goethe


Dieter Borchmeyer
»DuMont Schnellkurs Goethe«

„Klein Paris“:
Studium in Leipzig und Frankfurter Rekonvaleszenz
(1765-1770)

Goethe-Denkmal. Quelle: Wikipedia

 

Goethe „à la mode“

Eigentlich wollte Goethe in Göttingen „Schöne Wissenschaften“, d.h. Rhetorik und Poetik sowie klassische Altertumswissenschaft studieren, doch der Vater bestimmte ihn nach dem eigenen Vorbild energisch zum Jurastudium in Leipzig. Im Oktober traf er in „Klein Paris“ ein. So wurde Leipzig halb im Scherz, halb im Ernst von den Zeitgenossen genannt. Tatsächlich hatte das wirtschaftliche und kulturelle Leben der weltläufigen Stadt um die Mitte des 18. Jahrhunderts europäischen Rang erreicht. Der atmosphärische Gegensatz zwischen Goethes mittelalterlich verwinkelter, im wahrsten Sinne altfränkischer Vaterstadt mit ihrem etwas verzopften patrizischen Bürgermilieu und der mondänen sächsischen Geschäfts- und Bildungsmetropole mit ihren breiten Alleen, großzügigen Plätzen und barocken Bürgerhäusern, in denen sich ein kräftig aufblühendes modernes Wirtschaftsbürgertum manifestierte, konnte größer nicht sein.

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781)Wie seinerzeit Lessing mußte der recht altfränkisch gewandete und sich gebärende Goethe den vom Geist des Rokoko geprägten, an der französischen Adelskultur orientierten galanten Lebensstil von „Klein Paris“ zügig adaptieren, wollte er von seinen Kommilitonen und vor allem den eleganten Leipzigerinnen ernstgenommen werden. Seine hausgemachte antiquierte Garderobe mußte er als erstes beiseitelegen, um ihrem Gekicher zu entgehen. Es fiel ihm nicht leicht, sich auf die Umgangsformen der >großen Welt< umzustellen, sein in der Leipziger Umgebung komisch wirkendes Frankfurter Deutsch abzulegen und in Kleidung und Manieren „à la mode“ zu sein, was er aus mangelnder Sicherheit nicht selten so übertrieben zu haben scheint, daß ein Frankfurter Freund mokant bemerkte, er sei ein rechter „Stutzer“ geworden.

 

Erwartungsgemäß langweilte ihn bald sein juristisches Pflichtstudium. Mit sehr viel mehr Interesse besuchte er die Poetik-Vorlesungen von Christian Fürchtegott Gellert, dem empfindsamen Widerpart des rationalistisch verknöcherten Gottsched an der Leipziger Universität. Seine Lektüre- und Stilvorschriften gab Goethe mit autoritärem Gestus jeweils sofort an seine Schwester im heimischen Frankfurt weiter. Auch Gellert begann sich freilich zu überleben. Von den Autoren der jüngeren Generation, welche die Herzen der literarisch ambitionierten Jugend bewegten, von Klopstock, Wieland oder Lessing, dessen Minna von Barnhelm soeben über die Leipziger Bühne ging und auch von Goethe bejubelt wurde, hörte man in Gellerts Vorlesungen nicht viel, und in seinem poetischen Praktikum ließ der Lehrer Gellert an Goethes eigenen poetischen Versuchen kaum ein gutes Haar, versah fast jede Zeile mit etwas philisterhaften Korrekturen und Randbemerkungen.

Mehr und mehr drängte es Goethe aus dem Hörsaal heraus. Eine der wichtigsten Leipziger Begegnungen war diejenige mit Adam Friedrich Oeser, dem Maler und Leiter der „Zeichnung- Malerey- und Architectur-Academie“, bei dem er nicht nur seinen Frankfurter Zeichenunterricht fortsetzte, sondern der ihn mit den Schriften seines Schülers und Freundes Johann Joachim Winckelmann bekanntmachte, an dessen Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Malerey und Bildhauer-Kunst (1755) Oeser einigen Anteil hatte. Sie enthielten die berühmte Beschreibung der spätantiken Laokoon-Gruppe mit der epochemachenden Formel von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ der griechischen Bildwerke, die Goethes Ästhetik entscheidend prägte, relativiert freilich durch den 1766 erschienenen Laokoon Lessings, der Winckelmanns klassizistisches Kunstideal auf die Gattungsgesetze der bildenden Kunst beschränkte und der Dichtung von ihren Strukturgesetzen her andere Wege wies.

  

Johann Joachim Winckelmann

„Schon als Winckelmann zuerst in Dresden der Kunst und den Künstlern sich näherte und in diesem Fach als Anfänger erschien, war er als Literator ein gemachter Mann. Er übersah die Vorzeit so wie die Wissenschaften in manchem Sinne. Er fühlte und kannte das Altertum, so wie das Würdige der Gegenwart, des Lebens und des Charakters, selbst in seinem tiefgedrückten Zustande. Er hatte sich einen Stil gebildet.“

Winckelmann und sein Jahrhundert

 

Annette und die Laune des Verliebten

Die engste Freundschaftsbeziehung der Leipziger Jahre bildete die Verbindung mit dem elf Jahre älteren Hofmeister Ernst Wolfgang Behrisch, einem hochsensiblen Lebemann, der Goethe in seinen unter der Fuchtel des Gellertschen Praktikums zu verkümmern drohenden poetischen Ambitionen wieder aufhalf. Er ermunterte Goethe zu seiner ersten Gedichtsammlung: den neunzehn Gedichten des Buchs Annette (1767), hinter der die neunzehnjährige Wirtstochter Anna Katharina („Käthchen“) Schönkopf stand, die erste große Liebe des sechzehnjährigen Goethe, die ihn zwei Jahre „rasen“ ließ, bis die durch seine dauernden Eifersuchtsausbrüche und Selbstquälereien belastete Beziehung 1768 in beiderseitigem freundschaftlichem Einvernehmen aufgelöst wurde.

Das Buch Annette, von Behrisch handschriftlich zusammengestellt und mit Vignetten verziert, ist einerseits dem galanten Stil der Rokoko verpflichtet, kreist um die oft schlüpfrigen erotischen Motive der modischen Anakreontik, läßt jedoch immer wieder einen eigenen empfindsamen Ton durchklingen. Unter dem Eindruck der Beziehung zu Käthchen ist auch das Schäferspiel Die Laune des Verliebten (1767/68) entstanden.

Kunstpostkarte nach G. O. May, im Schmuckrahmen »Die Nacht«Die Laune des Verliebten greift in ihrer einaktigen Form auf ein Modell zurück, das von dem Gottsched-Schüler Johann Christoph Rost (Die gelernte Liebe, 1742) geschaffen und von anderen Aufklärungspoeten übernommen wurde. Typisch für diese Pastoraleinakter ist die von zwei kontrastierenden Liebespaaren bestimmte immer gleiche Handlungsführung. Hauptbeschäftigung der vier Personen, die stets die traditionellen Schäfernamen Eridon, Corydon, Lamon, Damon usw. tragen, sind Blumenpflücken und Kränzewinden; darauf spielt noch die Eingangsszene von Goethes Torquato Tasso (1790) an. Eines der Paare harmoniert von vornherein, während das andere anfänglich disharmoniert, doch durch gutgemeinte Intrige des ersten Paars ebenfalls glücklich vereint wird. Die Versform dieser Schäferspiele ist immer der aus den französischen Dramen übernommene Alexandriner. Goethe hält sich an die formalen und inhaltlichen Sterotypen der Gattung, doch gelingt es ihm nicht nur, dem im Deutschen meist hölzernen Alexandriner größere Elastizität zu verleihen, sondern auch die schematische Handlung zu individualisieren. Das geschieht vor allem durch die autobiographischen Bezüge des Einakters, in dem Goethe, dem Bekenntnis in Dichtung und Wahrheit zufolge, seine selbstquälerische Beziehung zu Käthchen Schönkopf spiegelte.  

 

Die Tochter des Malers und Leiters der „Zeichnung- Malerey- und Architectur-Academie“, Adam Friedrich Oeser, pflegt den kranken Goethe. Radierung von Johann Friedrich Bause.Die Leipziger Jahre Goethes endeten mit einer schweren psychischen und gesundheitlichen Krise. In Verzweiflung an seinem dichterischen Talent verbrannte er Ende 1767, wie erwähnt, die meisten seiner bisher entstandenen Dichtungen. Die Liebe zu Käthchen ging in Brüche, Behrisch verließ Leipzig, Goethes labiler Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Im Juli 1768 erlitt er einen Blutsturz und eine Lungenaffektion. Der durch die Pflege Leipziger Freunde, zumal Friederikes, der Tochter Oesers, gesundheitlich halbwegs wiederhergestellte Goethe verließ an seinem neunzehnten Geburtstag Leipzig und kehrte nach Hause zurück.

 

Wieder in Frankfurt: Krankheit und religiös-philosophische Spekulationen

Die in Leipzig ausgebrochene Krankheit sollte Goethe aber noch lange nicht verlassen und brachte ihn im Dezember 1768 an den Rand des Todes. Die lange Phase der Rekonvaleszenz im folgenden Jahr machte ihn wohl zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben zum homo religiosus, empfänglich für die Vorstellungswelt des Pietismus, die ihm eine Verwandte und Freundin der Familie: Susanna Katharina von Klettenberg nahebrachte. Die von Kindheit an schwer leidende Frau gehörte der Herrnhuter Brüdergemeinde an und unterhielt in Frankfurt einen pietistischen Zirkel, dem auch Goethes Mutter angehörte. Im September 1769 besuchte Goethe gar mit einem befreundeten Pietisten die Synode der Herrnhuter Brüdergemeinde Marienborn in der Wetterau.

 

»Das Frankfurter Arbeitszimmer«Fräulein von Klettenberg ist das Urbild der „schönen Seele“, deren „Bekenntnisse“ später das sechste Buch des Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre bilden werden und für die Goethe sich auf Briefe, Gespräche und Erinnerungen an die befreundete „Gottesverehrerin“ stützte. Unter ihrem in seiner Rekonvaleszentenzeit durchaus wohltätigen Einfluß vertiefte Goethe sich in eine Reihe pansophisch-alchemistischer Schriften wie die Werke des Paracelsus oder Georg von Wellings Opus mago-cabbalisticum et theosophicum (1735) sowie Gottfried Arnolds Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/70). Diese Lektüre sollte später im Faust reiche Früchte tragen.

 

Neue Lieder und ein erstes Lustspiel

Merkwürdig unabhängig von dieser Welt religiös-philosophischer Spekulationen, die sich in einer Ephemerides genannten Sammlung von Exzerpten, Zitaten und Gedankensplittern niederschlugen, sind die Dichtungen, die während der langsamen Genesung entstanden. Sie knüpfen unberührt von den neuen mystischen Erfahrungen an die poetischen Versuche der Leipziger Zeit an: so die Neuen Lieder in Melodien gesetzt von Bernhard Theodor Breitkopf, die als erste gedruckte Gedichtsammlung Goethes zur Michaelismesse 1769 erschienen. Darunter befindet sich als schönstes das erste der Mondgedichte Goethes: An den Mond, das er später zur Unterscheidung seines berühmten Weimarer Gedichts („Füllest wieder Busch und Tal“) An Luna genannt hat. Und wirklich erscheint der Mond hier noch antik-mythologisch drapiert als „Luna“ und in ganz konventionellem Sinne als „Schwester von dem ersten Licht“, „soeur aimable du soleil“, wie die französischen Anakreontiker dichteten. Doch ist der Mond in der ersten Strophe auch schon der melancholische Stimmungsträger der empfindsamen Lyrik der Zeit, der unentbehrliche Gefährte der zärtlich-schwermütigen Seele. Dieses empfindsame Motiv schlägt in der zweiten Strophe in den rokokohaft-schlüpfrigen Einfall um, an der Seite des Mondes ins Schlafgemach der Geliebten blicken zu können. Goethe hat später (1815) die in der ersten Strophe angeschlagene Tonart gegenüber der witzigen Pointe zu retten versucht, indem er in einer neuen dritten Strophe das ganze Motiv durch die Beziehung auf Selene (Luna) und Endymion, den Geliebten der Mondgöttin, mythisch überhöhte.

Auf die Leipziger Zeit weist auch Goethes erstes Lustspiel Die Mitschuldigen zurück, das er zunächst als einaktige Farce anlegte und dann zu einer dreiaktigen Komödie erweiterte. Ihr liegt das Motiv des fast schon gehörnten, zu guter Letzt aber doch in seiner Gattenehre unverletzten Ehemanns zugrunde, wie es bereits in Molières Sganarelle ou le Cocu imaginaire (Sganarell oder Der vermeintlich Betrogene) von 1660 vorgebildet ist. Mit den Mitschuldigen knüpft Goethe in der einaktigen Urfassung noch ganz an die in Italien und Frankreich verbreitete Typenkomödie an, in der die Situationskomik eine stringente Personen- und Handlungsführung ersetzt. In der Zweitfassung wagt Goethe jedoch einen zaghaften Schritt von der Intrigen- zur Charakterkomödie, untermauert die autonome Situationskomik durch eine psychologische Motivierung, welche in der dritten Fassung von 1783 - leider auf Kosten der lapidaren Theaterwirkung der Erstfassung - noch weiter ausgefeilt wird. Daß es so viel später überhaupt zu dieser dritten Fassung kam, zeigt, wie sehr Goethe am ersten Produkt seiner komischen Muse, das er seinerzeit bei keinem Verleger unterbringen konnte, gehangen hat – sehr im Unterschied zu anderen poetischen Versuchen der Frankfurter Genesungszeit, die er in einem zweiten Autodafé vernichtete, bevor er sich entschloß, sein Studium der Rechte in Straßburg fortzusetzen.

Zeitereignisse

1766: Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie.
Tod Johann Christoph Gottsched.
1768: Der erste Band der Encyclopaedia Britannica erscheint.

Leipzig

Die Promenade in Leipzig. Kolorierter Stich von Johann August Rosmäsler, 1777. Quelle: Odyssetheater, URL: www.odysseetheater.com/ goethe/goethe_05.htm

Am Schnittpunkt der wichtigsten europäischen Handelsstraßen gelegen, veranstaltete die Stadt jährlich drei Messen und eroberte sich eine Spitzenstellung im modernen Druckerei- und Verlagswesen. In der Universitätsstadt Leipzig bildete sich eine zukunftsträchtige Allianz von Besitz- und Bildungsbürgertum, hinter der Frankfurt weit zurückstand. Bezeichnend, daß Leipzig Goethes Vaterstadt als Zentrum des deutschen Buchhandels längst den Rang abgelaufen hatte. Die in ganz Europa hochrenommierte Universität war seit Anfang des Jahrhunderts ein Zentrum der Aufklärungsbewegung. Hier hatte der Leibniz-Schüler Christian Wolff, der wichtigste Repräsentant der Aufklärungsphilosophie in Deutschland, gelehrt, dort wirkte noch während Goethes Studium der von Lessing befehdete rationalistische Regelpoetiker und Literaturpapst Johann Christoph Gottsched, der sich freilich zu dieser Zeit längst selbst überlebt hatte, wie Goethe in Dichtung und Wahrheit ergötzlich dokumentiert.

Christian Fürchtegott Gellert

 

Gemälde von Anton Graff,
nach 1769,  Berlin, Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie.

Titelblatt von Winckelmanns »Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Malerey und Bildhauer-Kunst« (1755)

»Laokoon-Gruppe«

Typisch späthellenistische Skulptur erschaffen von den rhodischen Bildhauern Hagesandros, Athanodoros und Polydoros auf der Grundlage von Vergils (70-19 v. Chr.) Aeneis. Sie zeigt den trojanischen Apollon-Priester und seine Söhne im Kampf mit den Seeschlangen.

Dieses bildhauerische Werk wird durch eine intermediäre
Wechselbeziehung Gegenstand eines weithin einflußreichen theoretischen Aufsatzes: Gotthold Ephraim Lessings »Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie« (1766). Der so genannte Laokoon-Streit wurde zum Ausgangspunkt einer ästhetischen, kunst- und dichtungstheoretischen
Fragestellung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wie beispielsweise in Goethes »Über den Laokoon« (1798) und Heines »Reisebilder« (1826). Vatikanische Museen.

Anna Katharina Schönkopf
(1746-1810)

Die erste große Liebe des sechzehnjährigen Goethe
Undatierter Stahlstich von A. Hüssener nach einer zeitgenössischen Miniatur.

Der junge Goethe

J. Nosek

Gemälde von Wilhelm von Kaulbach

 

 

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