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Künstler- und Denkerenzyklopädie

Johann Gottwerth Müller
»Müller von Itzehoe«
(1743-1828)

Alexander Ritter: Der Aufklärer Müller und seine vielfältigen Funktionen

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1. Gelehrter und Buchsammler

Müller versteht Gelehrsamkeit als die Bedingung dafür, daß der Intellektuelle als Aufklärer in der absolutistisch regierten Klassengesellschaft für die allgemeine Entwicklung von Bildung und Öffentlichkeit einzutreten hat. Grundlage seiner universalen Gelehrsamkeit ist die lebenslang aufgebaute Bibliothek mit Büchern aus sämtlichen Wissensgebieten. In seinem Todesjahr 1828, als diese zur öffentlichen Versteigerung angeboten wird, umfaßt sie über 13.000 Titel und ist damit eine der größten Privatbibliotheken seiner Zeit. Sie bildet die Voraussetzung für seine Fähigkeit, sich im Briefwechsel mit Literaten, Verlegern und Gelehrten an der Diskussion über die zeitgenössisch aktuellen Themen in den Künsten, den Wissenschaften und der Politik kenntnisreich zu beteiligen. Und sie ist der Informationslieferant für seine schriftstellerischen Arbeiten.


2. Schriftsteller

Durch das Konzept belehrenden Schreibens für seine Moralische Wochenschrift Der Deutsche vorbereitet, beeinflußt von englischen Vorbildern (Tobias Smollett, Henry Fielding) und dem deutschen aufklärerischen Roman zielt Müllers Belletristik auf die ästhetisch-moralische Erziehung der Stände und beeinflußt mit gemäßigt gesellschaftskritischen Texten die Entwicklung der Unterhaltungsliteratur, die Erziehung der Leser zu intensiver Lektüre und zur Ausbildung ihres literarischen Geschmacks.

Noch 1795 stellt Lichtenberg in einem Begleitschreiben an Goethe, dem er das zweite Heft seiner Ausführlichen Erklärung der Hogarthschen Kupferstiche übersendet, Müllers Konzept der komischen pragmatischen Romane als wegweisend heraus, weil aus seinen "unerreichbaren Romanen [die] immer unverkennbare Menschenstimme, noch rein und voll hervortönt, während der größte Teil der übrigen zu immer schlechterer und schlechterer Instrumental-Musik herabsinkt, zu modern-hohem Gedudel […] in sogenannten Halb-Romanen. […] Scheußlich fürwahr!"

Müller ist literarisch vielseitig aktiv. Er nutzt für seinen Aufklärungszweck nahezu sämtliche Textsorten, Roman, Lustspiel, Pamphlet, Essay und Rezension. Zwischen den 1760er Jahren und 1808, als sein letzter Roman Die Familie Benning erscheint, arbeitet er mit zwölf Verlagen zusammen, darunter den renommierten Verlegern Dieterich in Göttingen, Nicolai in Berlin und Vieweg in Braunschweig. 

Von 1771 bis 1808, also innerhalb von 37 Jahren, publiziert Müller dreizehn Romane mit insgesamt 16.400 Druckseiten. Seine Romane werden zum großen Teil ins Dänische, Französische, Holländische, Russische und Schwedische übersetzt und erreichen anfänglich eine europaweite Verbreitung.

Am erfolgreichsten ist er mit der humorvollen Ständesatire Siegfried von Lindenberg. Eine komische Geschichte (1779), die bis 1802 sechs jeweils erweiterte Auflagen erreicht und darüber hinaus durch zahlreiche unerlaubte Nachdrucke, Übersetzungen (Dän., Frz., Holl., Schwed.), eine Dramatisierung (1790), durch Lesegesellschaften und Leihverkehr popularisiert wird. Mit der fiktiven Handlung um einen adligen pommerschen Landjunker und seine Dorfuntertanen spiegelt der Roman modellhaft die Ständegesellschaft und ihre sozialpolitischen Schwächen.

Mit diesem didaktischen Roman der unterhaltsamen Bürgeraufklärung schlägt er das Generalthema seiner Schriften an, das er von nun an, stofflich variierend, in sämtlichen weiteren Romanen verfolgt. 


3. Übersetzer

Der sprachbegabte Müller, seit seiner Schulzeit die klassischen Sprachen und das Französische sowie das Holländische beherrschend, tritt auch als Übersetzer auf. 1783 legt er eine Übertragung der französischen Ausgabe des utopischen Romans Historie des Sévarambes (1702, zuerst. in engl. Sprache 1675) vor. Der Text des calvinistischen Autors Denis Vairasse gehört zu den bedeutendsten Veröffentlichungen in der Tradition der von Thomas Morus begründeten Gattung des modernen utopischen Staatsromans. Das Buch erscheint im Itzehoer Eigenverlag. Den Exemplaren ist zumeist Müllers Kommentar beigebunden, Johann Gottwerth Müller`s literarische Anmerkungen über die Geschichte der Sevaramben. Eine Beylage zur Übersetzung dieses Buches (Göttingen 1783). Aus dem Holländischen überträgt er drei Unterhaltungsromane der Autorinnen Elisabeth Bekker (verh. Wolff) und Aagje Deken, die unter den Titeln Sara Reinert (1796), Wilhelm Leevend (1798/1800) und Klärchen Wildschütt (1800) publiziert werden. 


4. Zeitschriftenverfasser

Neben kleineren Beiträgen zu verschiedenen Zeitschriften und Kalendern nutzt Müller für die Verbreitung seiner aufklärerischen Botschaft ebenfalls das modisch gewordene Periodikum der moralischen Wochenschriften. Seine Zeitschrift Der Deutsche erscheint von 1771 bis 1776 in acht Teilen mit rd. 1580 Seiten an den drei Verlagsorten Magdeburg, Hamburg und Itzehoe. Müller ist Herausgeber und nahezu Alleinverfasser in einer Person. Er informiert über seine Vorstellungen von deutschem Patriotismus, nützliche Informationen aus Literatur, Wissenschaft und Gesellschaft für die Bildung des Bürgers. Gleichzeitig übt er sich in jene Form des literarischen Schreibens ein, die er dann in seinen Romanen anwendet.

 


5. Herausgeber

Müller betätigt sich gleichfalls als Herausgeber von Büchern. 1790 und 1791 ediert er zwei Bände der Straußfedern. Er setzt damit die von Johann Karl August Musäus begonnene Publikation gesammelter Erzählungen fort, die nach ihm von Ludwig Tieck übernommen wird. Von der pädagogischen Schriftstellerin und frühen Verfechterin der Frauenemanzipation und aufgeklärten Kindererziehung Amalia von Justi (verehelichte Holst; 1758-1829) betreut er die Herausgabe der Bemerkungen über die Fehler unserer modernen Erziehung […] (1791) und von der Ehefrau Margarete Elisabeth Kramer (geb. Remstorp; ca. 1745- nach 1795) seines engen Freundes, des Konsistorialrates Kramer, das Kinderbuch Hänschen und Gretchen, oder die frohen Kinder […], eine Übersetzung aus dem Französischen (1795).
Drei Jahre später legt er Die Pupille. Eine Geschichte in Briefen vor, ein Roman aus dem Nachlaß des Altonaer Gymnasialdirektors und Schriftstellers Johann Jacob Dusch (1725-1787).

 


6. Verleger

Wie andere Schriftstellerkollegen geht Müller von der irrtümlichen Annahme aus, daß es praktisch und gewinnbringend sei, einen eigenen Verlag zu betreiben. Er läßt sich auf dieses unternehmerische Wagnis von 1773 bis 1777 ein. Von Hamburg und Itzehoe aus, teilweise in Zusammenarbeit mit der nahen Glückstädter Druckerei Augustin, ediert er im eigenen "Verlag der Müllerschen Buchhandlung" den 5. bis 8. Teil seiner Zeitschrift Der Deutsche, Die Geschichte der Sevaramben, zwei Romane und die juristische Schrift eines örtlichen Rechtsanwaltes. Weil sich seine Hoffnung, er könne durch Ausschaltung eines Verlages und die Übernahme von Vertrieb wie Verkauf Kosten sparen, nicht erfüllt, die Organisation aus der Provinz sich als zu aufwendig erweist, gibt er nach wenigen Jahren auf.

 


7. Buchhändler und Leihbibliothekar

Von Mitte der 1770er Jahre betreibt er in der Feldschmiede, in seiner Wohnung, die "Müllersche Buchhandlung", vermutlich die erste und lange Zeit einzige in Itzehoe und Umgebung. Sie ist als lokale Buchverkaufsstelle und überregionaler Versandbuchhandel organisiert, wobei letzterem ein jeweils örtliches Verteilungssystem von Einzelhändlern angeschlossen ist, die neben ihren Produkten Buchbestellungen und Buchverteilung übernehmen. Müller versorgt fast ganz Schleswig-Holstein, vor allem aber die Westküste und das niedersächsische Elbufer. Im Angebot sind Unterhaltungsliteratur und Populärwissenschaftliches zu günstigen Preisen, darunter das Nieder-Sächsische Kochbuch von Marcus Loofft, dem "Stadt=Koch in Itzehoe", das 1778 bereits in der 11. Auflage vorliegt.

Da der organisatorische und finanzielle Aufwand groß ist, die Bilanzen nicht zufriedenstellend ausfallen, die Arbeit über seine Kräfte geht, seine Krankheitsperioden zunehmen und die Familienkasse gefüllt werden muß, stellt er Mitte der 1780er Jahre den Buchhandel ein und konzentriert sich von nun an auf die Schriftstellerei. Das gilt auch für eine gleichzeitig betriebene Leihbibliothek, für die er vermutlich seine privaten Buchbestände genutzt hat.


8. Lesegesellschaftsleiter

Vertraut mit den geselligen Hamburger Bildungseinrichtungen der literarischen Gesellschaften wie die Lesekabinette, mit Buchhandel und Buchmarkt und im Glauben an die Bildungsmission des Aufklärers in der Gesellschaft, richtet Müller vermutlich um 1774 eine Lesegesellschaft ein, die neben denen in den Nachbarorten Wilster und Glückstadt bis zum Beginn der 1780er Jahre existiert. Zusammen mit derjenigen in Kiel zählt sie zu den ganz frühen Gründungen in den Herzogtümern Schleswig und Holstein.

Müller übernimmt den Bucheinkauf, die Organisation und Finanzverwaltung. Sie ist als Umlaufgesellschaft angelegt, d.h. die Bücher werden durch einen Boten gegen einen monatlichen Beitrag ins Haus gebracht und nach der Lektüre eingesammelt. Die beiden überlieferten Mitgliederlisten von 1777 mit 47 Namen und von 1778 mit 40 Namen zeigen, daß sich ausschließlich gebildetes, wohlhabendes Bürgertum und der verbürgerlichte Adel in Itzehoe und Umgebung beteiligt haben. Durch Vorlesen in der Familie und nicht erlaubtes Weiterverleihen werden wahrscheinlich ein Zehntel der Itzehoer Bevölkerung durch diese lesepädadgogische Maßnahme erreicht. 


9. Berufspolitiker

Berufspolitisch hat Müller sich mit großem Engagement in die zeitgenössische Debatte über den Schutz des geistigen Eigentums eingeschaltet. Als Aufklärer vertritt er den Anspruch des Bürgers auf individuelle Freiheit und Persönlichkeitsschutz, als freier Schriftsteller das Rechtsanliegen auf Schutz des geistigen Eigentums. Weil es noch bis in 1830er Jahre dauern wird, ein gesetzlich abgesichertes Copyright zu definieren, muß ein Autor auf dem sich entwickelnden kommerzialisierten literarischen Markt mit dem Buch als Ware auf die Honorigkeit seines Verlegers vertrauen. Die schriftlichen oder mündlichen Vereinbarungen zwischen beiden geben letzterem in der Regel das Besitzrecht am Manuskript und die Entscheidungsfreiheit über Honorarhöhe, Auflagenzahl und Buchmenge, Papier- Druck- und Einbandqualität, Werbung und Vertrieb. 

Solche Umstände führen dazu, daß zahlreiche Verleger ohne Erlaubnis und Honorarzahlung Texte nachdrucken (Raubdruck) und in besserer Ausstattung bei niedrigerem Preis anbieten. Wie viele andere ist auch Müller vom Nachdruck betroffen.

Fast sämtliche Romane von ihm werden zwischen den 1780er und 1790er Jahren z.T. von verschiedenen Verlagen nachgedruckt, vor allem von Christian Gottlieb Schmieder (Karlsruhe), dem "Generaldieb" (Emmerich, 1788). Der Autor wehrt sich öffentlich mit Stellungnahmen, Forderungen und Polemiken gegen "die Diebesklasse der Nach= und Schleichdrucker" in seinen Romanen (z.B. Emmerich, 5. Teil, 61. Kap. 1788), einem ihm zuzuschreibenden satirischen 'Lustspiel' über Die Habsüchtigen oder die Nachdrucker (1791) und mit der Abhandlung Über den Verlagsraub (1792). 

Alexander Ritter 


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