goethe


Freund Heins Erscheinungen

Der Equilibrist

Wer sicher den betretnen Pfad
auf festem Grunde wandelt,
das Schwenkseil meidet und den Drath, (x)
bedächtlich geht und handelt;
kein Dach besteigt, sich niedrig hält:
bricht keine Rippe wenn er fällt.
   
Doch gafft und staunt ihn niemand an,
kein Bravo! schallt dem Trägen.
Wer wandeln will die Ehrenbahn,
sey vorlaut, dreust, verwegen,
und strebe, durch Talent und Müh,
zu zeigen sich als Kraftgenie.
   
Die Kühnheit trozet der Gefahr;
das Glük beschüzt den Keken,
und ihn bewundert laut die Schaar
der Thoren und der Geken;
zollt dem freygebig Lob und Preis,
der sich zu produziren weiß.
   
Aus Wälschland kam zum fernen Rhein
ein Gaukler angeritten,
auf seinem Esel Baldewein,
von frommer Zucht und Sitten.
Die Kunst verhält sich gerne so
auf Reisen ins Incognito.
   
Signor Allegro hieß der Herr,
Beazzo hieß der Diener
von wälschem Namen; aber er
war von Geburt ein Wiener.
Sie zogen durch die weite Welt
zu zeigen ihre Kunst für Geld.
   
Drey Meilen hinter Dünkelspühl
liegt ein nahrhafter Fleken:
Da giebts der reichen Vettern viel,
und Geld in allen Eken;
dort lokt die Liebe zum Gewinn,
die Künstlerkaravane hin.
   
Der Trommel Wirbelschlag erschallt
gerad am Kirchweihfeste:
Da lief zusammen jung und alt,
der Wirth und auch die Gäste.
Drauf hub der buntgeschekte Mann,
nach Landesbrauch, sein Sprüchlein an:
   
Mit Magistrats Begünstigung,
besteiget heut die Bühne,
zu jedermanns Verwunderung,
der Herr den ich bediene,
weiß auf dem Seil zu schwenken sich,
mit grosser Kunst, gar meisterlich.
   
Darum, wer Geld und Augen hat,
das Schauspiel anzuschauen,
versammle sich hier aus der Stadt
von Männern und von Frauen.
Auch macht der lustge Knebelbart
ein Hauptstük noch von seiner Art.
   
Gepuzt, wie Junker Ganymed,
und schlank wie eine Fichte,
stund da der luftige Damöt,
in vollem Gleichgewichte,
auf dem gespannten Seil, und flog
mit einem Sprung drey Ellen hoch.
   
Und sein gefällig Publikum
ließ nicht den Beyfall fehlen,
ließ ihn ertönen rings herum,
laut auf aus vollen Kehlen.
So trieb der Springer Stundenlang
sein Spiel, im frohen Volkesdrang.
   
Schon harrte Würger Klappermann
des kühnen Gauklers lange.
Jetzt als Beazzo angethan,
gelangs ihm mit dem Fange.
Arglistig schläfert er, beym Wein,
vorerst den trunknen Diener ein.
   
In breiter Krause, spizem Hut,
trottirt er, nach der Weise
Kompan Scherztreibers, wohlgemuth
zu Esel in dem Kraise [!].
Ihr Spektatores freuet euch,
nun macht er seinen Meisterstreich!
   
Hascht, als geschähs aus Unverstand,
dem Tänzer nach dem Beine,
und reißt ihn, mit der Todeshand,
urplözlich von der Leine.
Da liegt er, mit zerschelltem Kopf,
regt mehr kein Glied, der arme Tropf!
   
Den schurkischen Beazzo schalt
das Volk, und griff zu Steinen:
da zeigt er seine Schrekgestalt,
mit langen magern Beinen,
kam nicht in Inquisition;
denn Scherg und Richter floh davon.
   
Und jedermann entsezte sich
ob diesem harten Falle,
die jungen Dirnen sonderlich,
wie jammerten sie alle!
Als wär Cytherens Lieblingsheld (xx)
hier aufs Paradebett gestellt.
   
Einmal erschleicht der Tod dich zwar,
seys morgen oder heute:
doch suchst du ohne Noth Gefahr,
freut er sich seiner Beute.
Drum gilt das alte Sprüchwort doch:
Wer nicht hoch steigt, der fällt nicht hoch.

(x) Die Equilibristen pflegen anstatt des gewöhnlichen Seiles, sich zuweilen auch eines Drathes zu bedienen.

(xx) Adonis.

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