goethe


Künstler- und Denkerenzyklopädie

Johann Gottwerth Müller
»Müller von Itzehoe«
(1743-1828)

Alexander Ritter: "Müller von Itzehoe" – Der gelehrte Erfolgsschriftsteller

 

 

1. Vorbemerkung

Am 16. Juli 1796 schreibt der angesehene Physiker und Literat Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) aus der Universitätsstadt Göttingen an seinen Freund, den Itzehoer Schriftsteller Johann Gottwerth Müller:

Ueber die Unerschöpflichkeit Ihres Genies, theuerster Freund, muß ich in Wahrheit erstaunen. Sie tragen in dem kleinen Itzehoe ein gantzes London in Ihrem Kopf. Sagen Sie mir doch, wie Sie das anfangen, und was für eine Herschelsche Erfindung Sie gemacht haben, daß Sie an Ihrem geringen Wohnort so tief und so richtig in die Welt hineinschauen, daß die Umfahrer und Umsegler derselben hinter Ihnen zurückbleiben.

 

Lichtenberg fällt ein treffsicheres und gültiges Urteil. Er erkennt die besonderen Umstände von Müllers Existenz in dem kleinen Provinzort im dänischen Holstein. Mit seinem Kompliment respektiert er, daß es dem populären Romanautor gelingt, mit außergewöhnlichem Wissen, wie es die Weltstadt London verkörpert, sowie mit dem Weitblick eines Astronomen Friedrich Wilhelm Herschel (1738-1822) und der Weltreisenden Kluges und Hilfreiches über die Menschen und die Welt zu sagen. Und darum ist es auch keine Ironie oder nur humorvoller Einfall, wenn Lichtenberg seine Post an den Freund in Itzehoe besonders adressiert: "Herrn Gelehrten Müller in Itzehoe", "An den Herrn Müller berühmten Buchhändler in Itzehoe" und "An Herrn Fielding=Müller in Itzehoe", eine Anspielung auf dessen Schreibtradition in der Nachfolge des berühmten englischen Autors Henry Fielding. 

 

Wer sich in Itzehoe nach dem bedeutenden Mitbürger erkundigt, der erhält keine zufriedenstellende Auskunft.

Zwei wissenschaftliche Sammelbände von 1978 und 1986 sind seinem Leben und Werk gewidmet. Neben dem Haupteingang des Kreismuseums im Prinzeßhof befindet sich ein Reliefporträt von 1978, angefertigt von dem Hamburger Bildhauer Fritz Fleer (1921-1997). Im Museum selbst bleibt er weitgehend unbeachtet. Das Kreis- und Stadtarchiv bewahrt einige Bücher und Materialien auf. Eine Nebenstraße an der städtischen Peripherie trägt seinen Namen. Der Grabstein steht neben der Kirche Münsterdorfs, einer nahen Nachbargemeinde. Die bisherige Annahme, daß Müller in dem Teil der Bekstraße, der als schmale Gasse von der Kirchenstraße abzweigt, zwischen 1773 und 1828 gewohnt haben soll, ist unzutreffend.  

Im Jahre 1773 läßt sich Müller in Itzehoe nieder. Die Anschrift dieser ersten Wohnung ist nicht bekannt. Vier Jahre später, am 26. April 1777, bezieht Müller für 19 Reichstaler Miete pro Jahr eine neue Unterkunft im Haus von Johann Diederich Waller, einem wohlhabenden Itzehoer Bürger, in der Feldschmiede. Auch diese Unterkunft konnte bislang nicht lokalisiert werden. Nach weiteren vier Jahren, am 29. September 1781, mietet er sich in das der breitenburgischen Jurisdiktion zugehörige gräflich-rantzauische "Herrschaftliche Gebäude in der Be[e]kstraße" ein, ein zweigeschossiges Fachwerkhaus, wo er bis zu seinem Tode am 23. Juni 1828 wohnen bleibt. Nach Recherchen im "Cassen-Geldregister von der Herrschaft Breitenburg" (1781ff.) durch den vormaligen Archivar Otto Neumann sind unter der Rubrik "Meierhöfe und Häuser" auch die Mietzahlungen von Müller verzeichnet. Das Haus befand sich vermutlich in dem Teil der Beekstraße, der heute den Namen Ölmühlengang trägt.  

Das damals einzige Gebäude an der Straße erlaubt Müller im Winterhalbjahr den freien Blick hinunter zur Stör und auf die Marschen. Weil es, ungeschützt von Nachbarhäusern, dem Westwind mit Sturm und Regen ausgesetzt ist, klagt er kontinuierlich darüber, daß die Außenwände seiner Wohnung, Fachwerkmauern mit Stroh- und Lehmfüllung, vor extremen Witterungsumständen nur unzureichend schützten und jährlich ausgebessert werden müßten.

Wer ist dieser Mann, dem es vom Rand des deutschen Literaturraumes her gelingt, im späten 18. Jahrhundert und um die Jahrhundertwende zu den bekannten Erfolgsschriftstellern und berufspolitisch besonders engagierten Literaten zu zählen?

 


2. Jugendzeit in Hamburg 1743 bis 1762

Johann Gottwerth Müller wird am 17. Mai 1743 in Hamburg geboren. Er ist das zweite von vier Kindern des Johannes Nikolaus Müller aus Erfurt, seit 1735 Arzt in Hamburg, und der Ehefrau Caroline Ehrenmuth, Tochter des holsteinischen Oberkonsistorialrats Erdmann Neumeister, Hauptpastor an St. Jakobi. Alles das, was den späteren Schriftsteller auszeichnet, Intellektualität, Weltoffenheit und Fremdsprachenkenntnis, gewinnt er durch die Erziehung im gebildeten Elternhaus und das aufgeklärte geistig-politische Milieu der Hansestadt.

Die weltoffene Großstadt mit dem bedeutendsten deutschen Überseehafen zählt 1759 ca. 93.000 Einwohner. Ihre geistig-politische Urbanität bestimmt eine schmale bürgerlich-intellektuelle Oberschicht, die Hamburg zu einem Zentrum der norddeutschen Aufklärung sowie der Buch- und Periodikaproduktion macht. Das gesellige Leben der bildungsbürgerlichen Arztfamilie Müller spiegelt exemplarisch den Hamburger gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Diskussionsstand in den aufklärerischen Freundeskreisen und Sozietäten, u.a. der Patriotischen Gesellschaft. Zu den Freunden gehören führende Intellektuelle der Stadt. Mit dem Medizinerkollegen Peter Carpser (1688-1759) wird in der Familie die gemeinwohlorientierte Krankenversorgung erörtert, mit dem ‚Vater der deutschen Schauspielkunst’ Konrad Ekhof (1720-1778) die nationale Theaterentwicklung, mit Friedrich von Hagedorn (1708-1754) – des einflußreichen Schriftstellers Johann Hinrich Brockes’ Freund – die im Geiste der aufklärerischen Wirklichkeitszuwendung notwendige Sprach- und Formveränderung der Dichtkunst. Und die theologisch konservative Streitbarkeit von Müllers Großvater mütterlicherseits, Erdman Neumeister (1671-1756), geben Anlaß zu Kontroversen über dessen lutherisch-orthodoxe Stellungnahmen gegenüber Pietismus und Aufklärung, Katholiken und Reformierten, die Johann Melchior Goeze (1717-1786), Pastor aus Magdeburg, von 1755 an fortführt.

Standesgemäß besucht Müller, wie seine Freunde die späteren Literaten Bernhard Christoph d’Arien, Joachim Eschenburg und Daniel Schiebeler, die schulischen Einrichtungen der Hamburger Aufklärung, die Gelehrtenschule des Johanneums und bis 1762 dessen akademische Aufbaustufe des Akademischen Gymnasiums. Was in der Familie plaudernd besprochen worden ist, das vermitteln beide Lehranstalten gründlich und systematisiert. 

Der Rektor Johann Samuel Müller (Johanneum), die akademischen Lehrer und führenden Köpfe der norddeutschen Aufklärung Hermann Samuel Reimarus (1694-1786; orientalische Sprachen), Michael Richey (1678-1761; Geschichte/Griechisch) und Johann Georg Büsch (1728-1800; Mathematik) prägen sein aufklärerisches Weltbild, vermitteln humanistisches, mathematisch-naturwissenschaftliches Wissen, Geschichte, auch die alten Sprachen, die neben Französisch, Englisch, Holländisch – die Hamburger Handelssprachen – Müllers Sprachfertigkeit vorbereiten.

Als er 1762 die Heimatstadt verläßt, sind sein Selbstverständnis und seine Weltsicht vom gesellschaftlichen Milieu des akademisch gebildeten, weltoffenen Bürgertums im republikanisch geführten Stadtstaat Hamburg geprägt. Der junge Mann ist mit den Grundlagen der Aufklärungsphilosophie vertraut, mit ihren sozialpraktischen Folgerungen für das politische Gemeinwesen, und er glaubt an die Nützlichkeit von Bildung für die Persönlichkeitsentfaltung und an die öffentliche Verantwortung des Gebildeten. Durch die ärztliche Tätigkeit seines Vaters sind ihm außerdem die Probleme bekannt, die eine große Stadt mit Krankheiten und unzulänglicher medizinischer Fürsorge hat.

 


3. Medizinstudium in Helmstedt und Halle 1762 bis 1770

Wahrscheinlich dem Familienwunsche folgend, meldet sich der neunzehnjährige Müller an der Universität Helmstedt für das Medizinstudium an, verzeichnet unter folgender Matrikel: 1762 II / Nr. 10, Universität Helmstedt (Archiv der Stadt Helmstedt): "Müller, Johann Gottwerth Hamburgensis, Okt. 9 [Immatrikulation: 9. 10. 1767] CA [civis academicus], RD [ritus dispositionis]; Johanneum Hamburg, med." 

Hier und vermutlich auch an der Universität Halle studiert Müller fast acht Jahre. Einfluß auf sein medizinisches Denken haben die medizinischen Konzepte von Friedrich Hofmann (1600-1742) mit seiner 'biomechanistischen Lebensdeutung' und Georg Ernst Stahl (1659-1734) mit dem animistisch-vitalistischen Erklärungsansatz, der Praktiker und umstrittene, aber weithin als skurril bekannte Hochschullehrer Gottfried Christoph Beireis (1730-1809) sowie medizinalorganisatorisch die Neuerungen der Medikamentenversorgung (Waisenhausapotheke in Halle).

 


4. Buchhändler- und Verlegerausbildung in Magdeburg 1770 bis 1772

1770 stirbt unerwartet sein Vater. Völlig mittellos verzichtet er auf den Abschluß des Medizinstudiums mit der Promotion zum Dr.med., ein lebenslanges Interesse am medizinischen Fortschritt aber beibehaltend. Er schließt sich dem königlich preußischen Commerzienrath und herzoglich braunschweigischen Universitäts-Buchhändler Daniel Christian Hechtel (Hof/Voigtland 1725-Hamburg 17[??]) an und geht mit ihm nach Magdeburg. Diese Stadt, mit rd. 17.900 Einwohnern zwischen Hamburg, Berlin, Leipzig und Halle gelegen, den Zentren universitärer Gelehrsamkeit und verlegerischer Bedeutung, ist zu dieser Zeit eine eher behäbige Kommune, kaufmännisch-kleinbürgerlich geprägt, mit einer schmalen administrativ und kulturell führenden Honoratiorenschicht aus Garnison, Kirche und Verwaltung.

Hechtel, ebenfalls wie Müller aus einer Arztfamilie stammend, ist innerhalb der Verleger- und Buchhändlerbranche bekannt als der "Böse Bube", wie der Verleger Franz Varrentrapp aus Frankfurt/Main ihn schon 1764 nennt. Er gilt als ein "Schandfleck des Buchhandels", berüchtigt durch "üble Lebensart" als Schuldenmacher, Mitgiftjäger, Gefängnisinsasse, Lügner, illegaler Gründer von Verlagsbuchhandlungen, als Nachdrucker, windiger Buchverkäufer, Konflikthansel, beständig auf der Flucht vor neuen Prozessen gegen ihn. Trotzdem bleibt Müller im Hause Hechtel.

Der Magdeburger Aufenthalt verändert sein Leben. Müller gewinnt jene biographischen und beruflichen Voraussetzungen, die ihn zum erfolgreichen Schriftsteller werden lassen. Er heiratet Hechtels Tochter Johanna Anna Margaretha und hilft, wie er sagt, seinem Schwiegervater in Buchhändlergeschäften in dessen "Hechtelscher Verlagsbuchhandlung" (1762-1772). 

Als Buchhandelsvertreter reist Müller bis Hamburg, nach Brandenburg, Mecklenburg und Pommern. Er erlernt die Organisation von Verlagsarbeit, Druckereiverbindungen, vom Buchhandel, gewinnt literarisch-kaufmännische Kontakte, Einblick in die Buch-, Literatur- und Marktentwicklung sowie die Buchmessen, übt sich im Schreiben und Publizieren eigener Arbeiten ein.

Die Gegenfigur zu Hechtel bildet der Theologe und Pastor Johann Samuel Patzke (1727-1786), ein gelehrter Bürger und Aufklärer, mit dem sich Müller anfreundet. Dessen Moralische Wochenschrift Der Greis (1763-1766), ausgerichtet auf patriotische, ethische Bürgerbelehrung, hat Müller vermutlich angeregt, seine eigene Zeitschrift Der Deutsche (1771-1776) thematisch danach auszurichten.

Der Aufenthalt in Magdeburg wird aber eben auch von unangenehmen Begleitumständen bestimmt.Mit dem, was er schreibt und Hechtel zum Verlegen gibt, seine Gedichte, der Freundschaft und der Liebe gesungen (1770-1771) und den Deutschen (1771, Teil 1-4), bereiten dem Autor wenig Freude, weil es zu öffentlich beleidigenden Angriffen gegen ihn kommt, Hechtel ihn beruflich ausnutzt, schlecht bezahlt, absprachewidrig des Schwiegersohnes Bücher minderwertig ausstattet, hinter seinem Rücken Neuauflagen und Nachdrucke veranlaßt, dessen Autoranonymität preisgibt.

 


5. Buchhändler in Frankfurt/Oder 1772

1772 zieht Müller mit seiner jungen Frau nach Frankfurt/Oder. Er übernimmt die Geschäftsleitung einer Buchhandelsfiliale, die sein Schwiegervater Hechtel – in der Akte fälschlicherweise als "Henschel [durchgestrichen] modo Müller" eingetragen – kurze Zeit zuvor eingerichtet hat. Neben der Academischen Braun’schen Buchhandlung ist dies die zweite in der Stadt. Müller entrichtet für die Jahre 1771/72 und 1772/73 jeweils 10 Reichstaler Gebühren an die Stadtkasse.  

Auch wenn sein Name als der des Geschäftsleiters bis 1778 in den Akten vermerkt wird, so ist er wahrscheinlich nur wenige Monate im Jahre 1772 tätig gewesen, denn während seiner Abwesenheit aus Magdeburg kommt es zum Zerwürfnis mit seinem Schwiegervater.

Müller bekennt verbittert im Deutschen (3. Teil, 1771), sein 'Vaterland' habe "wenig unglücklichere Bürger" als ihn, denn er müsse sich "durch unzählige Hindernisse und Zerstreuungen hindurch drängen, welche mir jetzt [22. Juni 1771] das Schreiben Theils verleiden, Theils zur Beschwerde machen." Die Magdeburger Zeit ist somit zugleich Krise und bildungsbiographischen Wende in seinem Leben, denn hier fällt die Entscheidung für den Beruf des freien Schriftstellers: "Nein! endlich will ich wieder mein, / Und nicht ein Wochenautor seyn" (Der Deutsche, 4. Teil, 1771). Wichtigstes literarisches Resultat dieser Entscheidung ist der hier entworfene Plan für seinen Erfolgsroman Siegfried von Lindenberg (1779).

 


6. Verlagsbuchhändler in Hamburg 1772/1773

Zusammen mit seiner Frau, einem Kind und seiner Schwiegermutter läßt sich Müller vermutlich Ende 1772 in seiner Vaterstadt Hamburg nieder. Er gründet den "Verlag der Müllerschen Buchhandlung". Der Konkurrenz in der Branche mit über fünfzig Buchgeschäften ist Müller nicht gewachsen. Hoch verschuldet gibt er Anfang 1773 auf und geht ins 'Ausland' nach Holstein, in den dänischen Gesamtstaat. Warum er die bedeutungslose Kleinstadt Itzehoe wählt, ist bislang ungeklärt. Offenbar verspricht er sich davon, er könne sich und seiner Familie durch Autorhonorare, Buchhandel und verlegerische Vorhaben eine zumindest bescheidene Lebensführung finanziell sichern. Darüber hinaus hofft er über viele Jahre darauf, in anderen Regionen der deutschen Länder ein besoldetes Amt zu erlangen und damit der ländlich-kleinbürgerlichen Provinz sowie der wirtschaftlich unsicheren Existenz des freien Schriftstellers entfliehen zu können.

 


7. Gelehrter, Verlagsbuchhändler und Schriftsteller in Itzehoe 1773 bis 1828

Müller zieht zusammen mit seiner Frau, seiner Tochter Charlotte und seiner Schwiegermutter 1773 nach Itzehoe. Er kommt in die ländliche Kleinstadt als medizinisch und universal gebildeter junger Mann, als vielsprachiger und gelehrter Schriftsteller, als idealistischer Aufklärer, vertraut mit dem Verlagsbuchhandel, dem Literaturmarkt und der literarischen Entwicklung.

Das intellektuelle und soziale Milieu in dem unauffälligen Städtchen an der Stör ist bescheiden. Die Gemeinde mit ihren rd. 3700 Einwohnern wird von Kleinbürgern mit geringer Kaufkraft geprägt, die in Handel, Handwerk und den üblichen Dienstleistungen für den Tagesbedarf tätig sind. Seit den verheerenden Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges, des Brandes von 1657 und der Pest von 1712 hat sich Itzehoe wirtschaftlich nicht wieder erholt. Müller wird diese Umstände vermutlich mit Stirnrunzeln wahrgenommen haben. Dennoch muß es Ursachen dafür gegeben haben, daß er diesen Ort für eine neue Existenzgründung gewählt hat. In einem Brief an seinen Hamburger Freund vom 16. August 1825 beklagt er die unhygienischen Verhältnisse von Stadt und eigener Wohnung: "Diese ganze Straße wimmelt von Ratzen und Mäusen, besonders meine Stube, in der sie stets reichlich Nahrung finden, so daß ich nie erlebt habe, daß sie mir Kleider oder Bücher angefressen hätten, und an derselben Stelle hängt seit länger als 20 Jahren beständig, die Nacht über, das Klleid welches ich am Tage anhatte. Nun stehn freylich in allen Winkeln Mausefallen, aber so ergiebig diese auch sind, so verschlägt das doch nichts."

Vermutlich haben ihn die privat und geschäftlich unerfreulichen Erfahrungen mit seinem Schwiegervater Hechtel und dem Bankrott in Hamburg dazu veranlaßt, die überschaubaren Verhältnisse in der Provinz zu suchen. Außerdem erlebt das Königreich Dänemark von 1730 bis 1808 unter den Königen Christian VI., Friedrich V. und Christian VII. – wegen seiner Geisteskrankheit in Regierungsgeschäften durch den Kronprinzregenten vertreten, den späteren König Friedrich VI. (ab 1808) – eine lange Periode des Friedens und der wirtschaftlichen Prosperität, ursächlich verbunden mit der Neutralitätspolitik, einer moderat reformierten Ständegesellschaft und Aufhebung der Leibeigenschaft. Dänemark, ein Modell für den aufgeklärten Absolutismus, garantiert außen- und innenpolitisch die "Ruhe des Nordens".

Diese Umstände im dänischen Gesamtstaat versprechen ihm diejenige staatliche Toleranz und publizistische Freiheit, die er als Vorbedingung seiner aufklärerischen und literarischen Tätigkeiten benötigt. Das Königshaus, die Regierung und die Deutsche Kanzlei, zuständig für die Verwaltung der Herzogtümer Schleswig und Holstein, zeigen sich aufgeschlossen gegenüber der deutschen Literatur, wie es u.a. die finanzielle Förderung der berühmten deutschen Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock und Friedrich Schiller veranschaulicht.

Mangelhafte Bildung, unzulängliche Leseerfahrung, das fehlende Angebot von Büchern und eine weiter verbreitete Untertanenmentalität als in den großen Städten, die er kennt, versteht er vermutlich als politische und ethische Herausforderung an sich als Mitglied der 'Gelehrtenrepublik', einer ideellen Gemeinschaft jener der Aufklärung verpflichteten Intellektuellen, im Interesse von Öffentlichkeit und Bildung erzieherisch tätig zu werden. Er entscheidet sich so, um unabhängig von einem Amt oder mäzenatischer Unterstützung für die Belehrung des Bürgers in der Provinz zu wirken, ihn zum Lesen zu bringen, sein Wissen zu erweitern, öffentliche Diskussionen möglich zu machen und so politische Mündigkeit zu befördern.

Das scheint ihm möglich, denn auch Itzehoe verfügt über eine bürgerliche Honoratiorenschicht. Das Offizierkorps und die Militärärzte der örtlichen Garnison, die Apotheker, Ärzte, Juristen, Pastoren, wohlhabenden Kaufleute, der verbürgerlichte Landadel und die gebildeten Großbauern, auch die adlige Familie derer zu Rantzau auf dem nahen Schloß Breitenburg bilden die Klientel, an die er sich wenden kann. Darüber hinaus hofft er auf wirtschaftliche Chancen in einer Stadt und einer Region, buchhändlerisch und verlegerisch arbeiten zu können, zumal es im nahen Glückstadt die renommierte Verlagsdruckerei Augustin gibt und durch Itzehoe die schnelle Postverbindung zwischen Hamburg und Kopenhagen verläuft.

In Itzehoe gelingt ihm ab 1773 bis Anfang der achtziger Jahre die Organisation von unabhängig praktizierter Aufklärung in der dreifachen Rolle als Autor, Buchdistributor und Lesererzieher. Neben seinen Literatenkollegen Christian Fürchtegott Gellert und Friedrich Gottlob Klopstock verkörpert Müller beispielhaft den freien Schriftsteller, der ausschließlich von Honoraren lebt. Über viele Jahre repräsentiert er innerhalb der europäischen Spätaufklärung den Typus des enzyklopädisch gebildeten, polyglotten Gelehrten. 

Müller wechselt zwischen 1773 und 1781 dreimal die Wohnung. In seinem endgültigen Domizil, dem gräflichen Gebäude an der Beekstraße, belegt er bis zum Tode 1828 wahrscheinlich die Parterrewohnung. Ich "behelfe [...] mich mit Weib, Schwiegermutter und 7 Kindern in 6 Stuben, die zum Theil sehr klein sind." (Müller an Nicolai 24. März 1791) Seine Mietzahlung, verzeichnet im gräflichen "Cassen-Geldregister", beträgt für den bis 1802 als "Buchführer", d.h. als Buchhändler, dann als "Dr. Müller" bezeichneten Mieter 28 Reichstaler, die bis 1818 unverändert bleibt. Erst von diesem Jahr an gewährt ihm Konrad Graf zu Rantzau Mietfreiheit, die 28 Reichstaler aber weiterhin verbuchend. Nach seinem Tod 1828 übernimmt die Tochter Charlotte, die verwitwete "Frau Professorin Thieß", die Wohnung bis 1834 und lebt dort gleichfalls mietfrei. In dem Haus befinden sich noch zwei weitere Wohnungen. Während der 47 Jahre, die Müller in der Beekstraße verbringt, lebt er mit vierzehn Mitbewohnern wechselnder Berufe zusammen, darunter zwei Perückenmacher, ein Doktor Hasche und ein Klaviermeister.

Sein Leben verläuft ruhig. Er reist selten. Die meisten Fahrten führen ihn zu Bekannten nach Glückstadt, zu Verwandten nach Bordesholm, Altona und Hamburg. Von seinen wenigen Fernreisen sind nur bekannt der Besuch im Frühsommer 1783 bei dem Verleger Dieterich und dem Schriftsteller Lichtenberg in Göttingen und 1801 ein Aufenthalt in Leipzig. Den regelmäßigen Einladungen der gräflichen Familie zu Rantzau auf das Schloß Breitenburg und nach Rosdorf folgt er pflichtgemäß:"[…] den Morgen bin ich auf Breitenburg, um dem Könige meine Schuldigkeit zu beweisen, der freylich erst Nachmittags kömmt: aber ich soll bey dem Grafen frühstücken u. zu Mittag essen." (22. Mai 1825)

Entscheidende Ursache dafür, daß Müller den Ort selten verläßt, sind das unentwegte Arbeiten und der zeitlebens beklagte Geldmangel. Auch wenn seine Briefe und Romane Hinweise zu seinem Honoraraufkommen enthalten, so läßt sich sein Einkommen nicht zuverlässig zu berechnen. Es ist aber anzunehmen, daß es nicht bemerkenswert hoch gewesen ist und unzuverlässige Zahlungen der Verleger ihn immer wieder in finanzielle Notsituationen bringen. Die Ausgaben für den Lebensunterhalt einer Familie mit zeitweise elf Personen, wozu nach dem Tode des Schwiegervaters auch dessen Witwe Maria Salome Hechtel gehört, sind groß. Hinzu kommen die Aufwendungen für Wohnungsmiete, Arztkosten, Porti und seine umfangreichen Buchanschaffungen, so daß die Kosten nur mit Mühe aus den laufenden Einnahmen, durch Vorschüsse, Kredite von Bekannten und Schulden zu decken sind.

Entsprechend dem aufklärerischen Verständnis von der Individualität des Menschen und seiner Persönlichkeitsentfaltung in einer offenen Bürgergesellschaft hat Müller durch eine umfangreiche Korrespondenz geschäftliche und freundschaftliche Kontakte gepflegt, von der lediglich Teile überliefert sind.

Zu seinen Briefpartnern zählen Verleger in Altona, Amsterdam, Berlin, Braunschweig, Bremen, Frankfurt am Main, Göttingen, Hamburg und Leipzig, die Literatenkollegen Heinrich Christian Boie, Adolf von Knigge, Georg Christoph Lichtenberg – der auch Patenonkel von Müllers Sohn Carl Johann Georg ist – , August Gottlieb Meißner, Johann Heinrich Voß u.a.

Er hat ein gastfreundliches Haus gepflegt, durchreisende Gäste empfangen, von denen nur wenige bekannt sind, darunter der Schriftsteller August Gottlieb Meißner aus Prag im Jahre 1792 und sein Berliner Verleger Nicolai, der ihn im Sommer 1794 besucht.

Müller ist sich des Dilemmas seiner Situation in der provinziellen Kleinstadt bewußt, in der es – nach seiner Einschätzung – außer dem Konsistorialrat Christian Hieronymus Kramer (1721-1794) keinen ihm intellektuell gleich gebildeten Gesprächspartner gibt. Er teilt das Urteil seines Plöner Briefpartners von Schmettow, daß sich Itzehoe und "Plön […] zur Gelehrtenrepublik wie Sibirien zu Petersburg" (1791) verhalten. Mehrfache Bemühungen um ein Amt mit fester Besoldung in anderen Regionen Deutschlands schlagen fehl. Aus Geldmangel vermag er nicht zu reisen, um sich in größeren Städten nach Möglichkeiten der beruflichen Absicherung umzuschauen. So sieht er sich dazu verurteilt, in diesem Ort zu bleiben und von hier aus den Kontakt zur Literaturentwicklung und zum Literaturmarkt im deutschen Sprachraum zu halten.

Alexander Ritter

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