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Clemens Brentano:
Die Chronik des fahrenden Schülers

Historistisches Buchdesign
mit Illustrationen von Eduard von Steinle


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Die gewaltige Künstlichkeit des wunderwürdigen Münsterthurmes [in Straßburg] hätte mich beinahe wieder niedergeschlagen; denn ich bedachte mit Verwunderung, wie ich doch unter den hohen Eichen, in finsteren Wäldern, auf hohen Bergen, an steilen Abgründen, und bei stürzenden Wasserfällen in einsamen Thälern recht in Einöde, ja ganz verlassen, auch wohl gar hungrig gesessen und mich doch nicht so bewegt gefühlt, als bei dem Anblick dieses Thurmes. Wenn ich die Blätter und Zweige der Bäume betrachte, so frage ich nicht, wie sie da hinaufgekommen, und erschrecke nicht, wenn sie sich hin- und herbewegen mit Rauschen; aber wenn ich diesen wunderbaren Thurm anschaue mit seinen Thürmlein, Säulen und Schnörkeln, die immer auseinander heraustreiben und durchsichtig sind wie das Gerippe eines Blattes, dann scheint er mit der Traum eines tiefsinnigen Werkmeisters, vor dem er wohl selbst erschrecken würde, wenn er erwachte und ihn so fertig vor sich in den Himmel ragen sähe; es sei denn, daß er auf sein Antlitz niederfiele und ausriefe: "Herr, dies Werk ist nicht von mir in seiner Vollkommenheit, du hast dich nur meiner Hände bedienet: mein ist nichts daran als die Mängel, diese aber decke zu mit dem Mantel deiner Liebe, und lasse sie verschwinden im Geheimniß deiner Maße." Keiner aber hat dieses wohl erlebet, keiner hat einem solchen Werke seiner Erfindung die Krone aufgesetzet, ganze Geschlechter sind von den Baugerüsten herabgestiegen und haben sich zu Ruhe in die Gräber zu den Füßen des Thurmes gelegt, der nichts davon weiß und dasteht ernst und steinern, der kein Herz und keinen Verstand hat, ja eingentlich ein recht unvernünftiger Thurm ist, und doch dasteht, als wäre er aus sich selbst hervorgewachsen und brauchte es keinem Menschen zu danken. Dieser gewaltige Ausdruck der Erhabenheit aber in einem solchen Werke, an welchem die Weisheit und Mühe und Andacht von Jahrhunderten an unendlichen Linien des Gesetzes, des Verhältnisses, der Noth und der Zier mit halsbrechender Kühnheit hinangeklommen, um auf dem Gipfel dem Herrn zu lobsingen, verbunden mit seinem eigentlichen inneren Tode, so daß er, der Alles durch sein Dasein im tiefsten Herzen rühret, doch gar nichts davon mitempfindet: das ist es, was seinem Anblick und der Erscheinung aller gewaltigen Menschenwerke einen Schrecken beimischet. Es ist, als frage er: "Was bin ich, und warum bin ich, und was ist es, das dich also rühret in mir?" Was können wir ihm aber Anderes antworten als: "Die Werke des Herrn sind unbegreiflich, er treibt uns zu bauen und schaffen über das Leben hinaus; denn wir waren unsterblich und vollkommen, und wir sind gefallen in den Tod durch die Sünde. Du Thurm aber stehe als ein Zeuge, daß wir dunkel fühlen, was wir waren vor dieser Zeit, und daß wir noch ringen nach unendlichem Ziele; so stehe du dann als ein Träger unserer Mühe und unserer Buße zu Ehren unseres Heilandes und Seligmachers Jesu Christi, der uns erlöset hat durch sein bitteres Leiden und Sterben! Amen."

Also gedachte ich in mir, und wenngleich umgeben von lebenden Bäumen und Blumen, in welchen, wie selbst in den harten Felsen, eine Seele zu wohnen scheint, welche mit dem Menschen athmet und fühlet, im Frühling sich mit ihm freuet und im Winter mit ihm trauert, konnte ich doch meine Augen nicht von dem Thurme wenden. Der Sinn des Menschen strebet immer nach dem Unbegreiflichen, als sei dort das Ziel der Laufbahn und der Schlüssel des Himmels; denn bewundern kann der Mensch allein, und alles Bewunderung Erregende ist ein Bote Gottes, der uns mahnet an das Licht, das wir verloren, und das uns verheißen ist durch das Blut Christi, so wir uns dessen theilhaftig machen. Also ist mir auch immer alle meine Drangsal erschienen als eine Sehnsucht nach einem bessern Leben, und alle meine bitteren Stunden waren nur die kalten stürmenden Tage des Winters, denen der liebliche Frühling, angekleidet mit Blumen und Gesang, folget, so ich säe guten Samen und fülle meine Seele mit dem Lobe Gottes.

In diesen Betrachtungen war ich wieder in den Laubgang getreten, als der Türmer auf dem Münster blies: "In süßen Freuden geht die Zeit", – da wollte ich wieder nach meinem Sommerhäuslein gehen, sah aber meinen Herrn und Ritter gar tiefsinnig unter einem Baum im Sonnenschein sitzen und hatte den Mut nicht, vorbeizugehen, denn ich wußte nicht, ob ich ihn störe.

Ich stellte mich darum an einen Baum in seiner Nähe bescheiden hin, nahm meinen Hut in die Hand und wartete, ob er vielleicht seine Augen nach mir wenden würde. Der Anblick meines gnädigen Herrn und Wohlthäters aber erweckte ein große Ehrfurcht in mir. Er hatte ein schneeweißes Haar, über das wohl viel Sorgen mochten hingeflogen sein, ich hatte ihn gestern nicht recht gesehen, da es schon dunkelte, als er mich vom Wege aufraffte, und ich hatte lange keinen so frommen alten Ritter gesehen, der mit allen seinen Mienen ein solches Vertrauen erregte.

Gott gebe, daß du so in Ehren grau werdest, dachte ich bei mir, und fühlte mich mit ganzem Herzen zu dem lieben Ritter hingezogen. Er aber schien sehr betrübt zu sein, seufzte auch oft und tief und die kleinen Vöglein, die über ihm in den Zweigen so lustig sangen, konnten ihn nicht trösten.


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