goethe


Jutta Assel | Georg Jäger

Johann Karl August Musäus
Chronika der drei Schwestern

Text und Illustrationen

Stand: Mai 2018

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Gliederung

1. Titelillustration
2. Johann Karl August Musäus: Die Bücher der Chronika der drei Schwestern. Text und Illustrationen von Adolf Schrödter
3. Brüder Grimm: Die drei Schwestern
4. Kurzbiographie von Musäus
5. Kurzbiographie von Adolf Schrödter und biographische Daten der reproduzierenden Künstler
6. Rechtlicher Hinweis und Kontaktadresse

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1. Titelillustration

Zum Vergrößern klicken Sie bitte auf das Bild.

 

Die montierten Bilder zeigen im Rankenwerk zentral die drei Schwestern - Wulfild, Adelheid und Bertha - im Rosenkranz. Die obere Zone wird beherrscht von den in Tiere verzauberten drei Rittern - Bär, Adler und Walfisch -, an die der Vater die Töchter verkauft hat, um sein Leben zu retten und ein verschwenderisches Hofleben zu finanzieren. Darauf deuten der Kasten voll Gold und der Sack voll Perlen. Links oben ist das Burgschloss zu sehen, in der die Schwestern aufwuchsen. Die folgenden Bilder, gegen den Uhrzeigersinn gelesen, zeigen die eine Braut, wie sie von dem, jetzt in menschlicher Gestalt erscheinenden Ritter heimgeführt wird; den nachgeborenen Bruder Reinald, der sich auf die Suche nach seinen Schwestern gemacht hat und Wulfild mit den Bärenkindern auffindet; ferner wie Reinald durch einen Schlot in das Schlafgemach Berthas gelangt, die vor Überraschung die Schokoladenkanne umwirft. Unten in der Mitte ist der von Reinald getötete Stier zu sehen, der die Pforte zum unterirdischen Palast des Zauberers bewacht hatte. Im folgenden Bild hat Reinald die Tafel mit den Zauberzeichen umgestürzt und lässt sich vor der aus dem Zauberschlaf erwachenden Hildegard, der Tochter des Fürsten von Pommerland, auf die Knie. Das letzte Bild zeigt, entgegen der Chronologie des Geschehens, wie Reinald das Adlernest ersteigt und Adelheid unter einem Thronhimmel ihrem zum Adler verzauberten Gatten ein Ei auf ihrem Schoß ausbrütet.

Mischtechnik (Radierung und Stich) mit handkoloriertem Bild der drei Schwestern. Höhe: 15; Breite: 11 cm. Nicht signiert oder monogrammiert; keine Verlagsangabe.

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2. Johann Karl August Musäus:
Die Bücher der Chronika der drei Schwestern.
Text und Illustrationen von Adolf Schrödter

Erstes Buch

 



in reicher, reicher Graf vergeudete sein Gut und Habe. Er lebte königlich, hielt alle Tage offene Tafel; wer bei ihm einsprach, Ritter oder Knappe, dem gab er drei Tage lang ein herrliches Bankett, und alle Gäste taumelten mit frohem Mut von ihm hinweg. Er liebte Brettspiel und Würfel; sein Hof wimmelte von goldgelockten Edelknaben, Läufern und Heiducken in prächtiger Livree, und seine Ställe nährten unzählige Pferde und Jagdhunde. Durch diesen Aufwand zerrannen seine Schätze. Er verpfändete eine Stadt nach der andern, verkaufte seine Juwelen und Silbergeschirr, entließ die Bedienten und erschoss die Hunde; von seinem ganzen Eigentum blieb ihm nichts übrig als ein altes Waldschloss, eine tugendsame Gemahlin und drei wunderschöne Töchter. In diesem Schlosse hauste er von aller Welt verlassen, die Gräfin versah mit ihren Töchtern selbst die Küche, und weil sie allerseits der Kochkunst nicht kundig waren, wussten sie nichts als Kartoffeln zu sieden. Diese frugalen Mahlzeiten behagten dem Papa so wenig, dass er grämlich und missmutig wurde und in dem weiten leeren Hause so lärmte und fluchte, dass die kahlen Wände seinen Unmut widerhallten. An einem schönen Sommermorgen ergriff er aus Spleen seinen Jagdspieß, zog zu Walde, ein Stück Wild zu fällen, um sich eine leckerhafte Mahlzeit davon bereiten zu lassen.

Von diesem Walde ging die Rede, dass es darin nicht geheuer sei; manchen Wanderer hatte es schon irre geführt, und mancher war nie daraus zurückgekehrt, weil ihn entweder böse Gnomen erdrosselt oder wilde Tiere zerrissen hatten. Der Graf glaubte nichts und fürchtete nichts von unsichtbaren Mächten, er stieg rüstig über Berg und Tal und kroch durch Busch und Dickicht, ohne eine Beute zu erhaschen. Ermüdet setzte er sich unter einen hohen Eichbaum, nahm einige gesottene Kartoffeln und ein wenig Salz aus der Jagdtasche, um hier sein Mittagsmahl zu halten. Von ungefähr hub er seine Augen auf, siehe da! ein grausam wilder Bär schritt auf ihn zu. Der arme Graf erbebte über diesen Anblick, entfliehen konnt er nicht, und zu einer Bärenjagd war er nicht ausgerüstet. Zur Notwehr nahm er den Jägerspieß in die Hand, sich damit zu verteidigen, so gut er könnte. Das Ungetüm kam nah heran; auf einmal stund's und brummte ihm vernehmlich diese Worte entgegen: »Räuber, plünderst du meinen Honigbaum? Den Frevel sollst du mit dem Leben büßen!« »Ach«, bat der Graf, »ach, fresst mich nicht, Herr Bär, mich lüstet nicht nach Eurem Honig, ich bin ein biederer Rittersmann. Seid Ihr bei Appetit, so nehmt mit Hausmannskost vorlieb und seid mein Gast.« Hierauf tischt er dem Bären alle Kartoffeln in seinem Jagdhute auf.

Dieser aber verschmähte des Grafen Tafel und brummte unwillig fort: »Unglücklicher, um diesen Preis lösest du dein Leben nicht; verheiß mir deine große Tochter Wulfild augenblicks zur Frau, wo nicht, so fress ich dich!« In der Angst hätte der Graf dem veramorten Bären wohl alle drei Töchter verheißen, und seine Gemahlin obendrein, wenn er sie verlangt hätte; denn Not kennt kein Gesetz. »Sie soll die Eure sein, Herr Bär«, sprach der Graf, der anfing, sich wieder zu erholen; doch setzte er trüglich hinzu, »unter dem Beding, dass Ihr nach Landes Brauch die Braut löset und selber kommt, sie heimzuführen.« »Topp«, murmelte der Bär, »schlag ein«, und reichte ihm die rauhe Tatze hin, »in sieben Tagen lös ich sie mit einem Zentner Gold und führ mein Liebchen heim.« »Topp«, sprach der Graf, »ein Wort ein Mann!« Darauf schieden sie in Frieden auseinander, der Bär trabte seiner Höhle zu, der Graf säumte nicht, aus dem furchtbaren Walde zu kommen, und gelangte bei Sternenschimmer kraftlos und ermattet in seinem Waldschloss an.

Zu wissen ist, dass ein Bär, der wie ein Mensch vernünftig reden und handeln kann, niemals ein natürlicher, sondern ein bezauberter Bär sei. Das merkte der Graf wohl, darum dachte er, den zottigen Eidam durch List zu hintergehen, und sich in seiner festen Burg so zu verpalisadieren, dass es dem Bär unmöglich wäre hineinzukommen, wenn er auf den bestimmten Termin die Braut abholen würde. Wenngleich einem Zauberbär, dachte er bei sich, die Gabe der Vernunft und Sprache verliehen ist, so ist er doch gleichwohl ein Bär, und hat übrigens alle Eigenschaften eines natürlichen Bären. Er wird also doch wohl nicht fliegen können, wie ein Vogel; oder durchs Schlüsselloch in ein verschlossenes Zimmer eingehen, wie ein Nachtgespenst; oder durch ein Nadelöhr schlüpfen. Den folgenden Tag berichtete er seiner Gemahlin und den Fräuleins das Abenteuer im Walde. Fräulein Wulfild fiel vor Entsetzen in Ohnmacht, als sie hörte, dass sie an einen scheußlichen Bär vermählt werden sollte, die Mutter rang und wand die Hände und jammerte laut, und die Schwestern bebten und bangten vor Wehmut und Entsetzen. Papa aber ging hinaus, beschaute die Mauern und Graben ums Schloss her, untersuchte, ob das eiserne Tor schloss- und riegelfest sei, zog die Zugbrücke auf und verwahrte alle Zugänge wohl, stieg darauf auf die Warte, und fand da ein Kämmerlein hochgebaut unter der Zinne und wohlvermauert, darin verschloss er das Fräulein, die ihr seidenes Flachshaar zerraufte, und schier die himmelblauen Augen ausweinte.

 Sechs Tage waren verflossen und der siebente dämmerte heran, da erhob sich vom Walde her groß Getöse, als sei das wilde Heer im Anzuge. Peitschen knallten, Posthörner schallten, Pferde trappelten, Räder rasselten. Eine prächtige Staatskarosse mit Reutern umringt rollte übers Blachfeld daher ans Schlosstor. Alle Riegel schoben sich, das Tor rauschte auf, die Zugbrücke fiel, ein junger Prinz stieg aus der Karosse, schön wie der Tag, angetan mit Sammet und Silberstück, um seinen Hals hatte er eine goldne Kette dreimal geschlungen, in der ein Mann aufrecht stehen konnte, um seinen Hut lief eine Schnur von Perlen und Diamanten, welche die Augen verblendete, und um die Agraffe, welche die Straußfeder trug, wäre ein Herzogtum feil gewesen. Rasch, wie Sturm und Wirbelwind, flog er die Schneckentreppe im Turm hinauf, und einen Augenblick nachher bebte in seinem Arm die erschrockne Braut herab.

Über dem Getöse erwachte der Graf aus seinem Morgenschlummer, schob das Fenster im Schlafgemach auf, und als er Ross und Wagen, und Ritter und Reisige im Hofe erblickte, und seine Tochter im Arm eines fremden Mannes, der sie in den Brautwagen hob, und nun der Zug zum Schlosstor hinausging, fuhr's ihm durchs Herz, und er erhob groß Klaggeschrei: »Ade, mein Töchterlein! Fahr hin, du Bärenbraut!« Wulfild vernahm die Stimme ihres Vaters, ließ ihr Schweißtüchlein zum Wagen herauswehen, und gab damit das Zeichen des Abschieds.

Die Eltern waren bestürzt über den Verlust ihrer Tochter, und sahen einander stumm und staunend an. Mama traute gleichwohl ihren Augen nicht, und hielt die Entführung für Blendwerk und Teufelsspuk, ergriff ein Bund Schlüssel und lief auf die Warte, öffnete die Klause, fand aber ihre Tochter nimmer, auch nichts von ihrer Gerätschaft; doch lag auf dem Tischlein ein silberner Schlüssel, den sie zu sich nahm, und als sie von ungefähr durch die Luke blickte, sah sie in der Ferne eine Staubwolke gegen Sonnenaufgang emporwirbeln, hörte Getümmel und Jauchzen des Brautzugs bis zum Eingang des Waldes. Betrübt stieg sie vom Turm herab, legte Trauerkleider an, bestreute ihr Haupt mit Asche, weinte drei Tage lang, und Gemahl und Töchter halfen ihr wehklagen. Am vierten Tage verließ der Graf das Trauergemach, um frische Luft zu schöpfen; wie er über den Hof ging, stand da eine feine dichte Kiste von Ebenholz, wohlverwahrt und schwer zu heben. Er ahndete leicht, was drinnen sei, die Gräfin gab ihm den Schlüssel, er schloss auf, und fand einen Zentner Goldes, eitel Dublonen, eines Schlags. Erfreut über diesen Fund vergaß er all sein Herzeleid, kaufte Pferde und Falken, auch schöne Kleider für seine Gemahlin und die holden Fräulein, nahm Diener in Sold, hob von neuem an zu prassen und zu schwelgen, bis die letzte Dublone aus dem Kasten flog. Dann machte er Schulden, und die Gläubiger kamen scharenweise, plünderten das Schloss rein aus, und ließen ihm nichts als einen alten Falken. Die Gräfin bestellte wieder mit ihren Töchtern die Küche, und er durchstreifte tagtäglich das Feld mit seinem Federspiel aus Verdruss und Langerweile.

Eines Tages ließ er den Falken steigen, der hob sich hoch in die Lüfte und wollte nicht auf die Hand seines Herrn zurückkehren, ob er ihn gleich lockte. Der Graf folgte seinem Flug, so gut er konnte, über die weite Ebne. Der Vogel schwebte dem grausenvollen Walde zu, welchen zu betreten der Graf nicht mehr waghalsen wollte, und sein liebes Federspiel verloren gab. Plötzlich stieg ein rüstiger Adler über dem Walde auf und verfolgte den Falken, welcher den überlegenen Feind nicht sobald ansichtig wurde, als er pfeilgeschwind zu seinem Herrn zurückkehrte, um bei ihm Schutz zu suchen. Der Adler aber schoss aus den Lüften herab, schlug einen seiner mächtigen Fänge in des Grafen Schulter, und zerdrückte mit dem andern den getreuen Falken. Der bestürzte Graf versuchte mit dem Speer von dem gefiederten Ungeheuer sich zu befreien, schlug und stach nach seinem Feinde.

Der Adler ergriff den Jagdspieß, zerbrach ihn wie ein leichtes Schilfrohr, und kreischte ihm mit lauter Stimme diese Worte in die Ohren: »Verwegener, warum beunruhigst du mein Luftrevier mit deinem Federspiel? Den Frevel sollst du mit deinem Leben büßen.« Aus dieser Vogelsprache merkte der Graf bald, was für ein Abenteuer er zu bestehen habe. Er fasste Mut und sprach: »Gemach, Herr Adler, gemach! Was hab ich Euch getan? Mein Falk hat seine Schuld ja abgebüßt, den lass ich Euch, stillt Euren Appetit.« »Nein«, fuhr der Adler fort, »mich lüstet eben heut nach Menschenfleisch, und du scheinst mir ein fetter Fraß.« »Pardon, Herr Adler«, schrie der Graf in Todesangst, »heischt, was Ihr wollt, von mir, ich gebe es Euch: nur schont meines Lebens.« »Wohl gut«, versetzte der mörderische Vogel, »ich halte dich beim Wort; du hast zwei schöne Töchter, und ich bedarf ein Weib. Verheiß mir deine Adelheid zur Frau, so lass ich dich mit Frieden ziehen, und löse sie von dir mit zwei Stufen Gold, jede einen Zentner schwer. In sieben Wochen führ ich mein Liebchen heim.« Hierauf schwang sich das Ungetüm hoch empor und verschwand in den Wolken.

In der Not ist einem alles feil. Da der Vater sah, dass der Handel mit den Töchtern so gut vonstatten ging, gab er sich über ihren Verlust zufrieden. Er kam diesmal ganz wohlgemut nach Hause und verhehlte sorgfältig sein Abenteuer; teils den Vorwürfen, die er von der Gräfin fürchtete, auszuweichen; teils der lieben Tochter das Herz vor der Zeit nicht schwer zu machen. Zum Schein klagte er nur über den verlorenen Falken, von welchem er vorgab, er habe sich verflogen. Fräulein Adelheid war eine Spinnerin, als keine im Lande. Sie war auch eine geschickte Weberin, und schnitt eben damals ein Stück köstlicher Leinwand vom Weberstuhle, so fein wie Battist, welche sie unfern der Burg auf einem frischen Rasenplatze bleichte. Sechs Wochen und sechs Tage vergingen, ohne dass die schöne Spinnerin ihr Schicksal ahndete: obgleich der Vater, der doch etwas schwermütig wurde, als der Termin der Heimsuchung nahte, ihr unter der Hand manchen Wink davon gab, bald einen bedenklichen Traum erzählte, bald die Wulfild wieder in Andenken brachte, die längst vergessen war. Adelheid war frohen und leichten Sinnes, wähnte, das schwere Herzblut des Vaters erzeuge hypochondrische Grillen. Sie hüpfte sorgenlos bei Anbruch des bestimmten Tages hinaus auf den Bleichrasen, breitete ihre Leinwand aus, damit sie vom Morgentau getränkt würde. Wie sie ihre Bleiche beschickt hatte, und nun ein wenig umherschaute, sah sie einen herrlichen Zug Ritter und Knappen herantraben. Sie hatte ihre Toilette noch nicht gemacht, darum verbarg sie sich hinter einen wilden Rosenbusch, der eben in voller Blüte stand, und glostete hervor, die prächtige Kavalkade zu schauen.

 

Der schönste Ritter aus dem Haufen, ein junger schlanker Mann in offenem Helm, sprengte an den Busch und sprach mit sanfter Stimme: »Ich sehe dich, ich suche dich, fein Liebchen, ach verbirg dich nicht; rasch schwing dich hinter mich aufs Ross, du schöne Adlerbraut!« Adelheid wusste nicht, wie ihr geschah, da sie diesen Spruch hörte; der liebliche Ritter gefiel ihr bass; aber der Beisatz, Adlerbraut, machte das Blut in ihren Adern erstarren; sie sank ins Gras, ihre Sinnen umnebelten sich, und beim Erwachen befand sie sich in den Armen des holden Ritters, auf dem Wege nach dem Walde.

Mama bereitete indes das Frühstück; und als Adelheid dabei fehlte, schickte sie die jüngste Tochter hinaus, zu sehen wo sie bliebe. Sie ging und kam nicht wieder. Die Mutter ahndete nichts Gutes, wollte sehen, was ihre Töchter so lange weilten. Sie ging und kam nicht wieder. Papa merkte, was vorgegangen sei, das Herz schlug laut in seiner Brust, er schlich sich auch nach dem Rasenplatze, wo Mutter und Tochter noch immer nach der Adelheid suchten und ängstlich sie beim Namen riefen, er ließ seine Stimme gleichfalls weidlich erschallen, wiewohl er wusste, dass alles Rufen und Umsuchen vergeblich war. Sein Weg führte ihn vor dem Rosenbusche vorüber, da sah er was blinken, und wie er's genau betrachtete, waren's zwei goldene Eier, jedes einen Zentner schwer. Nun konnt er nicht länger anstehn, seiner Gemahlin das Abenteuer der Tochter zu offenbaren. »Schandbarer Seelverkäufer«, rief sie aus, »o Vater! o Mörder! Opferst du um schändlichen Gewinstes willen also dein Fleisch und Blut dem Moloch auf?« Der Graf, sonst wenig beredsam, machte jetzt seine Apologie aufs beste, und entschuldigte sich mit der dringenden Gefahr seines Lebens. Aber die trostlose Mutter hörte nicht auf, ihm die bittersten Vorwürfe zu machen. Er wählte also das souveräne Mittel, allem Wortstreit ein Ende zu machen, er schwieg und ließ seine Dame reden, solange sie wollte, brachte indessen die goldnen Eier in Sicherheit, und wälzte sie gemachsam vor sich her, legte darauf Wohlstands halber drei Tage lang Familientrauer an und dachte nur darauf, seine vorige Lebensart wieder zu beginnen.

 

In kurzer Zeit war das Schloss wieder die Wohnung der Freude, das Elysium gefräßiger Schranzen. Ball, Turnier und prächtige Feten wechselten täglich ab. Fräulein Bertha glänzte am Hofe ihres Vaters den stattlichen Rittern in die Augen, wie der Silbermond den empfindsamen Wandlern in einer heitern Sommernacht. Sie pflegte bei den Ritterspielen den Preis auszuteilen und tanzte jeden Abend mit dem siegenden Ritter den Vorreihen. Die Gastfreigebigkeit des Grafen und die Schönheit der Tochter zog von den entlegensten Örtern die edelsten Ritter herbei. Viele buhlten um das Herz der reichen Erbin, aber unter so vielen Freiwerbern hielt die Wahl schwer, denn einer übertraf den andern immer an Adel und Wohlgestalt. Die schöne Bertha kürte und wählte so lang, bis die goldenen Eier, bei welchen der Graf die Feile nicht gespart hatte, auf die Größe der Haselnüsse reduziert waren. Die gräflichen Finanzen gerieten wieder in den vorigen Verfall, die Turniere wurden eingestellt, Ritter und Knappen verschwanden allgemach, das Schloss nahm wieder die Gestalt einer Eremitage an, und die gräfliche Familie kehrte zu den frugalen Kartoffelmahlzeiten zurück. Der Graf durchstrich missmutig die Felder, wünschte ein neues Abenteuer und fand keins, weil er den Zauberwald scheute.

Eines Tages verfolgte er ein Volk Rebhühner so weit, dass er dem schauervollen Walde nahe kam, und ob er gleich sich nicht hineinwagte, so ging er doch eine Strecke an der Brahne hin und erblickte da einen großen Fischweiher, der ihm noch nie zu Gesichte gekommen war, in dessen silberhellen Gewässer er unzählige Forellen schwimmen sah. Dieser Entdeckung freute er sich sehr. Der Teich hatte ein unverdächtiges Ansehen, daher eilte er nach Hause, strickte sich ein Netz und den folgenden Morgen stand er bei guter Zeit am Gestade, um solches auszuwerfen. Glücklicherweise fand er einen kleinen Nachen mit einem Ruder im Schilfe, er sprang hinein, ruderte lustig auf dem Teich herum, warf das Netz aus, fing mit einem Zuge mehr Fohren als er tragen konnte und ruderte vergnügt über diese Beute dem Strande zu. Ungefähr einen Steinwurf vom Gestade stand der Nachen in vollem Lauf fest und unbeweglich, als säße er auf dem Grund. Der Graf glaubte das auch, und arbeitete aus allen Kräften, ihn wieder flott zu machen, wiewohl vergebens. Das Wasser verrann rings umher, das Fahrzeug schien auf einer Klippe zu hangen und hob sich hoch über die Oberfläche empor. Dem unerfahrenen Fischer war dabei nicht wohl zu Mute; obgleich der Nachen wie angenagelt stand, so schien sich doch von allen Seiten das Gestade zu entfernen, der Weiher dehnte sich zu einer großen See aus, die Wogen schwollen auf, die Wellen rauschten und schäumten, und mit Entsetzen wurde er inne, dass ein ungeheurer Fisch ihn und seinen Nachen auf dem Rücken trug. Er ergab sich in sein Schicksal, ängstlich harrend, welchen Ausgang es nehmen würde. Urplötzlich tauchte der Fisch unter, der Nachen war wieder flott, doch einen Augenblick nachher war das Meerwunder über Wasser, sperrte einen abscheulichen Rachen gleich der Höllenpforte auf, und aus dem finstern Schlunde schallten, wie aus einem unterirdischen Gewölbe, vernehmlich diese Worte hervor: »Kühner Fischer, was beginnst du hier? du mordest meine Untertanen? den Frevel sollst du mit dem Leben büßen!« Der Graf hatte nun bereits so viel Routine in den Abenteuern erlangt, dass er wusste, wie er sich bei dergleichen Gelegenheiten zu nehmen hatte. Er erholte sich bald von seiner ersten Bestürzung, da er merkte, dass der Fisch doch ein vernünftig Wort mit sich reden ließ, und sprach ganz dreist: »Herr Behemot, verletzt das Gastrecht nicht, vergönnt mir ein Gericht Fisch aus Eurem Weiher, sprächt Ihr bei mir ein, so stünde Euch Küche und Keller gleichfalls offen.« »So traute Freunde sind wir nicht«, versetzte das Ungeheuer, »kennst du noch nicht des Stärkern Recht, dass der den Schwächern frisst? Du stahlst mir meine Untertanen, sie zu verschlingen, und ich verschlinge dich!« Hier riss der grimmige Fisch den Rachen noch weiter auf, als wollte er Schiff mit Mann und Maus verschlingen.

»Ach schonet, schont mein Leben«, schrie der Graf, »Ihr seht, ich bin ein mageres Morgenbrot für Euren Walfischbauch!« Der große Fisch schien sich etwas zu bedenken: »Wohlan«, sprach er, »ich weiß, du hast eine schöne Tochter, verheiße mir die zum Weibe, und nimm dein Leben zum Gewinn.« Als der Graf hörte, dass der Fisch aus diesem Tone zu reden anfing, verschwand ihm alle Furcht. »Sie steht zu Befehl«, sprach er, »Ihr seid ein wackerer Eidam, dem kein biederer Vater sein Kind versagen wird. Doch, womit löset Ihr die Braut nach Landes Brauch?« »Ich habe«, erwiderte der Fisch, »weder Gold noch Silber; aber im Grunde dieser See liegt ein großer Schatz von Perlenmuscheln, du darfst nur fordern.« »Nun«, sagte der Graf, »drei Himten Zahlperlen sind wohl nicht zu viel für eine schöne Braut.« »Sie sind dein«, beschloss der Fisch, »und mein die Braut, in sieben Monden führe ich mein Liebchen heim.« Hierauf stürmte er lustig mit dem Schwanze, und trieb den Nachen bald an den Strand.

Der Graf brachte seine Forellen heim, ließ sie sieden und sich diese Karthäusermahlzeit nebst der Gräfin und der schönen Bertha wohl schmecken, und die letztere ahndete nicht, dass ihr dies Mahl teuer würde zu stehen kommen. Unterdessen nahm der Mond sechsmal ab und zu, und der Graf hatte sein Abenteuer beinahe vergessen; als aber der Silbermond zum siebentenmal sich zu runden begann, dachte er an die bevorstehende Katastrophe, und um kein Augenzeuge davon zu sein, drückte er sich ab und unternahm eine kleine Reise ins Land. In der schwülen Mittagsstunde, am Tage des Vollmonds, sprengte ein stattlich Geschwader Reuter ans Schloss; die Gräfin, bestürzt über so vielen fremden Besuch, wusste nicht, ob sie die Pforte öffnen sollte oder nicht. Als sich aber ein wohlbekannter Ritter anmeldete, ward ihm aufgetan. Er hatte gar oft zur Zeit des Wohlstandes und Überflusses in der Burg den Turnieren beigewohnt, und zu Schimpf und Ernst gestochen, auch manchen Ritterdank von der schönen Bertha Hand empfangen, und mit ihr den Vorreihen getanzt; doch seit der Glücksveränderung des Grafen war er gleich den übrigen Rittern verschwunden. Die gute Gräfin schämte sich vor dem edlen Ritter und seinem Gefolge ihrer großen Armut, dass sie nichts hatte, ihm aufzutischen. Er aber trat sie freundlich an, und bat nur um einen Trunk frisch Wasser aus dem kühlen Felsenbrunnen des Schlosses, wie er auch sonst zu tun gewohnt war, denn er pflegte nie Wein zu trinken, daher nennte man ihn scherzweise nur den Wasserritter. Die schöne Bertha eilte auf Geheiß der Mutter zum Brunnen, füllte einen Henkelkrug und kredenzte dem Ritter eine kristallene Schale, er empfing solche aus ihrer niedlichen Hand, setzte sie da an den Mund, wo ihre Purpurlippen die Schale berührt hatten, und tat ihr mit innigem Entzücken Bescheid.

 

Die Gräfin befand sich indessen in großer Verlegenheit, dass sie nicht vermögend war, ihrem Gaste etwas zum Imbiss aufzutragen; doch besann sie sich, dass im Schlossgarten eben eine saftige Wassermelone reifte. Augenblicklich drehte sie sich nach der Tür, brach die Melone ab, legte sie auf einen irdenen Teller, viel Weinlaub drunter und die schönsten wohlriechenden Blumen ringsumher, um sie dem Gaste aufzutragen. Wie sie aus dem Garten trat, war der Schlosshof leer und öde, sie sah weder Pferde noch Reisige mehr, im Zimmer war kein Ritter, kein Knappe; sie rief ihre Tochter Bertha, suchte sie im ganzen Hause und fand sie nicht. Im Vorhause aber waren drei Säcke von neuer Leinwand hingestellt, die sie in der ersten Bestürzung nicht bemerkt hatte, und die von außen anzufühlen waren, als wären sie mit Erbsen gefüllt; genauer sie zu untersuchen, ließ ihre Betrübnis nicht zu. Sie überließ sich ganz ihrem Schmerz, und weinte laut bis an den Abend, wo ihr Gemahl heimkehrte, der sie in großem Jammer fand. Sie konnt ihm die Begebenheit des Tages nicht verhehlen, so gern sie es getan hätte, denn sie befürchtete von ihm große Vorwürfe, dass sie einen fremden Ritter in die Burg gelassen, der die liebe Tochter entführt hätte. Aber der Graf tröstete sie liebreich und frug nur nach den Erbssäcken, von welchen sie ihm gesagt hatte, ging hinaus, sie zu beschauen und öffnete einen in ihrer Gegenwart. Wie groß war das Erstaunen der betrübten Gräfin, als eitel Perlen herausrollten, so groß, wie die großen Gartenerbsen, vollkommen gerundet, fein gebohrt, und von dem reinsten Wasser. Sie sah wohl, dass der Entführer ihrer Tochter jede mütterliche Zähre mit einer Zahlperle bezahlt hatte, bekam von seinem Reichtum und Stande eine gute Meinung, und tröstete sich damit, dass dieser Eidam kein Ungeheuer, sondern ein stattlicher Ritter sei, welche Meinung ihr der Graf auch nicht benahm.

Nun gingen die Eltern zwar aller schönen Töchter verlustig; aber sie besaßen einen unermesslichen Schatz. Der Graf machte bald einen Teil davon zu Gelde. Vom Morgen bis zum Abend war ein Gewühl von Kaufleuten und Juden im Schlosse, um die köstlichen Zahlperlen zu handeln. Der Graf löste seine Städte ein, tat das Waldschloss an einen Lehnsmann aus, bezog seine vormalige Residenz, richtete den Hofstaat wieder an, und lebte nicht mehr als ein Verschwender, sondern als ein guter Wirt, denn er hatte nun keine Tochter mehr zu verhandeln. Das edle Paar befand sich in großer Behaglichkeit, nur die Gräfin konnte sich über den Verlust ihrer Fräuleins nicht beruhigen, sie trug beständig Trauerkleider, und wurde nimmer froh. Eine Zeitlang hoffte sie, ihre Bertha mit dem reichen Perlenritter wieder zu sehen, und wenn ein Fremder bei Hofe gemeldet wurde, ahndete sie den wiederkehrenden Eidam. Der Graf vermochte es endlich nicht länger über sich, sie mit leerer Hoffnung hinzuhalten; in der traulichen Bettkammer, welche so manchem Männergeheimnis Luft macht, eröffnete er ihr, dass dieser herrliche Eidam ein scheußlicher Fisch sei. »Ach«, erseufzte die Gräfin, »ach, ich unglückliche Mutter! Hab ich darum Kinder geboren, dass sie ein Raub grausender Ungeheuer werden sollten? Was ist alles Erdenglück, was sind alle Schätze für eine kinderlose Mutter!« »Liebes Weib«, antwortete der Graf, »beruhiget Euch, es ist nun einmal nicht anders, wenn's von mir abhinge, sollt es Euch an Kindersegen nicht gebrechen.« Die Gräfin nahm diese Worte zu Herzen, meinte, ihr Gemahl mache ihr Vorwürfe, dass sie altere und die Unfruchtbare im Hause sei, denn er war noch ein feiner rüstiger Mann. Darüber betrübte sie sich so sehr, dass sie in große Schwermut fiel, und Freund Hein wäre ihr wohl ein willkommener Gast gewesen, wenn er bei ihr eingesprochen hätte.


 

Zweites Buch

 

 

lle Jungfrauen und Dirnen am Hofe nahmen großen Teil an den Leiden ihrer guten Frau, jammerten und weinten mit ihr, und suchten sie zu Zeiten auch durch Sang und Saitenspiel aufzuheitern; aber ihr Herz war der Freuden nicht mehr empfänglich. Jede Hofdame gab weisen Rat, wie der Geist des Trübsinns weggebannt werden möchte, gleichwohl war nichts zu erdenken, den Kummer der Gräfin zu mindern. Die Jungfrau, welche ihr das Handwasser reichte, war vor allen andern Dirnen klug und sittsam und bei ihrer Gebieterin wohlgelitten, sie hatte ein empfindsames Herz, und der Schmerz ihrer Herrschaft lockte ihr manche Träne ins Auge. Um nicht vorlaut zu scheinen, hatte sie immer geschwiegen, endlich konnte sie dem innern Drange nicht widerstehen, auch ihren guten Rat zu erteilen. »Edle Frau«, sagte sie, »wenn Ihr mich hören wolltet, so wüsste ich Euch wohl ein Mittel zu sagen, die Wunden Eures Herzens zu heilen.« Die Gräfin sprach: »Rede!« »Unfern von Eurer Residenz«, fuhr die Jungfrau fort, »wohnet ein frommer Einsiedler in einer schauervollen Grotte, zu welchem viel Pilger in mancherlei Not ihre Zuflucht nehmen, wie wär's, wenn Ihr von dem heiligen Manne Trost und Hülfe begehrtet? Wenigstens würde sein Gebet Euch die Ruhe Eures Herzens wiedergeben.« Der Gräfin gefiel dieser Vorschlag, sie hüllte sich in ein Pilgerkleid, wallfahrtete zu dem frommen Eremiten, eröffnete ihm ihr Anliegen, beschenkte ihn mit einem Rosenkranze von Zahlperlen und bat um seinen Segen, welcher so kräftig war, dass, eh ein Jahr verging, die Gräfin ihrer Traurigkeit quitt und ledig war, und eines jungen Sohns genas.

Groß war die Freude der Eltern über den holden Spätling, die ganze Grafschaft verwandelte sich in einen Schauplatz der Wonne, des Jubels und der Feierlichkeiten bei der Geburt des jungen Stammerben. Der Vater nannte ihn Reinald das Wunderkind. Der Knabe war schön, wie der Amor selbst, und seine Erziehung wurde mit solcher Sorgfalt betrieben, als wenn die Morgenröte der philanthropistischen Methode damals schon wäre angebrochen gewesen. Er wuchs lustig heran, war die Freude des Vaters und der Mutter Trost, die ihn wie ihren Augapfel wahrte. Ob er nun wohl der Liebling ihres Herzens war, so verlosch doch das Andenken an ihre drei Töchter nicht in ihrem Gedächtnis. Oft, wenn sie den kleinen lachenden Reinald in die Arme schloss, träufelte eine Zähre auf seine Wangen, und als der liebe Knabe etwas heranwuchs, frug er oft wehmütig: »Gute Mutter, was weinest du?« Die Gräfin verhehlte ihm aber mit Vorbedacht die Ursache ihres geheimen Kummers: denn außer dem Gemahl wusste niemand, wo die drei jungen Gräfinnen hingeschwunden waren. Manche spekulative Köpfe wollten wissen, sie wären von irrenden Rittern entführt worden, welches damals nichts Ungewöhnliches war; andere behaupteten, sie lebten in einem Kloster versteckt; noch andere wollten sie im Gefolge der Königin von Burgund, oder der Gräfin von Flandern, gesehen haben. Durch tausend Schmeicheleien lockte Reinald der zärtlichen Mutter dennoch das Geheimnis ab, sie erzählte ihm die Abenteuer der drei Schwestern nach allen Umständen, und er verlor kein Wort von diesen Wundergeschichten aus seinem Herzen. Er hatte keinen andern Wunsch als den, wehrhaft zu sein, um auf das Abenteuer auszugehen, seine Schwestern im Zauberwalde aufzusuchen und ihren Zauber zu lösen. Sobald er zum Ritter geschlagen war, begehrte er vom Vater Urlaub, einen Heereszug, wie er vorgab, nach Flandern zu tun. Der Graf freute sich des ritterliches Mutes seines Sohnes, gab ihm Pferde und Waffen, auch Schildknappen und Trossbuben, und ließ ihn mit Segen von sich, so ungern auch die sorgsame Mutter in den Abschied willigte.

Kaum hatte der junge Ritter seine Vaterstadt im Rücken, so verließ er die Heerstraße und trabte mit romantischem Mute auf das Waldschloss zu, begehrte von dem Lehnsmann Herberge, der ihn ehrlich empfing und wohlhielt. Am frühen Morgen, da im Schloss noch alles in süßen Schlummer lag, sattelte er sein Ross, ließ sein Gefolge zurück, und jagte voll Mut und Jugendfeuer nach dem bezauberten Walde hin. Je weiter er hineinkam, je dichter wurde das Gebüsch, und vom Huf seines Pferdes schallten die schroffen Felsen wider. Alles um ihn her war einsam und öde, und die dichtverwachsenen Bäume schienen dem jungen Waghals den weitern Eingang mitleidig zu versperren. Er stieg vom Pferde, ließ es grasen und machte sich mit seinem Schwert einen Weg durch den Busch, klimmte an steilen Felsen hinan und gleitete in Abgründe hinab. Nach langer Mühe gelangte er in ein gekrümmtes Tal, durch welches sich ein klarer Bach schlängelte. Er folgte den Krümmungen desselben, in der Ferne öffnete eine Felsengrotte ihren unterirdischen Schlund, vor welcher etwas, das einer menschlichen Figur ähnlich war, sich zu regen schien. Der kecke Jüngling verdoppelte seine Schritte, nahm den Weg zwischen den Bäumen hin, blickte der Grotte gegenüber hinter den hohen Eichen durch, und sah eine junge Dame im Grase sitzen, die einen kleinen ungestalten Bär auf dem Schoße liebkoste, indes noch ein größerer um sie schäkerte, bald ein Männchen machte, bald einen possierlichen Purzelbaum schlug, welches Spiel die Dame sehr zu amüsieren schien.

Reinald erkannte nach der mütterlichen Erzählung die Dame für seine Schwester Wulfild, sprang hastig aus seinem Hinterhalt hervor, sich ihr zu entdecken. Sobald sie aber den jungen Mann erblickte, tat sie einen lauten Schrei, warf den kleinen Bär ins Gras, sprang auf, dem Kommenden entgegen, und redete ihn mit wehmütiger Stimme und ängstlicher Gebärde also an: »O Jüngling, welcher Unglücksstern führt dich in diesen Wald? Hier wohnt ein wilder Bär, der frisst all Menschenkind, die seiner Wohnung nahen, flieh und errette dich!« Er neigte sich züchtiglich gegen die bildschöne Dame und antwortete: »Fürchtet nichts, holde Gebieterin, ich kenne diesen Wald und seine Abenteuer und komme, den Zauber zu lösen, der Euch hier gefangen hält.« »Tor!« sprach sie, »wer bist du, dass du es wagen darfst, diesen mächtigen Zauber zu lösen, und wie vermagst du das?« Er: »Mit diesem Arm und durch dies Schwert! Ich bin Reinald das Wunderkind genannt, des Grafen Sohn, dem dieser Zauberwald drei schöne Töchter raubte. Bist du nicht Wulfild, seine Erstgeborne?« Ob dieser Rede entsetzte sich die Dame noch mehr, und staunte den Jüngling mit stummer Verwunderung an. Er nutzte diese Pause und legitimierte sich durch so viel Familiennachrichten, dass sie nicht zweifeln konnte, Reinald sei ihr Bruder. Sie umhalste ihn zärtlich, aber ihr Kniee wankten vor Furcht wegen der augenscheinlichen Gefahr, worin sein Leben schwebte.

Sie führte hierauf ihren lieben Gast in die Höhle, um da einen Winkel auszuspähen, ihn zu beherbergen. In diesem weiten düstern Gewölbe lag ein Haufen Moos, welches dem Bär und seinen Jungen zum Lager diente; gegenüber aber stand ein prächtiges Bett, mit roten Damast behangen und mit goldnen Tressen besetzt, für die Dame. Reinald musste sich bequemen, eiligst unter der Bettlade Platz zu suchen, und da sein Schicksal zu erwarten. Jeder Laut und alles Geräusch war ihm bei Leib und Leben untersagt, besonders prägte ihm die angstvolle Schwester wohl ein, weder zu husten noch zu niesen. Kaum war der junge Waghals an seinem Zufluchtsorte, so brummte der fürchterliche Bär zur Höhle herein, schnoberte mit blutiger Schnauze allenthalben umher; er hatte den edlen Falben des Ritters im Walde ausgespürt und ihn zerrissen. Wulfild saß auf dem Thronbette wie auf Kohlen, ihr Herz war eingepresst und beklommen, denn sie sah bald, dass der Herr Gemahl seine Bärenlaune hatte, weil er vermutlich den fremden Gast in der Höhle merkte. Sie unterließ deshalb nicht, ihn zärtlich zu liebkosen, streichelte ihn sanft mit ihrer sammetweichen Hand den Rücken herab, krauete ihm die Ohren; aber das grämliche Vieh schien wenig auf diese Liebkosungen zu achten. »Ich wittere Menschenfleisch«, murmelte der Fresser aus seiner weiten Kehle.

»Herzensbär«, sagte die Dame, »du irrst dich, wie käme ein Mensch in diese traurige Einöde?« »Ich wittere Menschenfleisch«, wiederholte er und spionierte um das seidene Bette seiner Gemahlin herum. Dem Ritter ward dabei nicht wohl zu Mute. Ungeachtet seiner Herzhaftigkeit trat ihm ein kalter Schweiß vor die Stirne; indessen machte die äußerste Verlegenheit die Dame herzhaft und entschlossen: »Freund Bär«, sprach sie, »bald treibst du mir's zu bunt, fort hier von meiner Lagerstatt, sonst fürchte meinen Zorn.« Der Schnauzbär kümmerte sich wenig um diese Drohung, er hörte nicht auf, um den Bettumhang herum zu tosen. Allein so sehr er auch Bär war, so stand er gleichwohl unter dem Pantoffel seiner Dame; wie er Miene machte, seinen Dickkopf unter die Bettlade zu zwängen, fasste sich Wulfild ein Herz und versetzte ihm einen so nachdrücklichen Fußtritt in die Lenden, dass er ganz demütig auf seine Streu kroch, sich niedertat, brummend an den Tatzen sog und seine Jungen leckte. Bald darauf schlief er ein und schnarchte wie ein Bär. Hierauf erquickte die traute Schwester ihren Bruder mit einem Glase Sekt und etwas Zwieback, ermahnte ihn, gutes Muts zu sein, nun sei die Gefahr größtenteils vorüber. Reinald war von seinem Abenteuer so ermüdet, dass er bald darauf in tiefen Schlaf fiel und mit dem Schwager Bär um die Wette schnarchte.

Beim Erwachen befand er sich in einem herrlichen Prunkbette, in einem Zimmer mit seidenen Tapeten, die Morgensonne blickte freundlich zwischen den aufgezogenen Gardinen herein, neben dem Bette lagen auf einigen mit Sammet bekleideten Taburetts seine Kleider und die ritterliche Waffenrüstung, auch stand ein silbernes Glöcklein dabei, den Dienern zu schellen. Reinald begriff nicht, wie er aus der schaudervollen Höhle in einen prächtigen Palast sei versetzt worden, und war zweifelhaft, ob er jetzt träume, oder vorhin das Abenteuer im Walde geträumt habe. Aus dieser Ungewissheit zu kommen, zog er die Glocke. Ein zierlich gekleideter Kammerdiener trat herein, frug nach seinen Befehlen und meldete, dass seine Schwester Wulfild und ihr Gemahl Albert der Bär, seiner mit Verlangen warteten. Der junge Graf konnte sich von seinem Erstaunen nicht erholen. Ob ihm gleich bei Erwähnung des Bären der kalte Schweiß an die Stirn trat, so ließ er sich doch rasch ankleiden, trat ins Vorgemach heraus, wo er aufwartende Edelknaben, Läufer und Heiducken antraf, und mit diesem Gefolge gelangte er durch eine Menge Prachtgemächer und Vorsäle zum Audienzzimmer, wo ihn seine Schwester mit dem Anstande einer Fürstin empfing. Neben sich hatte sie zwei allerliebste Kinder, einen Prinzen von sieben Jahren und ein zartes Fräulein, das noch am Gängelbande geleitet wurde. Einen Augenblick hernach trat Albrecht der Bär herein, der jetzt sein grausendes Ansehen und alle Eigenschaften eines Bären abgelegt hatte und als der liebenswürdigste Prinz erschien. Wulfild präsentierte ihren Bruder an ihn, und Albert umhalste seinen Schwager mit aller Wärme der Freundschaft und Bruderliebe.

Der Prinz war mit all seinem Hofgesinde durch einen feindseligen Zauber auf Tage verzaubert. Das heißt, er genoss die Vergünstigung, alle sieben Tage von einer Morgenröte bis zur andern des Zaubers entlediget zu werden. Sobald aber die silbernen Sternlein am Himmel erbleichten, fiel der eherne Zauber wieder mit dem Morgentau aufs Land; das Schloss verwandelte sich in einen schroffen unersteiglichen Felsen, der reizende Park ringsumher in eine traurige Einöde, die Springbrunnen und Kaskaden in stehende trübe Sümpfe, der Inhaber des Schlosses wurde ein Zottenbär, die Ritter und Knappen Dächse und Marder; Hofdamen und Zofen wandelten sich in Eulen und Fledermäuse um, die Tag und Nacht girrten und wehklagten. An einem solchen Tage der Entzauberung war es, wo Albrecht seine Braut heimführte. Die schöne Wulfild, die sechs Tage geweint hatte, dass sie an einen zottigen Bär vermählt werden sollte, ließ ihren Trübsinn schwinden, als sie sah, dass sie sich in den Armen eines jungen wohlgemachten Ritters befand, der so minniglich sie umfasste und sie in einen herrlichen Palast einführte, wo ein glänzendes Brautgepränge ihrer wartete. Sie wurde von schönen Dirnen in Myrtenkränzen mit Gesang und Saitenspiel empfangen, ihrer ländlichen Kleidung entlediget und mit königlichem Brautschmuck angetan. Ob sie gleich nicht eitel war, so konnte sie doch das geheime Entzücken über ihre Wohlgestalt nicht verhehlen, da ihr die kristallenen Spiegel von allen Wänden des Brautgemachs tausend Schmeicheleien sagten. Ein splendides Gastmahl folgte auf die Vermählungszeremonie, und ein glänzender Ball paré beschloss die Feierlichkeit des festlichen Tages. Die reizende Braut atmete Wonne und Seligkeit in den Gefühlen der Liebe, die an ihrem Brauttage nach der Sitte der keuschen Vorwelt sich zum erstenmal in ihrem jungfräulichen Herzen regten, und das widernde Bärenideal war ganz aus ihrer Phantasie verdrungen. In der Mitternachtstunde wurde sie von ihrem Gemahl mit Pomp in die Brautkammer eingeführt, wo alle Liebesgötter im Plafond von Freude belebt ihre goldnen Flügel zu regen schienen, da das liebende Paar hineintrat. - Der süßeste Morgentraum schwand eben dahin, als die Neuvermählte erwachte und ihren Gemahl mit einem liebevollen Kuss gleichfalls aus dem Schlafe zu wecken vorhatte; wie groß war ihr Erstaunen, da sie ihn nicht an ihrer Seite fand und, den seidenen Vorhang aufhebend, sich in ein düsteres Kellergewölbe versetzt sah, wo das gebrochene Tageslicht durch den Eingang hineinfiel und nur so viel Hellung gab, dass sie einen furchterweckenden Bär wahrnehmen konnte, der aus einem Winkel hervor trübsinnig nach ihr hinblickte.

Sie sank auf ihr Lager zurück, und starb vor Entsetzen hin. Nach einer langen Pause kam sie erst wieder zu sich und sammelte so viel Kräfte, eine laute Klage anzuheben, welche die krächzenden Stimmen von hundert Eulen außerhalb der Höhle beantworteten. Der empfindsame Bär konnt's nicht aushalten, diese Jammerszene mit anzusehen, er musste hinaus unter Gottes freien Himmel, den Schmerz und Unwillen über sein hartes Schicksal auszukeuchen. Schwerfällig hob er sich vom Lager und zottete brummend in den Wald, aus welchem er nicht eher als am siebenten Tage kurz vor der Verwandlung zurückkehrte.

Die sechs traurigen Tage wurden der untröstbaren Dame zu Jahren. Über der hochzeitlichen Freude hatte man aus der Acht gelassen, die Bettlade der Braut mit einigen Lebensmitteln und Erfrischungen zu versehen, denn über alle leblosen Dinge, welche die schöne Wulfild unmittelbar berührte, hatte der Zauber keine Macht; aber ihr Gemahl würde auch selbst in ihren Umarmungen in der Stunde der Verwandlung zum Bären worden sein. In der Beklommenheit ihres Herzens schmachtete die Unglückliche zwei Tage dahin, ohne an Nahrungsmittel zu gedenken, endlich aber forderte die Natur die Mittel ihrer Erhaltung mit großem Ungestüm und erregte einen wilden Heißhunger, der sie aus der Höhle trieb, einige Nahrung zu suchen. Sie schöpfte mit der hohlen Hand ein wenig Wasser aus dem vorüberrieselnden Bächlein und erquickte damit ihre heißen trocknen Lippen, pflückte einige Hambutten und Brombeere und verschlang in wilder Betäubung eine Handvoll Eicheln, die sie gierig auflas, und noch eine Schürze voll aus mechanischem Instinkt mit in die Höhle zurücknahm, denn um ihr Leben war sie wenig bekümmert: sie wünschte nichts sehnlicher als den Tod.

Mit diesem Wunsche schlief sie am Abend des sechsten Tages ein, und erwachte am frühen Morgen in eben dem Gemache wieder, in welches sie als Braut eingetreten war; sie fand da alles noch in der nämlichen Ordnung, wie sie es verlassen hatte, und den schönsten zärtlichsten Gemahl an ihrer Seite, der in den rührendsten Ausdrücken ihr sein Mitleid über den traurigen Zustand bezeigte, in welchen seine unwiderstehliche Liebe zu ihr sie gebracht hätte, und sie mit Tränen in den Augen um Verzeihung bat; er erklärte ihr die Beschaffenheit des Zaubers, dass jeder siebente Tag solchen unwirksam mache, und alles in seiner natürlichen Gestalt darstelle. Wulfild wurde durch die Zärtlichkeit ihres Gemahls gerührt; sie bedachte, dass eine Ehe noch gut genug wäre, wo der siebente Tag immer heiter sei, und dass nur die glücklichsten der Ehen sich dieser Prärogative rühmen könnten; sie fand sich in ihr Schicksal, vergalt Liebe mit Liebe und machte ihren Albert zum glücklichsten Bär unter der Sonne. Um nicht wieder in den Fall zu kommen, in der Waldhöhle zu darben, legte sie jederzeit, wenn sie zur Tafel ging, ein Paar weite Poschen an, diese belastete sie mit Konfekt, süßen Orangen und andern köstlichen Obst. Auch den gewöhnlichen Nachttrunk ihres Herrn, der ins Schlafgemach gestellt wurde, verbarg sie sorgfältig in ihrer Bettlade, und so war ihre Küche und Keller immer für die Zeit der Metamorphose zureichend bestellt. Einundzwanzig Jahre hatte sie bereits im Zauberwalde verlebt, und diese lange Zeit hatte keinen ihrer jugendlichen Reize verdrungen; auch war die wechselseitige Liebe des edlen Paares noch Gefühl des ersten mächtigen Instinkts. Die Mutter Natur behauptet aller anscheinenden Störungen ungeachtet allenthalben ihre Rechte, auch in der Zauberwelt wacht sie mit großer Sorgfalt und Strenge dafür und wehret allem Fortschritt und den allmählichen Veränderungen der Zeit ab, solange durch die heterogenen Eingriffe der Zauberei die Dinge dieser Unterwelt ihrer Botmäßigkeit entzogen sind. Laut Zeugnis der heiligen Legende stiegen die frommen Siebenschläfer, nachdem sie ihren hundertjährigen Schlaf ausgeschlafen hatten, so munter und rüstig aus den römischen Katakomben hervor, wie sie hineingegangen waren, und hatten nur um eine einzige Nacht gealtert. Die schöne Wulfild hatte nach der Komputation der guten Mutter Natur, in den einundzwanzig Jahren nur drei Jahre verlebt, und befand sich noch in der vollen Blüte des weiblichen Alters. Eben diese Beschaffenheit hatte es auch mit ihren Gemahl und dem ganzen verzauberten Hofstaat.

Alles das eröffnete das edle Paar dem holden Ritter auf einer Promenade im Park, unter einer Laube, woran sich wilder Jasmin und Hills kletterndes Geißblatt zusammen verflochten. Der glückliche Tag schwand unter dem Gepränge einer bunten Hofgala und wechselseitigen Freundschaftsbezeugungen nur zu bald dahin. Man nahm das Mittagsmahl ein, nachher war Appartement und Spiel, ein Teil der Höflinge lustwandelten mit den Damen im Park, trieben Scherz und Minnespiel, bis man zur Abendtafel trompetete, wo in einer Spiegelgalerie unter Beleuchtung unzähliger Wachskerzen gespeist wurde. Man aß, trank und war fröhlich bis zur Mitternachtsstunde, Wulfild versorgte nach Gewohnheit ihre Poschen und riet ihrem Bruder, seine Taschen auch nicht zu vergessen. Als abgetragen war, schien Albert unruhig zu werden, flüsterte seiner Gemahlin etwas ins Ohr, sie nahm darauf ihren Bruder beiseite und sprach wehmütig also: »Geliebter Bruder, wir müssen uns scheiden, die Stunde der Verwandlung ist nicht mehr fern, wo alle Freuden dieses Palastes hinschwinden; Albert ist um dich bekümmert, er fürchtet für dein Leben; er würde dem tierischen Instinkt nicht widerstehen können, dich zu zerreißen, wenn du die bevorstehende Katastrophe hier abwarten wolltest, verlass diesen unglücklichen Wald und kehre nie wieder zu uns zurück.« »Ach«, erwiderte Reinald, »es begegne mir, was das Verhängnis über mich beschlossen hat, scheiden kann ich mich nicht von euch, ihr Lieben! Dich, o Schwester, aufzusuchen, war mein Beginnen, und da ich dich gefunden habe, verlass ich diesen Wald nicht ohne dich. Sag, wie ich den mächtigen Zauber lösen kann?« »Ach«, sprach sie, »den vermag kein Sterblicher zu lösen!« Hier mischte sich Albert ins Gespräch, und wie er den kühnen Entschluss des jungen Ritters vernahm, mahnte er ihn mit liebreichen Worten von seinem Vorhaben so kräftig ab, dass dieser endlich dem Verlangen des Schwagers und den Bitten und Tränen der zärtlichen Schwester nachgeben, und zum Abschied sich bequemen musste.

Signor Albert umarmte den wackeren Jüngling brüderlich, und nachdem dieser seine Schwester umhalset hatte und nun scheiden wollte, zog Albert seine Brieftasche hervor, und nahm daraus drei Bärenhaare, rollte sie in ein Papier und reichte sie dem Ritter gleichsam scherzweise als ein Wahrzeichen, sich dabei des Abenteuers im Zauberwalde zu erinnern. »Doch«, setzte er ernsthaft hinzu, »verachtet nicht diese Kleinigkeit, sollte Euch irgend einmal Hülfe not tun, so reibt diese drei Haare zwischen den Händen und erwartet den Erfolg.« Im Schlosshofe stand ein prächtiger Phaethon mit sechs Rappen bespannt, nebst vielen Reitern und Dienern. Reinald stieg hinein: »Ade, mein Bruder!« rief Albert der Bär am Schlage; »ade, mein Bruder!« antwortete Reinald das Wunderkind, und der Wagen donnerte über die Zugbrücke dahin, auf und davon. Die goldnen Sterne funkelten noch hell am nächtlichen Himmel, der Zug ging über Stock und Stein, Berg auf Berg ab, durch Wüsten und Wälder, über Stoppen und Felder, sonder Ruh noch Rast, in vollem Trab. Nach einer guten Stunde begann der Himmel zu grauen; urplötzlich verloschen alle Windlichter, Reinald fand sich unsanft auf die Erde gesetzt, wusste nicht, wie ihm geschah; der Phaethon mit Ross und Wagen war verschwunden, aber bei dem Schimmer der Morgenröte sah er sechs schwarze Ameisen zwischen seinen Füßen hingaloppieren, die eine Nussschale fortzogen. Der mannliche Ritter wusste sich das Abenteuer nun leicht zu erklären, er hütete sich sorgfältig, eine Ameise etwa unversehens zu zertreten, erwartete ganz geruhig den Aufgang der Sonne, und weil er sich noch innerhalb der Grenzen des Waldes befand, beschloss er seine beiden jüngeren Schwestern gleichfalls aufzusuchen, und wenn es ihm nicht gelingen sollte, sie zu entzaubern, ihnen wenigstens einen Besuch zu machen.

Drei Tage irrte er vergebens im Wald umher, ohne dass ihm ein Abenteuer aufstieß. Eben hatte er die letzten Überbleibsel eines Milchbrotes von Schwager Albert des Bären Tafel aufgezehrt, als er hoch über sich in der Luft etwas rauschen hörte, wie wenn ein Schiff in vollem Segeln die Wellen durchschneidet; er schaute auf und erblickte einen mächtigen Adler, der sich aus der Luft herab aufs Nest tat, das er auf dem Baume hatte. Reinald war über diese Entdeckung hocherfreut, verbarg sich im Unterwuchs der Holzung und lauerte, bis der Adler wieder auffliegen würde. Nach sieben Stunden hob er sich vom Neste, alsbald trat der lauschende Jüngling hervor ins Freie und rief mit lauter Stimme: »Adelheid, geliebte Schwester, wenn du auf dieser hohen Eiche hausest, so antworte meiner Stimme, ich bin Reinald das Wunderkind genannt, dein Bruder, der dich sucht und die Banden des mächtigen Zaubers zu zerstören strebt, die dich fesseln.« Sobald er aufgehört hatte zu reden, antwortete eine sanfte weibliche Stimme von oben, wie aus den Wolken: »Bist du Reinald das Wunderkind, so sei willkommen deiner Schwester Adelheid, säume nicht, zu ihr heraufzuklimmen, die Trostlose zu umarmen.« Entzückt über diese frohe Botschaft wagte der Ritter freudig den Versuch, den hohen Baum hinauf zu klettern, aber vergebens. Dreimal lief er rund um den Stamm, aber der war zu dicke, ihn zu umklaftern, und die nächsten Äste viel zu hoch, sie zu erfassen. Indem er begierig auf Mittel sann, seinen Zweck zu erreichen, fiel eine seidene Strickleiter herab, durch deren Beihilfe er bald bis in den Gipfel des Baums zu dem Adlerneste gelangte, es war so geräumig und so feste gebaut, wie ein Altan auf einer Linde.

Er fand seine Schwester unter einem Thronhimmel sitzend, von außen gegen die Witterung mit Wachstaffet bekleidet, inwendig mit rosenfarbenen Atlas ausgeschlagen, auf ihrem Schoße lag ein Adlerei, welches auszubrüten sie beschäftiget war. Der Empfang war auf beiden Seiten sehr zärtlich, Adelheid hatte genaue Kundschaft von ihres Vaters Hause, und wusste, dass Reinald ihr nachgeborener Bruder war. Edgar der Aar, ihr Gemahl, war auf Wochen verwünscht, alle sieben Wochen war eine von der Bezauberung frei, in dieser Zwischenzeit hatte er seiner Gemahlin zuliebe unerkannterweise oft das Hoflager seines Schwiegervaters besucht, und sagte ihr von Zeit zu Zeit an, wie es in ihres Vaters Hause stand. Adelheid lud ihren Bruder ein, die nächste Verwandlung bei ihr abzuwarten, obgleich der Termin erst in sechs Wochen bevorstand, so willigte er doch gern ein. Sie versteckte ihn in einem hohlen Baum und beköstigte ihn täglich aus dem Magazin unter ihrem Sofa, das mit Schiffsprovision, das heißt, solchen Esswaren, die sich konservieren, auf sechs Wochen reichlich versehen war. Sie entließ ihn mit der wohlmeinenden Vermahnung: »So lieb dir das Leben ist, hüte dich für Edgars Adlerblick, sieht er dich in seinem Gehege, so ist's um dich geschehen; er hackt dir die Augen aus und frisst dir das Herz ab, wie er nur erst gestern dreien deiner Knappen tat, die dich hier im Walde suchten.« Reinald schauderte über das Schicksal seiner Knappen zurück, versprach seiner wohl zu wahren, und harrte in dem Patmus des hohlen Baumes sechs langweilige Wochen aus; doch genoss er das Vergnügen, mit seiner Schwester zu kosen, wenn der Adler vom Neste flog. Aber für diese Prüfung seiner Geduld wurde er nachher durch sieben freudenvolle Tage sattsam entschädigt.

Die Aufnahme beim Schwager Aar war nicht minder freundschaftlich als beim Schwager Bär; sein Schloss, seine Hofstatt, alles war hier so wie dort, jeder Tag war ein Freudenfest und die Zeit der fatalen Verwandlung rückte nur zu geschwind herbei. Am Abend des siebenten Tages entließ Edgar seinen Gast mit den zärtlichsten Umarmungen, doch warnte er ihn, sein Gehege nicht wieder zu betreten. »Soll ich mich«, sprach Reinald wehmütig, »ewig von euch scheiden, ihr Geliebten? Ist's nicht möglich, den unglücklichen Zauber zu lösen, der euch hier gefangen hält? Hätte ich hundert Leben zu verlieren, ich wagte sie alle, euch zu erlösen.« Edgar drückte ihm herzig die Hand: »Dank, edler junger Mann, für Eure Lieb und Freundschaft; aber lasst das kecke Unterfangen schwinden. Es ist möglich, unsern Zauber zu lösen; aber Ihr sollt's, ihr dürft's nicht. Wer's beginnt, wenn's misslingt, dem kostet es das Leben, und Ihr sollt nicht das Opfer für uns werden.« Durch diese Rede wurde Reinalds Heldenmut nur mehr angefeuert, das Abenteuer zu bestehen. Seine Augen funkelten vor Verlangen, und die Wangen rötete ein Strahl von Hoffnung, seinen Zweck zu erreichen; er drang den Schwäher Edgar, ihm das Geheimnis mitzuteilen, wie der Zauber des Waldes aufzulösen sei; doch dieser wollt ihm nichts enträtseln, aus Sorge, das Leben des kühnen Jünglings in Gefahr zu setzen. »Alles was ich Euch sagen kann, lieber Kumpan«, sprach er, »ist, dass Ihr den Schlüssel der Bezauberungen finden müsst, wenn es Euch gelingen soll, uns zu erlösen. Seid Ihr vom Schicksal bestimmt, unser Befreier zu sein, so werden Euch die Sterne Weg und Bahn anzeigen, wo Ihr ihn zu suchen habt; wo nicht, so ist Torheit all Euer Beginnen.« Hierauf zog er seine Brieftasche hervor und nahm daraus drei Adlerfedern, die er dem Ritter darreichte, sich seiner dabei zu erinnern. Wenn ihm einst Hilfe not täte, sollt er sie zwischen den Händen reiben und den Erfolg erwarten. Drauf schieden sie freundlich auseinander. Edgars Hofmarschalk und das Hofgesinde begleiteten den lieben Fremdling durch einen langen Gang, mit emporstrebenden Weymouths, Kiefern und Eibenbäumen bepflanzt, bis zum Ausgang des Geheges, und als er außerhalb desselben war, schlossen sie das Gattertor zu und kehrten eilig zurück, denn die Zeit der Verwandlung stand bevor. Reinald setzte sich unter eine Linde, das Wunder mit anzusehen, der Vollmond leuchtete hell und klar, er sah das Schloss noch gar deutlich über die Gipfel der hohen Bäume hervorragen; doch in der Morgendämmerung war um ihn ein dicker Nebel, und wie diesen die aufgehende Sonne niederdrückte, war Schloss und Park und Gattertor verschwunden, er befand sich in einer traurigen Einöde, oben auf einer Felsenwand neben einem unermesslichen Abgrund.

Der junge Abenteurer blickte rings umher, einen Weg hinab ins Tal zu finden, da wurde er in der Ferne einen See gewahr, dessen Spiegelfläche der Abglanz der Sonnenstrahlen versilberte. Mit großer Mühe arbeitete er sich den ganzen Tag durch den dichtverwachsenen Wald, sein Tichten und Trachten war nur auf den See gerichtet, wo er seine dritte Schwester Bertha vermutete; aber je weiter er in den wilden Busch hineinkam, je undurchdringlicher wurde er, der See verlor sich aus seinen Augen und auch die Hoffnung, ihn wieder zu erblicken. Doch gegen Sonnenuntergang sah er die Wasserfläche wieder zwischen den Bäumen durchschimmern, als der Wald lichter wurde, dennoch erreichte er das Ufer nicht eher als mit hereinbrechender Nacht. Ermüdet schlug er sein Lager unter einem Feldbaum auf und erwachte nicht eher, bis die Sonne schon hoch am Himmel stand. Durch den Schlaf fand er sich gestärkt und seine Glieder rüstig und wacker; er sprang rasch auf und wandelte längst dem Ufer hin voller Gedanken und Anschläge, wie er zu seiner Schwester im Weiher gelangen möchte. Vergebens ließ er seinen Spruch und Gruß erschallen: »Bertha, geliebte Schwester, hausest du in diesem Weiher, so gib Antwort auf meine Rede, ich bin Reinald das Wunderkind genannt, dein Bruder, der dich aufsucht, deinen Zauber zu lösen und dich aus diesem nassen Gefängnis herauszuführen.« Doch ihm antwortete nichts als das vielstimmige Echo vom Walde her. »O ihr lieben Fische«, fuhr er fort, als ganze Scharen rotgesprengter Fohren ans Ufer schwammen und den jungen Fremdling anzugaffen schienen, »ihr lieben Fische, sagt's eurer Gebieterin an, dass ihr Bruder hier am Ufer harret, ihr zu begegnen.« Er zerpflückte alle Brotfragmente, die er noch in seinen Taschen fand, und warf sie in den Teich, die Fische damit zu bestechen, ob sie seiner Schwester von ihm Botschaft bringen möchten; allein die Fohren schnappten die Semmelbrocken gierig auf, ohne sich um ihren Wohltäter weiter zu bekümmern. Reinald sah wohl, dass mit seiner Fischpredigt nichts ausgerichtet war, deshalb versuchte er auf eine andre Manier sein Unterfangen auszuführen. Als ein flinker Ritter war er in allen Leibesübungen wohlgeübt, und schwimmen konnt er wie eine Wassermaus, darum resolvierte er sich kurz, entkleidete sich von seiner Rüstung, nahm von den Waffen nichts als das blanke Schwert in die Hand, und sprang im Waffenkleide von feuerfarbenem Satin, weil er keines Nachen ansichtig wurde wie weiland sein Vater, beherzt in die Fluten, um den Schwager Behemot aufzusuchen. Er wird, dachte er, mich nicht gleich verschlingen und schon ein vernünftiges Wort mit sich reden lassen, wie er bei meinem Vater tat. Drauf plätscherte er geflissentlich in den Wellen, das Meerwunder herbeizulocken, und schaukelte auf den blauen Wogen mitten in den Weiher hinein.

Solang es seine Kräfte erlaubten, verfolgte er den nassen Pfad getrost, ohne dass ihm ein Abenteuer aufstieß; wie er aber anfing zu ermatten, schaute er nach dem Gestade um und sah unfern einen dünnen Nebel aufsteigen, der hinter einer emporstehenden Eisscholle hervorzukommen schien. Er ruderte aus allen Kräften, das Phänomen näher zu betrachten, und fand eine kurze Säule von Bergkristall aus dem Wasser hervorragen, die hohl zu sein schien, denn aus dieser stieg ein herzerquickender Wohlgeruch in kleinen Dampfwolken in die Höhe, welche der Windstrom spielend auf das Wasser warf. Der kühne Schwimmer vermutete, dass das wohl der Schlot zu der unterirdischen Wohnung seiner Schwester sein könnte, er wagte es also, darinnen hinabzuschlüpfen, und diese Vermutung täuschte ihn auch nicht. Der Rauchfang führte unmittelbar in den Kamin des Schlafgemachs der schönen Bertha, welche eben beschäftigt war, im reizenden Morgennegligé ihre Schokolade bei einem kleinen Feuer von roten Sandelholz zu bereiten.

Wie die Dame das Geräusch im Schlote vernahm und urplötzlich zwei Menschenfüße den Kamin herabzappeln sah, wurden ihre Lebensgeister von dieser unerwarteten Visite so sehr überrascht, dass sie vor Schrecken den Schokoladentopf umstieß und rücklings auf ihren Armstuhl in Ohnmacht sank. Reinald rüttelte sie so lange, bis sie wieder zu sich selbst kam, und sobald sie sich ein wenig erholt hatte, sprach sie mit matter Stimme: »Unglücklicher, wer du auch seist, wie darfst du es wagen, diese unterirdische Wohnung zu betreten? Weißt du nicht, dass diese Vermessenheit dir den unvermeidlichen Tod bringt?« »Fürchte nichts, meine Liebe«, sprach der wackere Ritter, »ich bin dein Bruder Reinald das Wunderkind genannt, scheue nicht Gefahr noch Tod, meine geliebten Schwestern aufzusuchen und die Banden des mächtigen Zaubers aufzulösen, der sie fesselt.« Bertha umarmte ihren Bruder zärtlich; aber ihr schlanker Leib zitterte vor Furcht.

Ufo der Delphin, ihr Gemahl, hatte den Hof seines Schwiegervaters gleichfalls zuweilen im strengen Inkognito besucht, und unlängst in Erfahrung gebracht, dass Reinald ausgezogen sei, seine Schwester aufzusuchen. Dies kühne Vorhaben des Jünglings hatte er oft beklagt: »Wenn ihn«, sprach er, »Schwager Bär nicht frisst, noch Schwager Aar die Augen aushackt, so wird ihn doch Schwager Hai verschlingen; ich fürchte in der Anwandlung tierischer Wut dem Triebe nicht widerstehen zu können, ihn hinunterzuschlürfen, und wenn du ihn mit deinen zarten Armen umfasstest, du Liebe, ihn zu schützen: so würde ich deine kristallene Wohnung zertrümmern, dass dich die hereinströmenden Fluten ersäuften, und ihn würde ich in meinem Walfischbauch begraben; denn zur Zeit der Verwandlung, weißt du, ist unsre Wohnung jedem Fremdling unzugänglich.« Alles das verhehlte die schöne Bertha ihrem Bruder nicht; er aber antwortete: »Kannst du mich nicht vor den Augen des Meerwunders verbergen, wie deine Schwestern taten, dass ich hier weile, bis der Zauber schwindet?« »Ach«, versetzte sie, »wie könnte ich dich verbergen? Siehst du nicht, dass diese Wohnung von Kristall ist und dass alle Wände so durchsichtig sind wie der Eishimmell?(x)« »Es wird doch irgendein undurchschaubarer Winkel im Hause sein«, gegenredete Reinald; »oder bist du die einzige deutsche Frau, welche die Augen ihres Mannes nicht zu täuschen vermag?« Die schöne Bertha war in dieser Kunst ganz unerfahren, sie sann und sann, endlich fiel ihr noch zum Glück die Holzkammer ein, wohin sie ihren Bruder bergen könnte. Er akzeptierte den Vorschlag ohne Einwendung, verschränkte das Holz in der durchsichtigen Kammer so kunstreich, wie ein Biber seinen unterirdischen Bau, und verbarg sich darin aufs beste. Die Dame eilte darauf an ihre Toilette, setzte sich so reizend auf als möglich, legte eins der schönsten Kleider an, das ihren schlanken Wuchs begünstigte, ging ins Audienzgemach, harrend auf den Besuch ihres Gemahls, des Delphins, und stand da so minniglich wie eine der drei Grazien in der Einbildungskraft eines Dichters. Ufo der Delphin konnte des Umganges seiner liebenswerten Gemahlin während der Zeitperioden der Verzauberung nicht anders genießen, als dass er ihr täglich einen Besuch machte, sie von außen durch das gläserne Haus sah, und sich an dem Anblick ihrer Schönheit weidete.

Kaum hatte die holde Bertha ihr Sprachzimmer betreten, so kam der ungeheure Fisch herangeschwommen, das Wasser fing schon von weiten an zu rauschen, die Fluten kräuselten sich in Wirbeln rings um den kristallenen Palast. Das Meerwunder stand von außen vor dem Gemach, atmete Ströme von Wasser ein und stürzte sie wieder aus seinem weiten Schlunde hervor, gaffte dabei mit glotzenden meergrünen Augen die schöne Frau stumm und staunend an. So sehr sich auch die gute Dame angelegen sein ließ, ein unbefangenes Air zu affektieren, so wenig war das in ihrer Gewalt: alle Schälkelei und Verstellung war ihr ganz fremd, das Herz bebte und bangte ihr, der Busen hob sich hoch und schnell, ihre Wangen und Lippen glühten und erbleichten plötzlich wieder. Der Delphin hatte ungeachtet seiner dämischen Fischnatur dennoch so viel physiognomisches Gefühl, dass er aus diesen Signalementen Unrat merkte, scheußliche Grimassen machte und pfeilgeschwind fortschoss. Er umkreiste den Palast in unzähligen Schraubengängen und trieb solchen Unfug in den Wogen, dass die kristallene Wohnung davon erbebte, und die erschrockene Bertha nicht anders glaubte, er würde solche augenblicks zerschellen. Der spähende Delphin konnte indessen bei dieser strengen Haussuchung nichts wahrnehmen, was seinen Verdacht zu bestärken schien, daher wurde er allgemach ruhiger, und zum Glück hatte er durch sein Toben das Wasser so getrübt, dass er nicht sehen konnte, in welchem Zustand die bängliche Bertha sich befand. Er schwamm fort, die Dame erholte sich wieder von ihrem Schrecken, Reinald verhielt sich still und ruhig in der Holzkammer, bis die Zeit der Verwandlung herankam; und obgleich allem Ansehen nach Schwager Walfisch nicht allen Verdacht schwinden ließ, denn er vergaß nie bei seinem täglichen Besuch, dreimal die Ronde ums Haus zu schwimmen, und alle Winkel des kristallenen Palastes zu durchspähen, so gebärdete er sich doch nicht so wütig dabei als das erstemal. Die Stunde der Verwandlung befreite endlich den duldsamen Gefangenen aus der einsamen Holzkammer.

Als er eines Tages erwachte, befand er sich in einem königlichen Palast auf einer kleinen Insel. Gebäude, Lustgärten, Marktplätze, alles schien auf dem Wasser zu schwimmen, hundert Gondeln schwankten auf den Kanälen auf und ab, und alles lebte und webte auf den offenen Plätzen in fröhlicher Geschäftigkeit; kurz das Schloss des Schwager Delphins war ein kleines Venedig. Der Empfang des jungen Ritters war hier ebenso herzig und freundschaftsvoll als an den Höfen der beiden andern Schwäger. Ufo der Delphin war auf Monden verwünscht, der siebente war jedesmal der Rastmonat der Verzauberung: von einem Vollmond bis zum andern gedieh alles in seinen natürlichen Zustand. Weil Reinalds Aufenthalt hier länger dauerte, so wurde er mit dem Schwäher Ufo auch bekannter und lebte mit ihm vertrauter als mit den andern. Seine Neugierde peinigte ihn schon lange, zu erfahren, durch welches Schicksal die drei Prinzen in den unnatürlichen Zustand der Verzauberung wären versetzt worden, er forschte fleißig deshalb an der Schwester Bertha, aber die konnt ihm keine Auskunft geben, und Ufo beobachtete über diesen Punkt ein geheimnisvolles Stillschweigen. Reinald erfuhr also nicht, was er wünschte. Unterdessen eilten die Tage der Freude auf den Fittichen der Winde dahin, der Mond verlor seine Silberhörner und rundete seine Gestalt mehr mit jedem Tage. Bei einer empfindsamen Abendpromenade verständigte Ufo seinen Schwäher Reinald, dass die Zeit der Trennung in wenig Stunden bevorstehe, und mahnte ihn an, zu seinen Eltern zurückzukehren, die seinethalben in großer Sorge lebten; die Mutter sei untröstlich, seitdem es am Hofe kund worden, dass er nicht nach Flandern, sondern in den Zauberwald auf Abenteuer ausgegangen sei. Reinald frug, ob der Wald noch viele enthalte, und vernahm, es sei nur noch eins übrig, davon er bereits Kundschaft habe: um den Minnesold den Schlüssel der Bezauberungen zu suchen und den kräftigen Talisman zu zerstören; so lange dieser wirke, sei für die Prinzen keine Erledigung zu hoffen. »Aber«, fügte Ufo der Delphin freundschaftlich hinzu, »folgt gutem Rate, junger Mann, dankt den translunarischen Mächten und der Protektion der Damen, Eurer Schwestern, dass Ihr nicht das Opfer Eures kühnen Unterfangens worden seid, den Zauberwald zu durchstreifen. Lasst Euch genügen an dem Ruhm, den Ihr erworben habt, ziehet hin und gebt Euren Eltern Bericht von alledem, was Ihr gesehen und gehört habt, und führt durch Eure Rückkehr die gute Mutter vom Rande des Grabes zurück, wohin sie Harm und Gram um Euch gebracht hat.« Reinald versprach, was Schwäher Ufo verlangte, mit Vorbehalt zu tun, was er wollte; denn die Herren Söhne, wenn sie mütterlicher Zucht entwachsen, groß und bengelhaft worden sind, und sich auf den tollen Rappen schwingen, kümmern sich wenig um die treuen Mutterzähren. Ufo merkte bald, worauf des Jünglings Sinn gestellt war, deshalb zog er seine Brieftasche hervor und nahm daraus drei Fischschuppen, reichte sie ihm zum Geschenk dar und sprach: »Wenn Euch einst Hilfe not tut, so reibt sie zwischen den Händen, dass sie flugs erwarmen, und erwartet den Erfolg.«

Reinald bestieg eine schön vergoldete Gondel und ließ sich durch zwei Gondelierer ans feste Land rudern. Kaum war er am Gestade, so verschwand die Gondel, das Schloss, die Gärten, die Marktplätze, und es blieb von all der Herrlichkeit nichts übrig als ein Fischteich mit hohem Schilf bewachsen, welches ein kühles Morgenlüftchen durchsäuselte. Der Ritter befand sich wieder an dem Platze, wo er vor drei Monden kühnlich ins Wasser sprang, sein Schild und Harnisch lag noch auf der Stelle und der Speer stand daneben gepflanzt, wie er seine Waffen verlassen hatte. Er aber gelobte sich nicht eher zu rasten, bis der Schlüssel der Bezauberungen in seiner Hand wäre.


Fußnote
(x) Sonder Zweifel ist das das prächtige Eisgewölbe, womit Dr. Berger die Erde umgibt. Entweder hat er seine Theorie aus einem Volksmärchen genommen oder als Volksmärchen erfunden.


Drittes Buch

er sagt mir an den geraden Weg, und wer leitet meinen Fuß auf die rechte Bahn, die zu dem wunderbarsten der Abenteuer führt in diesem grenzenlosen Walde. O ihr translunarischen Mächte, blickt freundlich auf mich herab, und wenn ein Erdensohn diesen mächtigen Zauber lösen soll, so lasst mich diesen glücklichen Sterblichen sein. So sprach Reinald ganz in sich gekehrt und ging fürbass seine unwegsame Straße waldeinwärts. Er durchstrich sieben Tage lang sonder Furcht noch Grausen die endlose Wildnis und schlief sieben Nächte lang unter freiem Himmel, dass seine Waffen vom nächtlichen Tau rosteten. Am achten Tage erstieg er eine Felsenzinne, von der er wie vom Sankt Gotthards Berge in unwirtbare Tiefen hinabblickte. Von der Seite öffnete sich ein Tal mit grüner Vinca überzogen, von hohen Granitfelsen umschlossen, welche Schierlingstannen und traurige Zypressen überragten. In der Ferne kam's ihm vor, als sähe er da ein Monument aufgerichtet. Zwei giganteske Marmorsäulen mit ehernen Knäufen und Füßen trugen ein dorisches Gebälke, welches an eine Felsenwand gelehnt war und ein stählernes Tor überschattete, mit starken Bändern und Riegeln versehen; auch lag noch zum Überfluss ein Anwurf davor, von der Größe eines Scheffels. Unfern des Portals weidete ein schwarzer Stier im Grase, mit funkelnden umherschauenden Augen, als wenn er den Eingang zu bewachen schien.

Reinald zweifelte nicht, dass er das Abenteuer gefunden habe, von dem ihm Schwäher Ufo der Delphin Erwähnung getan hatte, alsbald beschloss er, solches zu bestehen und schlüpfte von der Felsenzinne gemachsam hinab ins Tal. Er nahte dem Stier auf einen Bogenschuss, ehe ihn dieser zu bemerken schien; aber nun sprang er rasch auf, lief wütig hin und her, als rüste er sich zum Kampfe gegen den Ritter wie ein andalusischer, schnaubte gegen den Erdboden dass sich Staubwolken emporhoben, stampfte mit den Füßen dass der Grund erbebte, und schlug mit den Hörnern gegen die Felsen dass sie in Stücken sprangen. Der Ritter setzte sich in eine angreifende Stellung, und wie der Stier auf ihn anlief, vermied er das gewaltsame Horn durch eine geschickte Wendung und führte einen so kräftigen Schwertstrich nach dem Halse des Ungetüms, dass er vermeinte, das Haupt vom Rumpfe zu sondern, wie der tapfre Skanderbeg.

O Jammer! der Hals des Stiers war für Stahl und Eisen unverwundbar: das Schwert zerbrach in Stücke, und der Ritter behielt nur das Heft in der Hand. Er hatte nichts zu seiner Verteidigung übrig als eine Lanze von Ahornholz mit einer zweischneidigen Spitze von Stahl; aber auch die zerknickte beim zweiten Angriff wie ein schwacher Strohhalm. Der stößige Ochs erfasste den wehrlosen Jüngling mit den Hörnern und schleuderte ihn wie einen leichten Federball hoch in die Luft, auflauernd, ihn aufzufangen oder mit den Füßen zu zertreten. Glücklicherweise geriet er im Fallen zwischen die ausgebreiteten Äste eines wilden Birnbaums, die ihn wohltätig umfassten. Ob ihm gleich alle Rippen im Leibe knackten, so blieb ihm doch so viel Besinnungskraft, dass er sich fest an den Baum anklammerte, denn der wütige Ochs stieß mit seiner ehernen Stirne so gewaltsam gegen den Stamm, dass dieser sich aus der Wurzel hob und zum Fall neigte.

In der Zwischenzeit, als der mörderische Stier sich wendete, einen Anlauf zu nehmen, den gewaltsamen Stoß zu wiederholen, dachte Reinald an die Geschenke seiner Schwäher. Der Zufall führte ihm das Papier mit den drei Bärenhaaren zuerst in die Hand, er rieb sie aus allen Kräften und in dem Augenblicke kam ein grimmiger Bär dahergetrabt, der einen harten Kampf mit dem Stier begann; der Bär ward seiner bald mächtig, würgte ihn nieder und zerriss ihn in Stücke. Wie sich der hohle Bauch öffnete, flog heraus ein scheuer Entvogel, der mit großem Geschrei davonflog. Reinald ahndete, dass dieser Zauber des Sieges, welchen der Bär erkämpft hatte, spottete und den Gewinn desselben davontrage; er griff deshalb flugs nach den drei Federn und rieb sie zwischen den Händen. Darauf erschien ein mächtiger Adler hoch in der Luft, für welchen der furchtsame Entvogel sich nieder ins Gebüsch drückte; der Adler schwebte in unermessner Höhe über ihm. Wie der Ritter das bemerkte, scheuchte er den Entrich auf und verfolgte ihn, bis der Wald lichter wurde, und weil er sich nicht mehr bergen konnte, flog er auf und nahm seinen Flug gerade nach dem Weiher zu. Der Adler aber schoss aus den Wolken herab, ergriff und zerfleischte ihn mit seinen mächtigen Fängen. Indem er starb, ließ er ein goldenes Ei in den Weiher fallen. Der aufmerksame Reinald wusste auch dieser neuen Täuschung zu begegnen, er rieb flugs die Fischschuppen zwischen den Händen, da hob sich ein Walfisch aus dem Wasser, der das Ei in seinem weiten Rachen auffing und es ans Land spie. Des war der Ritter froh in seinem Herzen, schlug das goldene Ei mit einem Stein voneinander, da fiel ein kleiner Schlüssel heraus, den er triumphierend für den Schlüssel der Bezauberungen erkannte.

Schnellfüßig eilte er nun zu dem stählernen Portal zurück. Der Zwergschlüssel schien für das riesenmäßige Vorlegeschloss nicht gemacht zu sein, inzwischen wollt er doch einen Versuch damit machen; aber kaum berührte der Schlüssel das Schloss, so sprang es auf, die schweren eisernen Riegel schoben sich von selbst zurück und die stählerne Pforte tat sich auf. Frohen Mutes stieg er in die düstere Grotte hinab, in welcher sieben Türen in sieben verschiedene unterirdische Zimmer führten, allesamt prächtig aufgeputzt und herrlich mit Walratlichtern erleuchtet. Reinald durchwandelte alle nach der Reihe und trat aus dem letzteren in ein Kloset, wo er eine junge Dame ansichtig wurde, die auf einem Sofa in einem unerwecklichen magischen Schlummer ruhte. Bei diesem herzanfassenden Anblick erwachte in seiner Brust das Gefühl der Liebe; still und staunend stand er da und verwandt kein Auge von ihr, ein Beweis seiner großen Unerfahrenheit! Unser erleuchtetes Jahrhundert weiß dergleichen glückliche Situationen ganz anders zu nutzen. Nachdem Ritter Reinald sich von seinem Erstaunen erholet hatte, blickte er ein wenig im Zimmer umher und sah der schlafenden Dame gegenüber eine alabasterne Tafel voll wunderbarer Charaktere. Er vermutete, dass darauf der Talisman eingegraben sei, der alle Zaubereien des Waldes in ihrer Kraft erhielt. Aus gerechten Unwillen ballte er seine Faust mit dem eisernen Handschuh bewaffnet, und schlug mit Mannskraft dagegen. Sogleich fuhr die schöne Schläferin schreckhaft zusammen, erwachte, tat einen scheuen Blick nach der Tafel und sank in ihren betäubenden Schlummer zurück. Reinald wiederholte den Schlag, und es erfolgte alles so wie vorher. Nun war er darauf bedacht, den Talisman zu zerstören; aber er hatte weder Schwert noch Speer, nichts als zwei rüstige Arme, mit diesen erfasste er die magische Tafel und stürzte sie vom hohen Postament auf das Marmorpflaster herab, dass sie in Stücken zerfiel.

Augenblicks erwachte die junge Dame wieder aus ihrem Totenschlummer, und bemerkte nun erst beim dritten Erwachen die Gegenwart eines Ritters, der sich gar tugendlich und ehrlich auf ein Knie vor ihr niederließ. Doch eh er zu reden anhub, verhüllte sie ihr holdseliges Angesicht mit ihrem Schleier und sprach gar zornmütig: »Hinweg von mir, schändlicher Unhold! Auch in der Gestalt des schönsten Jünglings sollst du weder meine Augen täuschen, noch mein Herz betrügen. Du kennst meine Gesinnung, lass mir meinen Totenschlaf, worein mich deine Zauberei versetzt hat.« Reinald begriff den Irrtum der Dame, darum ließ er sich diese Sprache nicht befremden und gegenredete also: »Holdes Fräulein, zürnet nicht! Ich bin nicht der gefürchtete Unhold, der Euch hier gefangen hält, ich bin Graf Reinald das Wunderkind genannt, sehet hier den Zauber zerstöret, der Eure Sinnen umnebelt hatte.« Das Fräulein glostete ein wenig unter dem Schleier hervor, und als sie die alabasterne Tafel zertrümmert sah, wunderte sie sich bass über die kühne Tat des jungen Abenteurers, blickte ihn holdselig an und er gefiel ihren Augen. Sie hob ihn freundlich auf, indem sie ihm die Hand reichte und sprach: »Ist's so, wie Ihr saget, edler Ritter, so vollendet Euer Werk und führet mich aus dieser grausenvollen Höhle, dass ich Gottes Sonne glänzen sehe, wenn's draußen taget, oder die güldnen Sternlein am nächtlichen Himmel.«

Reinald bot ihr den Arm, sie durch die sieben Prunkzimmer zu führen, durch welche er eingetreten war. Er eröffnete die Tür; aber draußen war's ägyptische Finsternis, dass man das Dunkel greifen konnte, wie im Anfang der Schöpfung, ehe der elektrische Strahl des Lichtes angezündet war. Alle Kerzen waren erloschen, und die kristallenen Kronleuchter gossen nicht mehr ihren sanften Schimmer aus den hohen Kuppeln der Basaltgewölbe herab. Das edle Paar tappte lang im Dunkel, ehe sie sich aus diesen labyrinthischen Gängen herausfanden und des Tages Schimmer durch den fernen Eingang einer unförmlichen Felsenhöhle hereindämmern sahen. Die Entzauberte empfand die herzerquickende balsamische Kraft der allbelebenden Natur und atmete mit Entzücken den Blumenduft, den ihr der laue Zephir über die blühenden Auen entgegenwehte. Sie setzte sich mit dem schlanken Ritter ins Gras, und er entbrannte gegen sie in heißer Liebe, denn sie war schön wie das Meisterstück der Schöpfung, das erste Weib aus Adams Rippe geformt. Doch quälte ihn eine andre Leidenschaft schier noch mehr, das war die Begierde zu erfahren, wer die schöne Unbekannte sei und wie sie in diesen Wald wäre verzaubert worden. Er bat sie züchtiglich, ihm davon Bescheid zu geben, und das Fräulein tat ihren Rosenmund auf und sprach:

»Ich bin Hildegard, die Tochter Radbods, des Fürsten von Pommerland. Zornebock, der Sorbenfürst, begehrte mich von meinen Vater zur Gemahlin, weil er aber ein scheußlicher Riese und ein Heide war, auch in dem Ruf stand, dass er ein großer Schwarzkünstler sei, ward er unter dem Vorwand meiner zarten Jugend abgewiesen; worüber der Heide so sehr ergrimmte, dass er meinen guten Vater befehdete, ihn in einem Treffen erlegte und sich seiner Länder bemächtigte. Ich war zu meiner Tante, der Gräfin von Vohburg, geflohen, und meine drei Brüder, allesamt stattliche Ritter, waren der Zeit außer Landes auf ihren Ritterzügen. Dem Zauberer konnte mein Aufenthalt nicht verborgen bleiben, sobald er meines Vaters Land in Besitz genommen hatte, kam ihm ein, mich zu entführen, und vermöge seiner magischen Künste war ihm das ein leichtes. Mein Oheim, der Graf, war ein Liebhaber von der Jagd, ich pflegte ihn oft dahin zu begleiten, und alle Ritter seines Hofes wetteiferten bei dieser Gelegenheit, mir immer das bestgerüstete Pferd anzubieten. Eines Tages drängte sich ein unbekannter Stallmeister mit einem herrlichen Apfelschimmel zu mir heran, bat mich im Namen seines Herrn, dieses Pferd zu besteigen, und es zu würdigen als mein Eigentum aufzunehmen. Ich frug nach dem Namen seines Herrn, er entschuldigte sich diese Frage [nicht] eher zu beantworten, bis ich den Gaul erprobt und nach der Rückkehr von der Jagd mich würde erklärt haben, dass ich das Geschenk nicht verschmähe. Ich konnte dieses Anerbieten nicht wohl ausschlagen, überdas war das Pferd so prächtig gerüstet, dass es die Augen des ganzen Hofes auf sich zog. Gold und Edelsteine und prächtige Stickerei war an der purpurfarbenen Satteldecke verschwendet. Ein roter seidener Zaum lief vom Gebiss am Halse hinauf, Stangen und Bügel waren von gediegenem Golde, dicht mit Rubinen besetzt. Ich schwang mich in den Sattel und hatte die Eitelkeit, bei dieser Kavalkade mir selbst zu gefallen. Der Gang des edlen Rosses war so leicht und so gemachsam, dass es mit dem Huf die Erde kaum berühren zu schien. Leichtfüßig setzte es über Graben und Hecken, und die kühnsten Reiter vermochten nicht, ihm zu folgen. Ein weißer Hirsch, der mir bei der Jagd aufstieß, und dem ich nacheilte, zog mich tief in den Wald und trennte mich von dem Gefolge der Jäger. Um mich nicht zu verirren, verließ ich den Hirsch, zum Sammelplatz der Jagd zurückzukehren; aber das Pferd sträubte sich, mir zu gehorchen, bäumte sich auf, schüttelte die Mähne und wurde wild. Ich versucht es zu begütigen; aber in dem Augenblick nahm ich mit Entsetzen wahr, dass sich der Apfelschimmel unter mir in ein gefiedertes Ungetüm verwandelte: die Vorderfüße breiteten sich in ein Paar Flügel aus, der Hals verlängte sich, an dem Kopf streckte sich ein breiter Schnabel hervor, ich sah einen hochbeinigen Hippogryphen unter mir, der einen Anlauf nahm, sich mit mir in die Luft schwang und in weniger als einer Stunde in diesen Wald versetzte, wo er sich vor der stählernen Pforte eines antiken Schlosses niederließ.

Mein erstes Schrecken, von dem ich mich noch nicht erholt hatte, vermehrte sich, als ich den Stallmeister erblickte, der mir den Morgen den Apfelschimmel vorgeführt hatte und sich jetzt ehrerbietig nahte, mir aus dem Sattel zu helfen. Betäubt von Schrecken und Unmut ließ ich mich schweigend durch eine Menge Prachtgemächer zu einer Gesellschaft in Gala gekleideter Damen begleiten, die mich als ihre Gebieterin empfingen und meine Befehle erwarteten. Alle beeiferten sich, mich aufs beste zu bedienen, aber niemand wollte mir sagen wo und in wessen Gewalt ich mich befände. Ich überließ mich einer stummen Traurigkeit, welche Zornebock der Zauberer auf einige Augenblicke unterbrach, der in der Gestalt eines gelben Zigeuners zu meinen Füßen lag und um meine Liebe bat. Ich begegnete ihm so, wie mir mein Herz eingab, dem Mörder meines Vaters zu begegnen. Des Wüterichs Sitten waren wild, seine Leidenschaften stürmten in seiner Brust, er wurde leicht aufgebracht; ich rang mit der Verzweiflung, trotzte seiner Wut und forderte ihn auf, seine Drohungen zu erfüllen, den Palast zu zertrümmern und mich unter den Ruinen zu begraben; aber schnell verließ mich der Unhold und gab mir Frist, mich zu bedenken.

Nach sieben Tagen erneuerte er seinen verhassten Antrag, ich wies ihn mit Verachtung von mir, und er stürzte wütend aus dem Zimmer. Kurz nachher erbebte die Erde unter meinen Füßen, das Schloss schien in den Abgrund hinabzurollen. Ich sank auf meinen Sofa, und meine Sinnen schwanden dahin. Aus diesem Todesschlummer erweckte mich des Zauberers furchtbare Stimme: >Erwache<, sprach er, >liebe Schläferin, aus deinem siebenjährigen Schlummer, und sage mir an, ob die wohltätige Zeit den Hass gegen deinen getreuen Paladin gemildert hat. Erfreue mein Herz mit dem kleinsten Strahl von Hoffnung, und diese traurige Grotte soll sich in den Tempel der Freude verwandeln.< Ich würdigte den schändlichen Zauberer keiner Gegenrede noch eines Anblicks, verhüllte mit meinem Schleier mein Angesicht und weinte. Mein Trübsinn schien ihn zu rühren, er bat, er flehte, er jammerte laut und wand sich wie ein Wurm zu meinen Füßen. Endlich ermüdete seine Geduld, er sprang rasch auf und sprach: >Wohlan, es sei drum, in sieben Jahren sprechen wir uns wieder!< Drauf hob er die alabasterne Tafel aufs Postament, sogleich fiel ein unwiderstehlicher Schlaf auf meine Augenlider, bis der Grausame meine Ruhe von neuem unterbrach. >Unempfindliche<, redete er mich an, >wenn du noch gegen mich grausam bist, so sei es wenigstens nicht gegen deine drei Brüder. Mein untreuer Stallmeister hat ihnen dein Schicksal entdeckt, aber er ist bestraft, der Verräter. Sie sind gekommen diese Unglücklichen mit Heereskraft, dich aus meiner Hand zu reißen: aber diese Hand war ihnen zu schwer, und sie beseufzen ihre Unbesonnenheit unter mancherlei Gestalten in diesem Walde.< Eine so armselige Lüge, zu welcher der Unhold seine Zuflucht nahm, meine Standhaftigkeit zu überwinden, erbitterte mein Herz nur noch mehr gegen ihn. Hohn saß auf meinen Lippen und die bitterste Verachtung. >Unglückliche<, fuhr der tobende Heide auf, >dein Schicksal ist entschieden! Schlaf so lange als die unsichtbaren Mächte diesem Talisman gehorchen!< Flugs schob er die alabasterne Tafel zurecht und der magische Taumel raubte mir Leben und Empfindung. Ihr habt mich, edler Ritter, durch Zerstörung des Zaubers derselben aus diesem Totenschlafe erweckt. Aber ich begreif's nicht, durch welche Macht Ihr diese Tat habt ausrichten mögen, und was den Zauberer abhalten mag, Euch zu widerstehen. Zornebock muss nicht mehr am Leben sein, Ihr würdet sonst an seinem Talisman ungestraft Euch nicht haben vergreifen dürfen.«

Die reizvolle Hildegard urteilte ganz recht: der Unhold war mit seinen Sorben ins Böhmerland eingefallen, wo damals die Fürstin Libussa aus dem Feiengeschlecht regierte, und hatte an ihr, wie der mächtige Cyrus an der Skythen Königin Tomyris, seine Meisterin gefunden. Zornebock war gegen die berühmte Böhmer Königin in der Zauberkunst nur ein Lehrling, sie hatte ihn mit ihren Künsten überholt, dass er das Schlachtfeld räumen und den Streichen eines handfesten Ritters unterliegen musste, dem sie magische Waffen gab, welchen die Passauer Kunst nicht widerstand.

Als die schöne Hildegard schwieg, nahm Reinald das Wort und erzählte ihr seine Abenteuer. Wie er ihr Meldung tat von den drei verwünschten Prinzen im Walde, die seine Schwäher waren, nahm sie das groß Wunder, denn sie vermerkte nun, dass Zornebocks Novelle keine Lüge, sondern Wahrheit gewesen sei. Der Ritter war eben im Begriff, seine Geschichte zu enden, da erhob sich im Gebirge groß Triumphieren und Freudengeschrei, bald darauf brachen drei Geschwader Reuter aus dem Wald hervor, an deren Spitze Hildegard ihre Brüder und Reinald seine Schwestern erkannte. Der Zauber des Waldes war gelöst. Nach wechselseitigen Umarmungen und Freudenbezeugungen verließ die Karawane der Entzauberten die schauervolle Einöde und begab sich in das alte Waldschloss. Reutende Boten flogen nach der Residenz des Grafen, die frohe Botschaft von der Ankunft seiner Kinder zu verkünden. Der Hof befand sich eben in tiefer Trauer über den Verlust des jungen Grafen, den man als einen Toten beweinte; die Eltern glaubten, dass ihn der Zauberwald auf ewig verschlungen habe. Die trauernde Mutter hatte auf Erden keinen Trost mehr und fühlte kein Vergnügen als das, für ihre Kinder Totengepränge anzustellen. Eben war man im Begriff, Reinalds Exequien zu feiern; aber schneller konnte weiland der täuschende Nicolini seinen pantomimischen Schauplatz nicht wandeln, als in der Residenz des Grafen bei dieser frohen Botschaft alle Dinge eine andere Gestalt annahmen: alles atmete nun wieder Leben und Freude. In wenig Tagen empfand das ehrwürdige Elternpaar die Wonne, ihre Kinder und Enkel zu umarmen. Adelheid hatte seit dem Besuch ihres Bruders aus dem Ei ein liebevolles Fräulein gebrütet, das von der mütterlichen Brust seine kleinen Arme dem Großpapa lächelnd entgegenstreckte und ihm beim Empfang die silberfarbenen Locken zauste. Unter allen Feierlichkeiten dieser glücklichen Wiederkehr, zeichnete sich Reinalds Beilager mit der schönen Hildegard besonders aus. Ein ganzes Jahr verging unter mancherlei Abwechselungen von Freude und Ergötzlichkeiten.

Endlich bedachten die Prinzen, dass ein allzulanger Genuss des Vergnügens den männlichen Mut und die Tatkraft ihrer Ritter und Knappen erschlaffen möchte; auch war die Residenz des Grafen zu eng, so viel Hofhaltungen bequem zu fassen, die drei Eidame rüsteten sich also mit ihren Damen zum Abzug. Reinald der Stammerbe verließ seine grauen Eltern nimmer und drückte ihnen als ein frommer Sohn die Augen zu. Albert der Bär kaufte die Herrschaft Askanien und gründete die Stadt Bernburg, Edgar der Aar zog in der Helvetier Land unter den Schatten der hohen Alpen und baute Aarburg an einem Fluss ohne Namen, der aber von der Stadt, an welcher er hingleitet, nachher ist benennet worden; Ufo der Delphin tat einen Heereszug nach Burgund, bemächtigte sich eines Teils dieses Reichs und nannte die eroberte Provinz das Delphinat. Und wie die drei Prinzen bei den Namen ihrer Städte und Dynastien auf das Andenken ihrer Bezauberungen anspielten, so nahmen sie auch ihre Tiergestalten aus der Zauberepoche zum Symbol ihrer Wappen an, daher kommt es, dass Bernburg einen goldgekrönten Bär, Aarburg einen Adler und das Delphinat einen Meerfisch im Wappen führet bis auf diesen Tag. Die köstlichen Zahlperlen aber, welche an Galatagen den Olympus der sämtlichen Erdengöttinnen unsers Weltteils verherrlichen und schmücken, und für orientalische geachtet werden, sind die Ausbeute des Weihers im Zauberwald und befanden sich ehemals in den drei leinwandenen Säcken.

Johann Karl August Musäus: Volksmärchen der Deutschen. Nach dem Text der Erstausgabe von 1782-86. Mit den Illustrationen von Ludwig Richter, A. Schrödter, R. Jordan und G. Osterwald zur Ausgabe von 1842. Nachwort u. Anmerkungen von Norbert Miller. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1977. Text S. 17-72; Erläuterungen S. 831-834.

Die Zeichnungen zu den Illustrationen stammen von Adolf Schrödter, in Holz gestochen wurden sie von mehreren Reproduktionskünstlern, darunter namhaften Holzschneidern wie Eduard Kretzschmar, Friedrich Unzelmann und Albert Vogel (siehe Kap. 5).

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3. Brüder Grimm:
Die drei Schwestern

Es war einmal ein reicher König, der war so reich, dass er glaubte, sein Reichtum könne gar nicht all werden, da lebte er in Saus und Braus, spielte auf goldenem Brett und mit silbernen Kegeln, und als das eine Zeitlang gewährt hatte, da nahm sein Reichtum ab, und darnach verpfändete er eine Stadt und ein Schloss nach dem andern, und endlich blieb nichts mehr übrig als ein altes Waldschloss. Dahin zog er nun mit der Königin und den drei Prinzessinnen, und sie mussten sich kümmerlich erhalten und hatten nichts mehr als Kartoffeln, die kamen alle Tage auf den Tisch.

Einmal wollte der König auf die Jagd, ob er etwa einen Hasen schießen könnte, steckte sich also die Tasche voll Kartoffeln und ging aus. Es war aber in der Nähe ein großer Wald, in den wagte sich kein Mensch, weil fürchterliche Dinge erzählt wurden, was einem all darin begegne: Bären, die die Menschen auffraßen, Adler, die die Augen aushackten, Wölfe, Löwen und alle grausamen Tiere. Der König aber fürchtete sich kein bisschen und ging geradezu hinein. Anfangs sah er gar nichts, große mächtige Bäume standen da, aber es war alles still darunter; als er so eine Weile herumgegangen und hungrig geworden war, setzte er sich unter einen Baum und wollte seine Kartoffeln essen, da kam auf einmal aus dem Dickicht ein Bär hervor, trabte gerade auf ihn los und brummte: »Was unterstehst du dich, bei meinem Honigbaum zu sitzen? Das sollst du mir teuer bezahlen!« Der König erschrak, reichte dem Bären seine Kartoffeln und wollte ihn damit besänftigen. Der Bär aber fing an zu sprechen und sagte: »Deine Kartoffeln mag ich nicht, ich will dich selber fressen, und davon kannst du dich nicht anders erretten, als dass du mir deine älteste Tochter gibst, wenn du das aber tust, gebe ich dir noch obendrein einen Zentner Gold.« Der König, in der Angst, gefressen zu werden, sagte: »Die sollst du haben, lass mich nur in Frieden.« Da wies ihm der Bär den Weg und brummte noch hintendrein: »In sieben Tagen komm ich und hol meine Braut.«

Der König aber ging getrost nach Haus und dachte, der Bär wird doch nicht durch ein Schlüsselloch kriechen können, und weiter soll gewiss nichts offen bleiben. Da ließ er alle Tore verschließen, die Zugbrücken aufziehen und hieß seine Tochter gutes Muts sein; damit sie aber recht sicher vor dem Bärenbräutigam war, gab er ihr ein Kämmerlein hoch unter der Zinne, darin sollte sie versteckt bleiben, bis die sieben Tage herum waren.

Am siebenten Morgen aber ganz früh, wie noch alles schlief, kam ein prächtiger Wagen, mit sechs Pferden bespannt und von vielen goldgekleideten Reutern umringt, nach dem Schloss gefahren, und wie er davor war, ließen sich die Zugbrücken von selber herab, und die Schlösser sprangen ohne Schlüssel auf. Da fuhr der Wagen in den Hof, und ein junger schöner Prinz stieg heraus, und wie der König von dem Lärm aufwachte und zum Fenster hinaussah, sah er, wie der Prinz schon seine älteste Tochter oben aus dem verschlossenen Kämmerlein geholt und eben in den Wagen hob, und er konnte ihr nur noch nachrufen:

»Ade! du Fraulein traut,
fahr hin, du Bärenbraut!«


Sie winkte ihm mit ihrem weißen Tüchlein noch aus dem Wagen, und dann ging's fort, als wär der Wind vorgespannt, immer in den Zauberwald hinein. Dem König aber war's recht schwer ums Herz, dass er seine Tochter an einen Bären hingegeben hätte, und weinte drei Tage mit der Königin, so traurig war er. Am vierten Tag aber, als er sich ausgeweint hatte, dachte er, was geschehen, ist einmal nicht zu ändern, stieg hinab in den Hof, da stand eine Kiste von Ebenholz und war gewaltig schwer zu heben, alsbald fiel ihm ein, was ihm der Bär versprochen hatte, und machte sie auf, da lag ein Zentner Goldes darin und glimmerte und flimmerte.

Wie der König das Gold erblickte, ward er getröstet und löste seine Städte und sein Reich ein und fing das vorige Wohlleben von vorne an. Das dauerte so lang, als der Zentner Gold dauerte, darnach musste er wieder alles verpfänden und auf das Waldschloss zurückziehen und Kartoffeln essen.

Der König hatte noch einen Falken, den nahm er eines Tags mit hinaus auf das Feld und wollte mit ihm jagen, damit er etwas Besseres zu essen hätte. Der Falke stieg auf und flog nach dem dunkeln Zauberwald zu, in den sich der König nicht mehr getraute, kaum aber war er dort, so schoss ein Adler hervor und verfolgte den Falken, der zum König floh. Der König wollte mit seinem Spies den Adler abhalten, der Adler aber packte den Spies und zerbrach ihn wie ein Schilfrohr, dann zerdrückte er den Falken mit einer Kralle, die andern aber hackte er dem König in die Schulter und rief: »Warum störst du mein Luftreich, dafür sollst du sterben, oder du gibst mir deine zweite Tochter zur Frau!« Der König sagte: »Ja, die sollst du haben, aber was gibst du mir dafür?« »Zwei Zentner Gold«, sprach der Adler, »und in sieben Wochen komm ich und hol sie ab«; dann ließ er ihn los und flog fort in den Wald.

Der König war betrübt, dass er seine zweite Tochter auch einem wilden Tiere verkauft hatte, und getraute sich nicht, ihr etwas davon zu sagen. Sechs Wochen waren herum, in der siebenten ging die Prinzessin hinaus auf einen Rasenplatz vor der Burg und wollte ihre Leinwand begießen, da kam auf einmal ein prächtiger Zug von schönen Rittern, und zuvorderst ritt der Allerschönste, der sprang ab und rief:

»Schwing, schwing dich auf, du Fräulein traut,
komm mit, du schöne Adlerbraut!«


Und eh sie ihm antworten konnte, hatte er sie schon aufs Ross gehoben und jagte mit ihr in den Wald hinein, als flög ein Vogel: Ade! Ade!!

In der Burg warteten sie lang auf die Prinzessin, aber die kam nicht und kam nicht, da entdeckte der König endlich, dass er einmal in der Not sie einem Adler versprochen, und der werde sie geholt haben. Als aber bei dem König die Traurigkeit ein wenig herum war, fiel ihm das Versprechen des Adlers ein und er ging hinab und fand auf dem Rasen zwei goldne Eier, jedes einen Zentner schwer. Wer Gold hat, ist fromm genug, dachte er und schlug sich alle schwere Gedanken aus dem Sinn! Da fing das lustige Leben von neuem an und währte so lang, bis die zwei Zentner Gold auch durchgebracht waren, dann kehrte der König wieder ins Waldschloss zurück, und die Prinzessin, die noch übrig war, musste die Kartoffeln sieden.

Der König wollte keine Hasen im Wald und keine Vögel in der Luft mehr jagen, aber einen Fisch hätte er gern gegessen. Da musste die Prinzessin ein Netz stricken, damit ging er zu einem Teich, der nicht weit von dem Wald lag. Weil ein Nachen darauf war, setzte er sich ein und warf das Netz, da fing er auf einen Zug eine Menge schöner rotgefleckter Forellen. Wie er aber damit ans Land wollte, stand der Nachen fest, und er konnte ihn nicht loskriegen, er mochte sich stellen, wie er wollte. Da kam auf einmal ein gewaltiger Walfisch dahergeschnaubt: »Was fängst du mir meine Untertanen weg, das soll dir dein Leben kosten!« Dabei sperrte er seinen Rachen auf, als wollte er den König samt dem Nachen verschlingen. Wie der König den entsetzlichen Rachen sah, verlor er allen Mut, da fiel ihm seine dritte Tochter ein, und er rief: »Schenk mir das Leben, und du sollst meine jüngste Tochter haben.« »Meinetwegen«, brummte der Walfisch, »ich will dir auch etwas dafür geben; Gold hab ich nicht, das ist mir zu schlecht, aber der Grund meines Sees ist mit Zahlperlen gepflastert, davon will ich dir drei Säcke voll geben: im siebenten Mond komm ich und hol meine Braut.« Dann tauchte er unter.

Der König trieb nun ans Land und brachte seine Forellen heim, aber als sie gebacken waren, wollt er keine davon essen, und wenn er seine Tochter ansah, die einzige, die ihm noch übrig war, und die schönste und liebste von allen, war's ihm, als zerschnitten tausend Messer sein Herz. So gingen sechs Monat herum, die Königin und die Prinzessin wussten nicht, was dem König fehle, der in all der Zeit keine vergnügte Miene machte.

Im siebenten Mond stand die Prinzessin gerade im Hof vor einem Rohrbrunnen und ließ ein Glas volllaufen, da kam ein Wagen mit sechs weißen Pferden und ganz silbernen Leuten angefahren, und aus dem Wagen stieg ein Prinz, so schön, dass sie ihr Lebtag keinen schöneren gesehen hatte, und bat sie um ein Glas Wasser. Und wie sie ihm das reichte, das sie in der Hand hielt, umfasste er sie und hob sie in den Wagen, und dann ging's wieder zum Tor hinaus, über das Feld nach dem Teich zu.

»Ade, du Fräulein traut,
fahr hin, du schöne Walfischbraut!«


Die Königin stand am Fenster und sah den Wagen noch in der Ferne, und als sie ihre Tochter nicht sah, fiel's ihr schwer aufs Herz, und sie rief und suchte nach ihr allenthalben; sie war aber nirgends zu hören und zu sehen. Da war es gewiss, und sie fing an zu weinen, und der König entdeckte ihr nun: ein Walfisch werde sie geholt haben, dem hab er sie versprechen müssen, und darum wäre er immer so traurig gewesen; er wollte sie auch trösten und sagte ihr von dem großen Reichtum, den sie dafür bekommen würden; die Königin wollt aber nichts davon wissen und sprach, ihr einziges Kind sei ihr lieber gewesen als alle Schätze der Welt. Während der Walfischprinz die Prinzessin geraubt, hatten seine Diener drei mächtige Säcke in das Schloss getragen, die fand der König an der Tür stehen, und als er sie aufmachte, waren sie voll schöner großer Zahlperlen, so groß wie die dicksten Erbsen. Da war er auf einmal wieder reich und reicher, als er je gewesen; er löste seine Städte und Schlösser ein, aber das Wohlleben fing er nicht wieder an, sondern war still und sparsam, und wenn er daran dachte, wie es seinen drei lieben Töchtern bei den wilden Tieren ergehen mochte, die sie vielleicht schon aufgefressen hatten, verging ihm alle Lust.

Die Königin aber wollt sich gar nicht trösten lassen und weinte mehr Tränen um ihre Tochter, als der Walfisch Perlen dafür gegeben hatte. Endlich ward's ein wenig stiller, und nach einiger Zeit ward sie wieder ganz vergnügt, denn sie brachte einen schönen Knaben zur Welt, und weil Gott das Kind so unerwartet geschenkt hatte, ward es Reinald das Wunderkind genannt. Der Knabe ward groß und stark, und die Königin erzählte ihm oft von seinen drei Schwestern, die in dem Zauberwald von drei Tieren gefangen gehalten wurden. Als er sechzehn Jahr alt war, verlangte er von dem König Rüstung und Schwert, und als er es nun erhalten, wollte er auf Abenteuer ausgehen, gesegnete seine Eltern und zog fort.

Er zog aber geradezu nach dem Zauberwald und hatte nichts anders im Sinn, als seine Schwestern zu suchen. Anfangs irrte er lange in dem großen Walde herum, ohne einem Menschen oder einem Tiere zu begegnen. Nach drei Tagen aber sah er vor einer Höhle eine junge Frau sitzen und mit einem jungen Bären spielen; einen andern, ganz jungen, hatte sie auf ihrem Schoß liegen. Reinald dachte, das ist gewiss meine älteste Schwester, ließ sein Pferd zurück und ging auf sie zu: »Liebste Schwester, ich bin dein Bruder Reinald und bin gekommen, dich zu besuchen.« Die Prinzessin sah ihn an, und da er ganz ihrem Vater glich, zweifelte sie nicht an seinen Worten, erschrak und sprach: »Ach liebster Bruder, eil und lauf fort, was du kannst, wenn dir dein Leben lieb ist; kommt mein Mann, der Bär, nach Haus und findet dich, so frisst er dich ohne Barmherzigkeit.« Reinald aber sprach: »Ich fürchte mich nicht und weiche auch nicht von dir, bis ich weiß, wie es um dich steht.« Wie die Prinzessin sah, dass er nicht zu bewegen war, führte sie ihn in ihre Höhle, die war finster und wie eine Bärenwohnung; auf der einen Seite lag ein Haufen Laub und Heu, worauf der Alte und seine Jungen schliefen, aber auf der andern Seite stand ein prächtiges Bett von rotem Zeug mit Gold, das gehörte der Prinzessin. Unter das Bett hieß sie ihn kriechen und reichte ihm etwas hinunter zu essen. Es dauerte nicht lang, so kam der Bär nach Haus: »Ich wittre, wittre Menschenfleisch«, und wollte seinen dicken Kopf unter das Bett stecken. Die Prinzessin aber rief: »Sei ruhig, wer soll hier hineinkommen!« »Ich hab ein Pferd im Wald gefunden und gefressen«, brummte er und hatte noch eine blutige Schnauze davon, »dazu gehört ein Mensch, und den riech ich«, und wollte wieder unter das Bett. Da gab sie ihm einen Fußtritt in den Leib, dass er einen Burzelbaum machte, auf sein Lager ging, die Tatze ins Maul nahm und einschlief.

Alle sieben Tage war der Bär in seiner natürlichen Gestalt und ein schöner Prinz und seine Höhle ein prächtiges Schloss, und die Tiere im Wald waren seine Diener. An einem solchen Tage hatte er die Prinzessin abgeholt; schöne junge Frauen kamen ihr vor dem Schloss entgegen, es war ein herrliches Fest, und sie schlief in Freuden ein; aber als sie erwachte, lag sie in einer dunkeln Bärenhöhle, und ihr Gemahl war ein Bär geworden und brummte zu ihren Füßen, nur das Bett und alles, was sie angerührt hatte, blieb in seinem natürlichen Zustand unverwandelt. So lebte sie sechs Tage in Leid, aber am siebenten ward sie getröstet, und da sie nicht alt ward und nur der eine Tag ihr zugerechnet wurde, so war sie zufrieden mit ihrem Leben. Sie hatte ihrem Gemahl zwei Prinzen geboren, die waren auch sechs Tage lang Bären und am siebenten in menschlicher Gestalt. Sie steckte sich jedesmal ihr Bettstroh voll von den köstlichsten Speisen, Kuchen und Früchten, davon lebte sie die ganze Woche, und der Bär war ihr auch gehorsam und tat, was sie wollte.

Als Reinald erwachte, lag er in einem seidenen Bett, Diener kamen, ihm aufzuwarten und ihm die reichsten Kleider anzutun, denn es war gerade der siebente Tag eingefallen. Seine Schwester mit zwei schönen Prinzen und sein Schwager Bär traten ein und freuten sich seiner Ankunft. Da war alles in Pracht und Herrlichkeit und der ganze Tag voll Lust und Freude; am Abend aber sagte die Prinzessin: »Lieber Bruder, nun mach, dass du fortkommst, mit Tagesanbruch nimmt mein Gemahl wieder Bärengestalt an, und findet er dich morgen noch hier, kann er seiner Natur nicht widerstehen und frisst dich auf.« Da kam der Prinz Bär und gab ihm drei Bärenhaare und sagte: »Wenn du in Not bist, so reib daran, und ich will dir zu Hülfe kommen.« Darauf küssten sie sich und nahmen Abschied, und Reinald stieg in einen Wagen, mit sechs Rappen bespannt, und fuhr fort.

So ging's über Stock und Stein, bergauf, bergab, durch Wüsten und Wälder, Horst und Hecke, ohne Ruh und Rast, bis gegen Morgen, als der Himmel anfing grau zu werden, da lag Reinald auf einmal auf der Erde, und Ross und Wagen war verschwunden, und beim Morgenrot erblickte er sechs Ameisen, die galoppierten dahin und zogen eine Nussschale.

Reinald sah, dass er noch in dem Zauberwald war und wollte seine zweite Schwester suchen. Wieder drei Tage irrte er umsonst in der Einsamkeit, am vierten aber hörte er einen großen Adler daherrauschen, der sich auf ein Nest niederließ Reinald stellte sich ins Gebüsch und wartete, bis er wieder wegflog; nach sieben Stunden hob er sich auch wieder in die Höhe. Da kam Reinald hervor, trat vor den Baum und rief: »Liebste Schwester, bist du droben, so lass mich deine Stimme hören, ich bin Reinald, dein Bruder, und bin gekommen, dich zu besuchen!« Da hörte er es herunterrufen: »Bist du Reinald, mein liebster Bruder, den ich noch nicht gesehen habe, so komm herauf zu mir.« Reinald wollte hinaufklettern, aber der Stamm war zu dick und glatt, dreimal versuchte er's, aber umsonst, da fiel eine seidene Strickleiter hinab, auf der stieg er bald zu dem Adlernest, das war stark und fest wie eine Altane auf einer Linde. Seine Schwester saß unter einem Thronhimmel von rosenfarbener Seide, und auf ihrem Schoß lag ein Adlerei, das hielt sie warm und wollt es ausbrüten. Sie küssten sich und freuten sich, aber nach einer Weile sprach die Prinzessin: »Nun eil, liebster Bruder, dass du fortkommst, sieht dich der Adler, mein Gemahl, so hackt er dir die Augen aus und frisst dir das Herz ab, wie er dreien deiner Diener getan, die dich im Walde. suchten.« Reinald sagte: »Nein, ich bleibe hier, bis dein Gemahl verwandelt wird.« »Das geschieht erst in sechs Wochen, doch wenn du es aushalten kannst, steck dich in den Baum, der inwendig hohl ist, ich will dir alle Tage Essen hinunterreichen.« Reinald kroch in den Baum, die Prinzessin ließ ihm alle Tage Essen hinunter, und wenn der Adler wegflog, kam er herauf zu ihr.

Nach sechs Wochen geschah die Umwandlung, da erwachte Reinald wieder in einem Bett wie bei seinem Schwager Bär, nur dass alles noch prächtiger war, und er lebte sieben Tage bei dem Adlerprinz in aller Freude. Am siebenten Abend nahmen sie Abschied, der Adler gab ihm drei Adlerfedern und sprach: »Wenn du in Not bist, so reib daran, und ich will dir zu Hülfe kommen.« Dann gab er ihm Diener mit, ihm den Weg zu zeigen, als aber der Morgen kam, waren sie auf einmal fort und Reinald in einer furchtbaren Wildnis auf einer hohen Felsenwand allein.

Reinald blickte um sich her, da sah er in der Ferne den Spiegel einer großen See, auf dem eben die ersten Sonnenstrahlen glänzten. Er dachte an seine dritte Schwester, und dass sie dort sein werde. Da fing er an hinabzusteigen und arbeitete sich durch die Büsche und zwischen den Felsen durch; drei Tage verbrachte er damit und verlor oft den See aus den Augen, aber am vierten Morgen gelangte er hin. Er stellte sich an das Ufer und rief: »Liebste Schwester, bist du darin, so lass mich deine Stimme hören, ich bin Reinald, dein Bruder, und bin gekommen, dich zu besuchen«; aber es antwortete niemand, und war alles ganz still. Er bröselte Brotkrumen ins Wasser und sprach zu den Fischen: »Ihr lieben Fische, geht hin zu meiner Schwester und sagt ihr, dass Reinald das Wunderkind da ist und zu ihr will.« Aber die rotgefleckten Forellen schnappten das Brot auf und hörten nicht auf seine Worte. Da sah er einen Nachen, alsbald warf er seine Rüstung ab und behielt nur sein blankes Schwert in der Hand, sprang in das Schiff und ruderte fort. So war er lang geschwommen, als er einen Schornstein von Bergkristall über dem Wasser ragen sah, aus dem ein angenehmer Geruch hervorstieg. Reinald ruderte darauf hin und dachte, da unten wohnt gewiss meine Schwester, dann setzte er sich in den Schornstein und rutschte hinab.

Die Prinzessin erschrak recht, als sie auf einmal ein Paar Menschenbeine im Schornstein zappeln sah, bald kam ein ganzer Mann herunter und gab sich als ihren Bruder zu erkennen. Da freute sie sich von Herzen, dann aber ward sie betrübt und sagte: »Der Walfisch hat gehört, dass du mich aufsuchen willst, und hat geklagt, wenn du kämst und er sei Walfisch, könne er seiner Begierde, dich zu fressen, nicht widerstehen und würde mein kristallenes Haus zerbrechen, und dann würde ich auch in den Wasserfluten umkommen.« »Kannst du mich nicht so lang verbergen, bis die Zeit kommt, wo der Zauber vorbei ist?« »Ach nein, wie sollte das gehen, siehst du nicht, die Wände sind alle von Kristall und ganz durchsichtig«, doch sann sie und sann, endlich fiel ihr die Holzkammer ein, da legte sie das Holz so künstlich, dass von außen nichts zu sehen war, und dahinein versteckte sie das Wunderkind.

Bald darauf kam der Walfisch, und die Prinzessin zitterte wie Espenlaub; er schwamm ein paarmal um das Kristallhaus, und als er ein Stückchen von Reinalds Kleid aus dem Holz hervorgucken sah, schlug er mit dem Schwanz, schnaubte gewaltig, und wenn er mehr gesehen, hätte er gewiss das Haus eingeschlagen. Jeden Tag kam er einmal und schwamm darum, bis endlich im siebenten Monat der Zauber aufhörte. Da befand sich Reinald in einem Schloss, das an Pracht gar des Adlers seines übertraf und mitten auf einer schönen Insel stand; nun lebte er einen ganzen Monat mit seiner Schwester und Schwager in aller Lust, als der aber zu Ende war, gab ihm der Walfisch drei Schuppen und sprach: »Wenn du in Not bist, so reib daran, und ich will dir zu Hilfe kommen«, und ließ ihn wieder ans Ufer fahren, wo er noch seine Rüstung fand.

Das Wunderkind zog darauf sieben Tage in der Wildnis weiter, und sieben Nächte schlief es unter freiem Himmel, da erblickte es ein Schloss mit einem Stahltor und einem mächtigen Schloss daran. Vorn aber ging ein schwarzer Stier mit funkelnden Augen und bewachte den Eingang. Reinald ging auf ihn los und gab ihm auf den Hals einen gewaltigen Streich, aber der Hals war von Stahl und das Schwert zerbrach darauf, als wäre es Glas. Er wollte seine Lanze brauchen, aber die zerknickte wie ein Strohhalm, und der Stier fasste ihn mit den Hörnern und warf ihn in die Luft, dass er auf den Ästen eines Baums hängenblieb. Da besann sich Reinald in der Not auf die drei Bärenhaare, rieb sie in der Hand, und in dem Augenblick kam ein Bär dahergetrabt, kämpfte mit dem Stier und zerriss ihn. Aber aus dem Bauch des Stiers flog ein Entvogel in die Höhe und eilig weiter; da rieb Reinald die drei Adlerfedern, alsbald kam ein mächtiger Adler durch die Luft und verfolgte den Vogel, der gerade nach einem Weiher floh, schoss auf ihn herab und zerfleischte ihn; aber Reinald hatte gesehen, wie er noch ein goldnes Ei hatte ins Wasser fallen lassen. Da rieb er die drei Fischschuppen in der Hand, gleich kam ein Walfisch geschwommen, verschluckte das Ei und spie es ans Land. Reinald nahm es und schlug es mit einem Stein auf, da lag ein kleiner Schlüssel darin, und das war der Schlüssel, der die Stahltür öffnete.

Und wie er sie nur damit berührte, sprang sie von selber auf, und er trat ein, und vor den andern Türen schoben sich die Riegel von selber zurück, und durch ihrer sieben trat er in sieben prächtige hellerleuchtete Kammern, und in der letzten Kammer lag eine Jungfrau auf einem Bett und schlief. Die Jungfrau war aber so schön, dass er ganz geblendet davon ward, er wollte sie aufwecken, das war aber vergebens, sie schlief so fest, als wäre sie tot. Da schlug er vor Zorn auf eine schwarze Tafel, die neben dem Bett stand; in dem Augenblick erwachte die Jungfrau, fiel aber gleich wieder in den Schlaf zurück, da nahm er die Tafel und warf sie auf den steinernen Boden, dass sie in tausend Stücken zersprang. Kaum war das geschehen, so schlug die Jungfrau die Augen hell auf, und der Zauber war gelöst. Sie war aber die Schwester von den drei Schwägern Reinalds, und weil sie einem gottlosen Zauberer ihre Liebe versagt, hatte er sie in den Todesschlaf gesenkt und ihre Brüder in Tiere verwandelt, und das sollte so lang währen, als die schwarze Tafel unversehrt blieb.

Reinald führte die Jungfrau heraus, und wie er vor das Tor kam, da ritten von drei Seiten seine Schwäger heran und waren nun erlöst, und mit ihnen ihre Frauen und Kinder, und die Adlerbraut hatte das Ei ausgebrütet und ein schönes Fräulein auf dem Arm; da zogen sie alle zu dem alten König und der alten Königin, und das Wunderkind brachte seine drei Schwestern mit nach Haus, und bald vermählte es sich mit der schönen Jungfrau; da war Freude und Lust in allen Ecken; und die Katz läuft nach Haus, mein Märchen ist aus.

Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Hrsg. von Heinz Rölleke. 3 Bde. (Universal-Bibliothek; 3191-3193) Stuttgart: Reclam 1980. Hier Bd. 2, S. 480-492. Redigiert, Absätze eingefügt. – Das Märchen erschien als No. 82 nur in der Erstauflage von 1812. An Achim von Arnim schreibt Jacob Grimm am 7. Januar 1813: "das schlechteste Märchen der ganzen Sammlung halte ich No. 82 von den drei Schwestern, das blos aus Musäus ausgezogen ist, und wiewohl ächt und unerfunden fehlt ihm durchweg das Frische der mündlichen Erzählung." (Bd. 3, S. 533f.)

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4. Kurzbiographie von Musäus

Johann Karl August Musäus. Kupferstich von Joh. H. Lips. In: Goethe. Eine Biographie in Bildnissen. Sonderdruck aus der zweiten Auflage von Könneckes Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Marburg: Elwert 1900, S.15. Vgl. Joachim Kruse: Johann Heinrich Lips 1758-1817. Ein Zürcher Kupferstecher zwischen Lavater und Goethe (Kataloge der Kunstsammlungen der Veste Coburg). Coburg 1989, Nr. 112.

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Johann Carl August Musäus. Dieser Lieblings-Schriftsteller der Deutschen in der schönen Literatur wurde im Jahr 1735 zu Jena geboren, wo sein Vater Landrichter war. In seinem neunten Jahre nahm ihn sein Vetter, der Superintendent Weissenborn zu Altstädt, zu sich; und als dieser nach einem Jahre General-Superintendent zu Eisenach ward, so zog der junge Musäus auch mit dahin, und blieb in dem Hause seines Wohltäters, von welchem er eine anständige Erziehung erhielt, bis in sein 19 Jahr. Jetzt ging Musäus nach Jena und studierte daselbst Theologie. Er kehrte nach vierthalb Jahren zu seinen Eltern zurück, lebte darauf einige Jahre als Kandidat des Predigtamts zu Eisenach, und predigte oft mit Beifall daselbst. Er sollte darauf Pfarrer zu Pfarrode bei Eisenach werden; allein die Bauern nahmen ihn nicht an, weil er einmahl getanzt hatte. Im Jahr 1763 kam er als Pagenhofmeister nach Weimar, und nach 7 Jahren als Professor ans Gymnasium. Nun heiratete er, und bekam 2 Söhne. Sein Tod erfolgte im Oktober 1787, und rührte von einer höchst seltenen Krankheit, von einem Polypen am Herzen, her.

Seine physiognomischen Reisen, Volksmährchen und Straußfedern gehören unter unsre originellsten, launigsten und unterhaltendsten Schriften; Neuheit, Leichtigkeit und edle Gesinnungen herrschen darin in seltener Harmonie.

Seine beschränkte Lage und die Dürftigkeit, in welcher er sein ganzes Leben zubrachte, raubten ihm bei seinem ohnedies furchtsamen Charakter das vernünftige Selbstvertrauen: er war der Letzte, der sich von dem inneren Werte seiner Schriften überzeugte; und nur sein kärgliches Auskommen bewog ihn, als Schriftsteller aufzutreten. Als Mensch war Musäus heiter und aufgeweckt, und trotzte allen Beschwerden des Körpers und seiner drückenden Lage. Nach seinem Tode gab Herr Bertuch seine moralische Kinderklapper (eine vortreffliche Sammlung von Kindererzählungen), und Herr von Kotzebue seine nachgelassenen Schriften mit einer Nachricht von seinem Leben heraus.


Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch. 1. Auflage 1809-1811. Neusatz und Faksimile (Digitale Bibliothek; 131) Berlin: Directmedia 2005, S. 3265 f. Redigiert.

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Musäus, Johann Karl August, Schriftsteller, geboren 29. März 1735 in Jena, gestorben 28. Oktober 1787 in Weimar, studierte seit 1754 in Jena Theologie, wurde 1763 Pagenhofmeister am weimarischen Hof, 1770 Professor am dortigen Gymnasium.

Seine erste literarische Veröffentlichung war: »Grandison der Zweite« (1760-62, 2 Bde.; später umgearbeitet: »Der deutsche Grandison«, 1781-82, 2 Bde.), womit er dem schwärmerisch-sentimentalen Enthusiasmus für den gleichnamigen Roman des Engländers Richardson satirisch entgegenwirken wollte. Dann folgten die gegen Lavater gerichtete Satire »Physiognomische Reisen« (1778-79, 4 Hefte) und die »Volksmärchen der Deutschen« (1782-86, 5 Bde., u. ö.), welche die aus dem Volksmund genommenen Märchen- und Sagenstoffe keineswegs in naiv volksmäßiger Gestalt wiedergeben, sie vielmehr in Wielands Manier mit allerlei satirischen Streif- und Schlaglichtern ausstatten, aber dennoch durch joviale Laune, liebenswürdige Schalkhaftigkeit und lebendige Anmut des Vortrags, die aus ihnen spricht, einen eigentümlichen Reiz besitzen. Unter Musäus übrigen Schriften sind hervorzuheben: »Freund Heins Erscheinungen in Holbeins Manier« (1785), Darstellungen mehr betrachtender als erzählender Manier, und die Sammlung von Erzählungen: »Straußfedern« (1787, Bd. 1). Seine »Nachgelassenen Schriften« wurden mit Charakteristik herausgegeben von seinem Verwandten und Zögling August von Kotzebue (1791).


Meyers Großes Konversations-Lexikon. Sechste Auflage 1905-1909 (Digitale Bibliothek; 100) Berlin: Directmedia 2003, S. 134.886 f. Gekürzt, redigiert.

Zum Märchenstoff und seinen Ausformungen vgl. den Artikel "Die drei Schwestern" in: Walter Scherf, Märchenlexikon (Digitale Bibliothek; 90) Berlin: Directmedia 2004, S.573-578.

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Johann Karl August Musäus. Gipsbüste von Gottlieb Martin Klauer, um 1784. Goethe-Nationalmuseum, Weimar. In: Paul Ortwin Rave: Das geistige Deutschland im Bildnis. Das Jahrhundert Goethes. Berlin: Verlag des Druckhauses Tempelhof 1949, S.89.

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5. Kurzbiographie von Adolf Schrödter
und biographische Daten der reproduzierenden Künstler

Die Illustrationen und Initialen der "Chronika der drei Schwestern" von Musäus weisen folgende Monogramme und Signaturen des Zeichners und der Holzschneider bzw. Holzstecher auf:

Erstes Buch
- Verschwenderisches Hofleben: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. Unzelmann.
- Initiale E; Graf mit Hund auf der Jagd: E K [E. Kretzschmar].
- Der Graf bietet dem Bären seine Kartoffeln im Jagdhute an: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. E. Kretzschmar.
- Turm mit Graf und Wulfild, die Kartoffeln schält: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. Lanson oder Lawson [?].
- Der Graf mit der Kiste voll Gold: Peupin.
- Den Adler lüstet nach Menschenfleisch: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. E. Kretzschmar.
- Adelheid, am Brunnen hinter einem Rosenstrauch, wird vom fremden Ritter angesprochen: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. Unzelmann.
- Der Graf mit den zwei goldenen Eiern: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. L M [?].
- Ritterturnier: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. Holzstecher unleserlich.
- Der Walfisch droht das Schiff zu verschlingen: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter] 1842. Peupin.
- Bertha kredenzt dem Ritter Wasser in einer Schale: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. Sears sc[ulpsit].
- Schlussvignette: keine Angaben.

Zweites Buch:
- Initiale A; Gräfin mit Hofdame als Pilgerinnen auf dem Weg zum Eremiten: keine Angaben.
- Reinalds Ausritt: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter] 1842. Sears Leipzig.
- Reinald findet Wulfild, die vor einer Höhle sitzt und mit zwei kleinen Bären spielt: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. E. Kretzschmar.
- Der Bär wittert Menschenfleisch: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. Sears sc[ulpsit].
- Freundschaft und Bruderliebe: Sears sc[ulpsit].
- Wulfild sammelt Eicheln: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter].
- Reinald findet Adelheid in einem Baumgipfel unter einem Thronhimmel, mit einem Ei auf ihrem Schoß: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. A L Lanson [?].
- Reinald schlüpft durch den Rauchfang in das Schlafgemach Berthas: Sears sc[ulpsit].
- Schlussvignette: keine Angaben.

Drittes Buch:
- Initiale W; Reinald vor der Zauberpforte: Sears.
- Reinald führt einen Schwertstreich nach dem Hals des Stiers: Nicholls.
- Schlüssel: keine Angaben.
- Reinald sinkt vor Hildegard auf die Knie: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. A. Vogel.
- Zornebock: Sears sc[ulpsit].
- Hildegard weist Zornebock zurück: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter]. Sears sc[ulpsit].
- Hochzeit von Reinald und Hildegard: Monogramm Korkenzieher [Adolf Schrödter].
- Schlussvignette: Sears sc[ulpsit].

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Kurzbiographie von Adolf Schrödter

Schrödter, Adolf, Maler, geboren 28. Juni 1805 in Schwedt, gestorben 9. Dezember 1875 in Karlsruhe, erlernte seit 1820 in Berlin bei [Ludwig] Buchhorn die Kupferstecherkunst, widmete sich aber dann der Malerei unter W. v. Schadow und folgte diesem 1829 nach Düsseldorf, wo er bis 1848 blieb. Darauf lebte er in Frankfurt a. M., kehrte aber 1854 nach Düsseldorf zurück. 1859 folgte er einem Ruf als Professor an das Polytechnikum in Karlsruhe, an dem er bis 1872 lehrte.

Schrödter hat sich als Maler, Illustrator humoristischer Dichtungen, Kupferstecher, Radierer, Holzschnittzeichner und Lithograph, als politischer Satiriker und Schriftsteller, als Botaniker, Blumist und Schöpfer der reizvollsten Ornamente und Arabesken bewährt. Immer geistvoll, sinnreich und von einer unversiegbaren Erfindungsgabe, gehörte er zu den glücklichsten Vertretern eines gesunden Humors.

Seine Auffassung des Don Quichotte ist typisch geworden. Zum Monogramm hatte Schrödter den Pfropfenzieher erwählt, den er in einem originellen Blatte: der Traum von der Flasche, allegorisch verherrlichte (s. Abbildung). Seine Werke sind in mannigfachen Vervielfältigungen in die weitesten Kreise gedrungen.

Hervorzuheben sind: der sterbende Abt (1831); die Weinprobe (1832); die trauernden Lohgerber (1832), worin er die sentimentale Richtung der Düsseldorfer Schule persiflierte; Wirtshausleben am Rhein (1833); eine Reihe von Gemälden und Radierungen nach Szenen aus »Don Quichotte« (unter anderm Don Quichotte lesend, 1834), denen sich mehrere Darstellungen des Falstaff ebenbürtig anreihen; ferner Episoden aus »Münchhausen«, »Till Eulenspiegel«, »Viel Lärm um nichts«; dann Faust in Auerbachs Keller (1848), der Rattenfänger von Hameln (1851), zwei Mönche im Klosterkeller (1863), Hans Sachs (1866). Schrödter glänzte auch in friesartigen Kompositionen, wie: rheinische Bauernkirchweih (auf vergoldetes Zinkblech gemalt, 22 m lang, 65 cm hoch, 1847), der Triumphzug des Königs Wein (1850-55), Maiwein, Rheinwein, Champagner, Punsch - Aquarelle, später lithographiert und radiert, die vier Jahreszeiten (1854) u.a. Auch zeichnete er Illustrationen zu [Chamissos] »Peter Schlemihl«, Musäus' »Volksmärchen«, Uhlands Werken etc. und zu Detmolds »Leben und Taten des Abgeordneten Piepmeier« (1848). Er schrieb: »Das Zeichnen als ästhetisches Bildungsmittel« (1853) und gab eine »Schule der Aquarellmalerei« (1871) heraus.


Meyers Großes Konversations-Lexikon. Sechste Auflage 1905-1909 (Digitale Bibliothek; 100) Berlin: Directmedia 2003, S. 177.790-177.792. Redigiert, gekürzt.

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Biographische Daten
der reproduzierenden Künstler

Kretzschmar, Eduard, Holzschneider, geboren 21. März 1807 in Oschatz (Sachsen) und gestorben 7. Juli 1858 in Leipzig. Bildete sich als Konditorlehrling autodidaktisch im Holzschneiden. Trat bei F. A. Brockhaus in Leipzig ein und überwachte den Druck der Holzschnitte des "Bilder-Konversations-Lexikons für das deutsche Volk" (Leipzig 1837/41). Auf den Rat und unter Vermittlung von Brockhaus ging er 1836 an die Berliner Akademie zu Fr. L. Unzelmann. Nach seiner Rückkehr nach Leipzig 1840 war er zunächst an der Vollendung des Bilderkonversationslexikons mittätig und wurde zur Illustrierung verschiedener großer Holzschnittunternehmungen herangezogen, so zu E. Dullers Geschichte des deutschen Volkes, Leipzig 1839 ff., zu G. O. Marbachs Übersetzung des Nibelungenliedes (Holzschnitte nach Zeichnungen von E. Bendemann u. J. Hübner), Leipzig 1840, zu Musäus' Volksmärchen der Deutschen, Berlin 1844, vor allem aber zur Holzschnittübertragung der Menzelschen Zeichnungen für Kuglers Geschichte Friedrichs des Gr., die bei J. J. Weber in Leipzig 1840/42 erschien [...]

Die Gründung von J. J. Webers Illustrirter Zeitung (1843), deren Illustrationen ihm zum Schneiden übertragen wurden, eröffnete ihm ein weites Wirkungsfeld und veranlaßte ihn zur Errichtung eines großen Ateliers, in dem er etwa 40 bis 50 Gehilfen beschäftigte. Kretzschmars Atelier erfreute sich in den 40er und 50er Jahren eines bedeutenden Rufes, doch können sich die Produktionen desselben infolge der dort herrschenden Arbeitsteilung und des etwas fabrikmäßigen Betriebes nicht mehr mit den eigenhändigen frühen Schnitten Kretzschmars messen. [...]


Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker. Hrsg. von Hans Vollmer. 21. Bd. Leipzig: E. A. Seemann 1928 (Reprint 1992). Artikel Kretzschmar, Eduard, S. 510 f. Auszug.

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Nicholls, William Alfred, Holzschneider, geboren 1816 in London, um 1840 in Leipzig tätig. (Thieme-Becker)

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Peupin, Edmond Joseph, Holzschneider, tätig um 1850 in Leipzig. (Thieme-Becker)

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Sears, M. U., Holzschneider, geboren um 1800 in London, tätig ebenda, in Leipzig und Paris (Thieme-Becker).

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Unzelmann, Friedrich Ludwig, Holzschneider, geboren 1797 in Berlin und gestorben 29. August 1854 in Wien. 1843 Mitglied der Berliner Akademie, 1845 Professor. Schnitt u.a. nach Zeichnungen Menzels die Illustrationen zu Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen (1840) und zu der Prachtausgabe der Werke Friedrichs des Großen (1844 ff.). (Thieme-Becker)

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Vogel, Albert, reproduzierender Holzschneider, geboren 11. Februar 1814 in Berlin und gestorben 16. April 1886 ebenda. Schüler F. Unzelmanns. Einer der tüchtigsten Vertreter des von Menzel zu neuem Leben erweckten Reproduktionsholzschnittes. Von der Baumgärtnerschen Buchhandlung nach Leipzig berufen, war er 1 1/2 Jahre für diese tätig, kehrte dann nach Berlin zurück. Arbeitete hauptsächlich in der neuen, von England übernommenen Manier des Holzstiches.

Schnitt u.a. die Illustrationen zu Perrault's "Märchenbuch", zu der 1840 vom Wigand'schen Verlag in Leipzig herausgegebenen Prachtausgabe des Nibelungenliedes (nach Vorlagen von J. Hübner und E. Bendemann), zu einer von der Baumgärtnerschen Buchhandlung 1838 herausgegebenen Shakespeare-Ausgabe (zusammen mit seinem Bruder Otto, nach eigenen Vorlagen), zu Raczynski's "Geschichte der neueren deutschen Kunst", zu Kuglers "Geschichte Friedrichs des Großen" (nach Vorlagen Menzels) und zu den "Werken Friedrichs des Großen" (desgleichen; von Vogel 46 Stöcke). War zuletzt Vorsteher des Ateliers für Holzschneidekunst an der Berliner Akademie.


Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker. Hrsg. von Hans Vollmer. 34. Bd. Leipzig: E. A. Seemann 1940 (Reprint 1992). Artikel Vogel, Albert, S. 474.

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6.
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