheidet. Wie oft ist der Frühling vergangen, seit ich lebe, und ich kann mich kaum eines einzelnen Frühlings erinnern; ich weiß nur, daß es Frühling war, wenn die Bäume blühten und die Welt freudig ward. O weh, jetzt spiele ich nicht mehr vor meines Vater Hütte, hier stehe ich und bin allein und muß weinen, ach! wie bitter weinen. O, wo wird mein guter Vater hingetragen, wo geht all' das Leben hin, all' die Lust? So war ich gar traurig und hatte ganz die Hoffnung verloren, ich sah, wie Siegmund mit seiner Mutter den Berg hinanstiegen und wie die Klosterherrn in ihren weißen Kleidern aus dem Walde heraustraten, und wie sie meinen guten Vater in dem Sarge aus der Hütte heraustrugen. Da streckte ich wohl die Arme gegen Himmel und weinte sehr, da hörte ich sie auch noch lange im Walde ihre heiligen Lieder singen.

Es war Abend und still, die Sonne ging unter, im Thal war es schon dunkel, nur über unserer Hütte und dem Walde lag noch der helle Schein. Da dachte ich wohl, wie mein Vater mit mir gesprochen, als die Wallfahrt den Main hinabfuhr, und wie er des Menschen Leben mit der Wallfahrt verglichen und wie er zu mir gesagt hatte: "Der geht gern von der Wallfahrt nach Hause, der seinen Kindern eine fromme Gabe mitbringen kann." Und indem ich gedachte, wie er so ruhig und freundlich gestorben, warf ich auch einen Blick zurück auf die Heiligthümer, die er mir zurückgelassen hatte. Ich wiederholte in mir sein Andenken und die sanfte, fromme Unterweisung, die er mir immer gegeben hatte, sah lang in mein Herz zurück und fühlte mich ruhig und mild. Dann wendete ich meine Blicke ringsum über Berg und Thal, wie der Wald grünte und hoch ragte, wie sich die Wiesen sanft hinabsenkten und mit den gefurchten Aeckern abwechselten. Zum Himmel richteten sich meine Blicke ruhig aufwärts und gleiteten an dem Fluge ziehender Vögel wieder zum Main, in dem die Wolken noch einmal zu ziehen schienen, dann blickte ich zwischen den Thürmen hinab in den einsamen Burghof, wo ein alter Knappe den Hollunderbusch an dem Fenster seiner Kammer beschnitt und ein lustiges Lied sang, auf dem Dache trieben in den letzten Strahlen sich die Tauben girrend herum, unten war es schon dunkel, und die ewige Lampe der Burgkapelle sah gelblich durch das hohe Fenster, und Alles das sah ich mit gleicher Ruhe und stiller Liebe an. Es war mir nicht, als sei mein Vater gestorben; ich konnte an ihn denken, als sei er immer zugegen, nur sehe ich ihn nicht, höre ihn aber singen und arbeiten. Zu dieser Stunde kam ein großer inniger Glaube an die Güte Gottes, an die Ewigkeit des Lebens in mich; Alles, was mir der gute Vater in kurzen Sprüchen und Winken gesagt hatte, sah ich ausgeführt in seinem Leben, und sein Leben fand ich wieder über der ganzen ruhigen Gegend schweben, aus der mir mein eigenes Herz wie eine freundliche Blume entgegensah. O, da fühlte ich deutlich, was mir mein guter Vater von der Wallfahrt mitgebracht hatte; er hatte mir das Leben gegeben, die freundliche, gesunde Gestalt meines Leibes, das ruhige, schlagende Herz in der Brust und die stille, betrachtende Seele hat er mir gegeben, denn er hat mir die Schönheit und den inneren Frieden der Natur durch sein stilles, frommes Dasein in Geschäft und Andacht näher an's Herz gelegt, daß ich ruhig in sie verwachsen konnte, daß keine Sehnsucht mich wild hinausriß, daß Gott mit der Liebe gleich vor meinem Auge stand und mit milder Strenge mir in's Herz sah, welches rein und züchtig, wie die Kammer einer frommen Jungfrau aufgeschmücket war. O guter Vater, dachte ich da, du warst ein Bote Gottes, der ihn in einer unschuldigen Seele verherrlichen sollte! Gott sprach zu Dir: gehe hin und baue mir eine Kirche auf Erden, daß ich deutlicher und verständlicher meinen Kindern, den Menschen, werden möge; dann will ich sehen, ob du meiner Liebe näher zurückkehrst. Und da hat der gute Vater mich zurückgelassen, als das Zeichen des vollendeten Werks und ist wieder zurück zu Gott gegangen; sein Leben aber auf Erden hat nicht aufgehört, es ist in meiner Seele und ich will es ruhig fortbauen, ich will fromm und tugendhaft sein, daß er nimmer sterbe; und wenn Gott auch mich einst zu sich nimmt, o, dann bleibe auch mir ewig ein Leben zurück, ein Ebenbild Gottes und ein Spiegel des freudigen segensvollen Strahles, der aus dem Glanze des Himmels zur Erde niederfällt und sich im Glauben entzündet.

Da ich mich so meinen Gedanken überlassen hatte, hörte ich das Glöckchen im Kloster läuten, das Zeichen, daß mein Vater begraben war. Der Gedanke, ihn nicht wiederzusehen, wollte mich wieder schmerzlich fassen, als Kilian, sein Falke, der bei seinem Tode weggeflogen war, plötzlich neben mich niederflog und sich sehr freundlich gegen mich bezeugte. "Guter treuer Kilian", sagte ich, "»bist du auch mit zu Grabe gewesen? Du sollst mich nun nicht mehr verlassen und immer bei mir bleiben", und daß mich der gute Vogel wiedergefunden hatte, war mir ein gar großer Trost. Ich streichelte ihn und nahm ihn auf die Hand, indem ich die Treppe des Thurmes hinabstieg.


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