goethe


Jutta Assel | Georg Jäger

Märchenmotive auf Postkarten
Eine Dokumentation

Rotkäppchen

Erstellt: Februar 2011
Stand: Juni 2015
Optimiert für Firefox

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Gliederung

1. Brüder Grimm: Rotkäppchen. Mit Motivpostkarten
2. Ludwig Bechstein: Das Rotkäppchen. Mit Holzschnitten nach Ludwig Richter
3. Alexander von Ungern-Sternberg: Rotkäppchen. "Frivol-witziges" Märchen mit Auszügen aus dem Vorwort
4. Joachim Ringelnatz: Kuttel Daddeldu erzählt seinen Kindern das Märchen vom Rotkäppchen und zeichnet ihnen sogar was dazu
5. Rechtlicher Hinweis und Kontaktanschrift

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1. Brüder Grimm: Rotkäppchen
Mit Motivpostkarten

Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Sammet, und weil ihm das so wohl stand und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen. 

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[Ohne Titel] Im Bild rechts unten: RS. Beschriftet, aber nicht gelaufen.

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Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm: "Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiss nicht, guten Morgen zu sagen, und guck nicht erst in alle Ecken herum."

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Oben links: Rotkäppchen. Im Bild signiert: R. Borrmeister 1919. Verso: Verlag Hermann Wolff Berlin 59 Boppstr. No. T. 3116. Gelaufen. Datiert u. Poststempel 1922. - R. Borrmeister: nicht ermittelt
Oben rechts: Rothkäppchen. D. H. C. No. 350. Gelaufen. Poststempel 1899. Adressseite ungeteilt.
Unten: [Ohne Titel] Im Bild signiert: Felix Ehrlich. Verso: "Erpaco" Kunstverlag, Hamburg. Nr. 607 b. Felix Ehrlich. "Rotkäppchen". Facsimile Ölgemälde. Marke "Schlangenkönigin". Signet: S in Strahlen, Umschrift: Marke Schlangenkönigin. Gelaufen. Poststempel unleserlich. - Felix Ehrlich: Bildnis- und Genremaler, * 1. 9. 1866 Berlin, † 28. 3. 1931 ebda. Schüler von Carl Steffeck an der Akademie in Königsberg. Seit 1888 Meisterschüler desselben. Machte sich 1896 in Berlin ansässig, seitdem hauptsächlich Porträtist (Kaiser Wilhelm II. u. Gemahlin, Kronprinzenpaar, viele hohe Beamte und Offiziere). (Vollmer)

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Rotkäppchen. Links unten: W. u. H., N. Verso: Signet L&G D. Gelaufen. Datiert u. Poststempel 1902. Adressseite ungeteilt. Prägedruck.

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"Ich will schon alles gut machen", sagte Rotkäppchen zur Mutter und gab ihr die Hand darauf. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. "Guten Tag, Rotkäppchen", sprach er. "Schönen Dank, Wolf." "Wo hinaus so früh, Rotkäppchen?" "Zur Großmutter." "Was trägst du unter der Schürze?« "Kuchen und Wein: gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke und schwache Großmutter etwas zugut tun und sich damit stärken." "Rotkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?" "Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nusshecken, das wirst du ja wissen", sagte Rotkäppchen. Der Wolf dachte bei sich: "Das junge zarte Ding, das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte: du musst es listig anfangen, damit du beide erschnappst."

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Oben links: Rothkäppchen. Gelaufen. Poststempel unleserlich. Adressseite ungeteilt. - Anderes Exemplar datiert 1899.
Oben rechts: Rothkäppchen. H. Dibbern & Schneller, Nürnberg. Datiert u. Poststempel 9.9.99. Gelaufen. Adressseite ungeteilt.
Unten links: Rotkäppchen. Kunstanstalt Wilhelm ? Berlin ? Gelaufen. Poststempel 1899. Adressseite ungeteilt.
Unten rechts: [Ohne Titel] Verso: Märchen Nr. 311. Rotkäppchen. Signet: C M & S im Kreis [C. C. Meinhold & Söhne, Dresden]. Nicht gelaufen.

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Da ging er ein Weilchen neben Rotkäppchen her, dann sprach er: "Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig haußen in dem Wald."

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Links: [Ohne Titel] Rückseite mit Zierrand. Rotkäppchen. A. Hansa. Amag Kunst. Nr. 126. Gelaufen. Poststempel unleserlich. - Amag = Albrecht & Meister, Aktiengesellschaft Berlin-Reinickendorf. - A. Hansa: nicht ermittelt.
Rechts: [Ohne Titel] Ins Bild geschrieben. Verso: C. Branden, Rotkäppchen. Signet: WSSB [Wilhelm S. Schröder Nachf., Berlin]. Meistergalerie Nr. 6162. Gelaufen. Poststempel unleserlich. - C. Branden: nicht ermittelt.

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Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, dachte es: "Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen; es ist so früh am Tag, dass ich doch zu rechter Zeit ankomme", lief vom Wege ab in den Wald hinein und suchte Blumen. Und wenn es eine gebrochen hatte, meinte es, weiter hinaus stände eine schönere, und lief darnach, und geriet immer tiefer in den Wald hinein.

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Oben: [Ohne Titel] Im Bild signiert, unleserlich. Verso: W. de Haan, Utrecht - Serie 117 - 6 dessins. Chromotypie Morks en Geuze, Dordrecht. Gelaufen. Poststempel 1910.
Mitte: [Ohne Titel] Im Bild links unten: RS. Nicht gelaufen.
Unten: [Ohne Titel, handgemalt] Gelaufen. Datiert u. Poststempel 1930.

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Der Wolf aber ging geradeswegs nach dem Haus der Großmutter und klopfte an die Türe. "Wer ist draußen?" "Rotkäppchen, das bringt Kuchen und Wein, mach auf." "Drück nur auf die Klinke", rief
die Großmutter, "ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen." Der Wolf drückte auf die Klinke, die Türe sprang auf, und er ging, ohne ein Wort zu sprechen, gerade zum Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann tat er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge vor.

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Prof. Dr. Seeger. Rotkäppchen. Verso: "Deutsche Meister-Sammlung". Wohlgemuth & Lissner, Kunstverlagsgesellschaft m.b.H., Berlin. Ges. gesch. No. 3032. Nach einem Original von Prof. Dr. Seeger. Primus-Postkarte. Nur echt mit dieser Schutzmarke [Adler vor Sonne, Palette mit W]. Nicht gelaufen. - Hermann Seeger, geb. 1857 in Halberstadt, Todesdatum unbekannt, "Genremaler und Graphiker, lebte in Berlin, wo er Kustos der Akademie war" (Ries).

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Rotkäppchen aber war nach den Blumen herumgelaufen, und als es so viel zusammen hatte, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich, dass die Türe auf stand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, dass es dachte: "Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir 's heute zumut, und bin sonst so gerne bei der Großmutter!" Es rief "Guten Morgen", bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück: da lag die Großmutter und hatte die Haube rief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus. "Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!" "Dass ich dich besser hören kann."  "Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!" "Dass Ich dich besser sehen kann." "Ei, Großmutter, was hast du für große Hände!" "Dass Ich dich besser packen kann." "Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!" "Dass ich dich besser fressen kann." Kaum hatte der Wolf das gesagt, so tat er einen Satz aus dem Bette und verschlang das arme Rotkäppchen.

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[Ohne Titel] Verso: Rotkäppchen. Aus Thienemanns Grimm-Märchenbuch. Ill. v. Paul Hey. Signet: M (?) im Sechseck. Nr. 21/121 5. Beschrieben, datiert 1918. Nicht gelaufen. - Carolin Raffelsbauer: Paul Hey - der Maler heiler Welten. Bd. 2. München: Herbert Utz 2007, A3a-020.JPG - Zu Paul Hey siehe die Seite:
http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=6405

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Wie der Wolf sein Gelüsten gestillt hatte, legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und fing an, überlaut zu schnarchen. Der Jäger ging eben an dem Haus vorbei und dachte: "Wie die alte Frau schnarcht, du musst doch sehen, ob ihr etwas fehlt." Da trat er in die Stube, und wie er vor das Bette kam, so sah er, dass der Wolf darin lag. "Finde ich dich hier, du alter Sünder", sagte er, "ich habe dich lange gesucht." Nun wollte er seine Büchse anlegen, da fiel ihm ein, der Wolf könnte die Großmutter gefressen haben und sie wäre noch zu retten: schoss nicht, sondern nahm eine Schere und fing an, dem schlafenden Wolf den Bauch aufzuschneiden. Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er das rote Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rief: "Ach, wie war ich erschrocken, wie war 's so dunkel in dem Wolf seinem Leib!« Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum atmen. Rotkäppchen aber holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, dass er gleich niedersank und sich totfiel.

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Oben: Aus "Rotkäppchen". (Scholz' Künstler-Bilderbücher) Verlag von Jos. Scholz, Mainz. Nicht gelaufen. Verso folgende Werbeanzeige:

Grimms Märchen für 1 Mark. (Scholz' Künstler-Bilderbücher) Ein kostbarer Bilder- und Märchenschatz für die deutsche Jugend. Namhafte Meister der Zeichnung und Farbe: Prof. [Julius] Diez, Prof. A[dolf] Münzer, Arpad Schmidhammer, Rich[ard] Scholz, F[ranz Jüttner, F[ritz] Kunz, Prof. E[rnst] Liebermann, Hans Schroedter, Eugen Oßwald, Franz Stassen u.a. haben hier ihr Bestes geboten. Folgende 14 Bände liegen vor:

1. Dornröschen, 2. Marienkind,
3. Aschenputtel, 4. Rotkäppchen,
5. Hänsel und Gretel,
6. Sneewittchen, 7. Frau Holle,
8. Froschkönig, 9. Hans im Glück,
10. Der Wolf und die 7 Geißlein,
11. Brüderchen u. Schwesterchen,
12. Schneeweißchen u. Rosenrot,
13. Die sieben Raben,
14. Der gestiefelte Kater.

Jedes dieser 14 Bücher enthält 8 große farbige Vollbilder im Format 22 x 29 cm und zahlreiche Textillustrationen zum Preise von nur 1 Mark. "Diese Märchenbücher gehören z. Besten, was wir an Bilderbuchkunst besitzen." (Deutsche Schulztg.) Jedem Kinde wird damit wahre Freude bereitet. In allen guten Buchhandlungen vorrätig, wo nicht erhältlich, wende man sich an die Verlagsanstalt Jos. Scholz in Mainz.

Unten: [Ohne Titel] Im Bild monogrammiert: H. Sch. Verso: Uit Grimm's Sprookjes door Nora Schnitzler. Gelaufen. Poststempel 1948.

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Da waren alle drei vergnügt; der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder, Rotkäppchen aber dachte: "Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vorn Wege ab in den Wald laufen, wenn dir 's die Mutter verboten hat."

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Es wird auch erzählt, dass einmal, als Rotkäppchen der alten Großmutter wieder Gebackenes brachte, ein anderer Wolf ihm zugesprochen und es vom Wege habe ableiten wollen, Rotkappehen aber hütete sich und ging gerade fort seines Wegs und sagte der Großmutter, dass es dem Wolf begegnet wäre, der ihm guten Tag gewünscht, aber so bös aus den Augen geguckt hätte: "Wenn's nicht auf offner Straße gewesen wäre, er hätte mich gefressen." "Komm", sagte die Großmutter, "wir
wollen die Türe verschließen, dass er nicht herein kann.«

Bald darnach klopfte der Wolf an und rief: "Mach auf, Großmutter, ich bin das Rotkäppchen, ich bring dir Gebackenes." Sie schwiegen aber still und machten die Türe nicht auf: da schlich der Graukopf etlichemal um das Haus, sprang endlich aufs Dach und wollte warten, bis Rotkäppchen abends nach Haus ginge, dann wollte er ihm nachschleichen und wollt's in der Dunkelheit fressen. Aber die Großmutter merkte, was er im Sinn hatte. Nun stand vor dem Haus ein großer Steintrog, da sprach sie zu dem Kind: "Nimm den Eimer, Rotkäppchen, gestern hab ich Würste gekocht, da trag das Wasser, worin sie gekocht sind, in den Trog." Rotkäppchen trug so lange, bis der große, große Trog ganz voll war. Da stieg der Geruch von den Würsten dem Wolf in die Nase, er schnupperte und guckte hinab, endlich machte er den Hals so lang, dass er sich nicht mehr halten konnte und anfing zu rutschen: so rutschte er vom Dach herab, gerade in den großen Trog hinein, und ertrank. Rotkäppchen aber ging fröhlich nach Haus, und tat ihm niemand etwas zuleid.

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Dazu Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den originalen Anmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. von Heinz Rölleke (Universal-Bibliothek; 3191-3193). 3 Bde. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1980.

Der Text der Erstausgabe und folgender Auflagen bis zur Ausgabe letzter Hand in Wikisource, URL:
http://de.wikisource.org/wiki/Rotkäppchen

Zur Geschichte des Märchens vgl. den Artikel "Rotkäppchen" in Wikipedia, URL:
http://de.wikipedia.org/wiki/Rotkäppchen

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Links: Rotkäppchen. Rotkäppchen wandert durch den Wald / Großmutter zu besuchen. / Bringt schöne Gaben mannigfalt: / Wein, Blumen, Wurst und Kuchen. Signet: KVB [Kleiner Verlag Berlin] 2076/1. Gelaufen. Poststempel 1920. Fotopostkarte.
Rechts: Rotkäppchen. Rotkäppchen ging in den grünen Wald / Zum Großmütterchen, das schon recht alt. B 216/1. Gelaufen. Datiert 1915. Poststempel unleserlich.

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Links: Rotkäppchen. Verso: 364 II. Gelaufen. Poststempel 1904. Adressseite ungeteilt. Fototypie mit gezeichnetem Wolf und gemalter Landschaft. Text:

Kaum ging Rotkäppchen in den Wald hinein,
Stellte sich freundlich der Wolf auch ein
Und Rotkäppchen plauderte heiter aus:
"Ich gehe zur kranken Grossmutter hinaus."
"Krank ist sie," fragt er, "da helfe ich bald,
Und zeige dir heilsame Kräuter im Wald."

Rechts: Rotkäppchen. Verso: 364 III. Gelaufen. Poststempel 1904. Adressseite ungeteilt. Fototypie mit gezeichnetem Wolf und gemalter Landschaft. Text:

Der Wolf führte Rotkäppchen artig und fein
Nach Kräutern, tief in den Wald hinein,
Fragt dann listig schön Rotkäppchen aus
Wo steht denn Grossmutters kleines Haus? -
Nachdem sie ihm alles, nichts ahnend verriet,
Kriegt der Wolf auf die arme Kranke Appetit.

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[Ohne Titel] Verso: Oberhaus-Passau. Rotkäppchen im Aussichtsturm. 9583 J. K. August Zerle, München, Viktoriastr. 1. Nachdruck verboten. Stempel: Aussichtsturm Oberhaus. Nicht gelaufen. Kolorierte Fototypie.

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Links: [Ohne Titel] Signet: PG im Kreis, im Viereck [Photographische Gesellschaft Wien]1553/54. Gelaufen. Poststempel unleserlich. Kolorierte Fotografie.
Rechts: Grossmama, Du schaust komisch aus. Kaum trau ich mich zu Dir ins Haus. 831/5. Gelaufen. Poststempel unleserlich. Kolorierte Fotografie.

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[Ohne Titel] Signet: NPG im Kreis [Neue Photographische Gesellschaft, Berlin-Steglitz] ?01/8. Gelaufen. Poststempel unleserlich. Fotomontage. Text:

Und endlich öffnet sich das Haus,
Da packt das Mädchen banger Graus;
So sieht doch nimmer die Großmutter aus!
Doch tapfer hat sie die Angst gebannt,
Wie Euch allen längst bekannt.
Der Wolf liegt unter dem großen Stein.
Der Jäger grub da den Bösewicht ein!

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Rotkäppchen. Signet: BNK im Dreieck [Berlin-Neuroder Kunstanstalten, Aktiengesellschaft Berlin] 32957/7. Verso, rechts unten: 2669. Gelaufen. Poststempel unleserlich. Fotografie. Text: Der Jäger nahm den Pelz vom Wolf ab. Rotkäppchen aber dachte, Du willst Dein Lebtag nicht wieder vom Weg' ab in den Wald laufen, wenn dir's die Mutter verboten hat.

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[Ohne Titel] Verso: Wohlfahrtspostkarte zum Besten des Alice-Frauen-Vereins für Krankenpflege im Grossherzogtum Hessen. Rotkäppchen. Verband Deutscher Papier- u. Schreibwarenhändler Nr. 13. Ortsgruppe Darmstadt. Nicht gelaufen. Fototypie.

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2. Ludwig Bechstein: Das Rotkäppchen
Mit Holzschnitten nach Ludwig Richter

Es war einmal ein gar allerliebstes, niedliches Ding von einem Mädchen, das hatte eine Mutter und eine Großmutter, die waren gar gut und hatten das kleine Ding so lieb. Die Großmutter absonderlich, die wusste gar nicht, wie gut sie's mit dem Enkelchen meinen sollte, schenkt' ihm immer dies und das und hatte ihm auch ein feines Käppchen von rotem Sammet geschenkt, das stand dem Kind so überaus hübsch, und das wusste auch das kleine Mädchen und wollte nichts andres mehr tragen, und darum hieß es bei alt und jung nur das Rotkäppchen. 

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Ludwig Richter: Rotkäppchen
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Mutter und Großmutter wohnten aber nicht beisammen in einem Häuschen, sondern eine halbe Stunde voneinander, und zwischen den beiden Häusern lag ein Wald. Da sprach eines Morgens die Mutter zum Rotkäppchen: "Liebes Rotkäppchen, Großmutter ist schwach und krank geworden, und kann nicht zu uns kommen. Ich habe Kuchen gebacken, geh und bringe Großmutter von dem Kuchen und auch eine Flasche Wein, und grüße sie recht schön von mir, und sei recht vorsichtig, dass du
nicht fällst, und etwa die Flasche zerbrichst, sonst hätte die kranke Großmutter nichts. Laufe nicht im Walde herum, bleibe hübsch auf dem Wege, und bleibe auch nicht zu lange aus."

"Das will ich alles so machen wie du befiehlst, liebe Mutter", antwortete Rotkäppchen, band ihr Schürzchen um, nahm einen leichten Korb, in den es die Flasche und den Kuchen von der Mutter legen ließ, und ging fröhlichen Schrittes in den Wald hinein. Wie es so völlig arglos dahin wandelte, kam ein Wolf daher. Das gute Kind kannte noch keine Wölfe und hatte keine Furcht. Als der Wolf näher kam, sagte er: "Guten Tag Rotkäppchen!" "Schönen Dank, Herr Graubart!" "Wo soll es denn hingehen so in aller Frühe, mein liebes Rotkäppchen?" fragte der Wolf. "Zur alten Großmutter, die nicht wohl ist!" antwortete Rotkäppchen. "Was willst du denn dort machen? du willst ihr wohl was bringen?" "Ei freilich, wir haben Kuchen gebacken, und Mutter hat mir auch Wein mitgegeben, den soll sie trinken, damit sie wieder stark wird."

"Sage mir doch noch, mein liebes scharmantes Rotkäppchen, wo wohnt denn deine Großmutter? Ich möchte wohl einmal, wenn ich an ihrem Hause vorbeikomme, ihr meine Hochachtung an den Tag legen", fragte der Wolf.

"Ei gar nicht weit von hier, ein Viertelstündchen, da steht ja das Häuschen gleich am Walde, Ihr müsst ja daran vorbeigekommen sein. Es stehen Eichenbäume dahinter, und im Gartenzaun wachsen Haselnüsse!" plauderte das Rotkäppchen.

O du allerliebstes, appetitliches Haselnüsschen du - dachte bei sich der falsche böse Wolf. Dich muss ich knacken, das ist einmal ein süßer Kern. - Und tat als wolle er Rotkäppchen noch ein Stückchen begleiten, und sagte zu ihm: "Sieh nur, wie da drüben und dort drüben so schöne Blumen stehen, und horch nur, wie allerliebst die Vögel singen! Ja es ist sehr schön im Walde, sehr schön, und wachsen so gute Kräuter hierinne, Heilkräuter, mein liebes Rotkäppchen."

"Ihr seid gewiss ein Doktor, werter grauer Herr?" fragte Rotkäppchen, "weil Ihr die Heilkräuter kennt. Da könntet Ihr mir ja auch ein Heilkraut für meine kranke Großmutter zeigen!"

»Du bist ein ebenso gutes als kluges Kind!" lobte der Wolf. "Ei freilich bin ich ein Doktor und kenne alle Kräuter, siehst du! hier steht gleich eins, der Wolfsbast, dort im Schatten wachsen die Wolfsbeeren, und hier am sonnigen Rain blüht die Wolfsmilch, dort drüben findet man die Wolfswurz."

"Heißen denn alle Kräuter nach dem Wolf?" fragte Rotkäppchen.

"Die besten, nur die besten, mein liebes, frommes Kind!" sprach der Wolf mit rechtem Hohn. Denn alle die er genannt, waren Giftkräuter. Rotkäppchen aber wollte in ihrer Unschuld der Großmutter solche Kräuter als Heilkräuter pflücken und mitbringen, und der Wolf sagte:

"Lebewohl, mein gutes Rotkäppchen, Ich habe mich gefreut, deine Bekanntschaft zu machen; ich habe Eile, muss eine alte schwache Kranke besuchen!"

Und damit eilte der Wolf von dannen, und spornstreichs nach dem Hause der Großmutter, während das Rotkäppchen sich schöne Waldblumen zum Strauße pflückte und die vermeintlichen Heilkräuter sammelte.

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Ludwig Richter: Rotkäppchen
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Als der Wolf an das Häuschen der Großmutter des Rotkäppchens kam, fand er es verschlossen, und klopfte an. Die Alte konnte nicht mehr vom Bette aufstehen und nachsehen, wer da sei, und rief: "Wer ist draußen?"

"Das Rotkäppchen!" rief der Wolf mit verstellter Stimme. "Die Mutter schickt der guten Großmutter
Wein und auch Kuchen! Wir haben gebacken!"

"Greif unten durch das Loch in der Türe, da liegt der Schlüssel!" rief die Alte, und der Wolf tat also, öffnete die Türe, trat in das Häuschen, in das Stübchen, und verschlang die Großmutter ohne weiteres - zog ihre Kleider an, legte sich in ihr Bett, und zog die Decke über sich her, und die Bettvorhänge zu. Nach einer Weile kam das Rotkäppchen; es war sehr verwundert, alles so offen zu finden, da doch sonst die Großmutter sich selbst gern unter Schloss und Riegel hielt, und wurd ihm schier bänglich um das junge Herzchen.

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Ludwig Richter: Rotkäppchen
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Wie das Rotkäppchen nun an das Bett trat, da lag die alte Großmutter, hatte eine große Schlafhaube auf, und war nur wenig von ihr zu sehen, und das wenige sah gar schrecklich aus. "Ach Großmutter, was hast du so große Ohren?" rief das Rotkäppchen. "Dass ich dich damit gut hören kann!" war die Antwort. "Ach Großmutter! Was hast du für große Augen!" "Dass ich dich damit gut sehen kann!" "Ei Großmutter, was hast du für haarige große Hände!" "Dass Ich dich damit gut fassen und halten kann!" "Ach Großmutter, was hast du für ein so großes Maul und so lange Zähne!" "Dass ich dich damit gut fressen kann!" Und damit fuhr der ganze Wolf grimmig aus dem Bette heraus, und fraß das arme Rotkäppchen. Weg war's.

Jetzt war der Wolf sehr satt, und es gefiel ihm sehr im Stübchen der Alten und in dem weichen Bett, und legte sich wieder hin und schlief ein und schnarchte dass es klang, als schnarre ein Räderwerk in einer Mühle.

Zufällig kam ein Jäger vorbei, der hörte das seltsame Geräusch, und dachte: Ei, ei, die arme alte Frau da drinnen hat einen bösen Schnarcher am Leib, sie röchelt wohl gar und liegt im Sterben! Du musst hinein, und nachsehen, was mit ihr ist.

Gedacht, getan; der Jäger ging in das Häuschen, da fand er den Herrn Isegrimm im Bette der Alten liegen, und die Alte war nirgends zu erblicken. "Bist du da?" sprach der Jäger, und riss die Kugelbüchse von der Schulter. "Komm du her, du bist mir oft genug entlaufen! - Schon legte er an - da fiel ihm ein: halt - die Alte ist nicht da, am Ende hat der Unhold sie mit Haut und Haar verschlungen, war ohnedies nur ein kleines dürres Weiblein. Und da schoss der Jäger nicht, sondern er zog seinen scharfen Hirschfänger und schlitzte ganz sanft dem fest schlafenden Wolf den Bauch auf, da guckte ein rotes Käppchen heraus, und unter dem Käppchen war ein Köpfchen, und da kam das niedliche allerliebste Rotkäppchen heraus, und sagte: "Guten Morgen! Ach was war das für ein dunkles Kämmerchen da drinnen!" - Und hinter dem Rotkäppchen zappelte die alte Großmutter, die war auch noch lebendig, vielen Platz hatten sie aber nicht gehabt im Wolfsbauch. - Der Wolf schlief noch immer steinfest, und da nahmen sie Steine, gerade wie die alte Geiß im Märchen von den sieben Geißlein, füllten sie dem Wolf in den Bauch und nähten den Ranzen zu, hernach versteckten sie sich, und der Jäger trat hinter einen Baum, zu sehen, was der Wolf endlich anfangen werde.

Jetzt wachte der Wolf auf, machte sich aus dem Bett heraus, aus dem Stübchen, aus dem Häuschen, und humpelte zum Brunnen, denn er hatte großen Durst. Unterwegs sagte er: "Ich weiß gar nicht, ich weiß gar nicht, in meinem Bauch wackelt's hin und her, hin und her, wie Wackelstein - sollte das die Großmutter und Rotkäppchen sein?" - Und wie er an den Brunnen kam und trinken wollte, da zogen ihn die Steine und er bekam das Übergewicht und fiel hinein und ertrank.

So sparte der Jäger seine Kugel; er zog den Wolf aus dem Brunnen und zog ihm den Pelz ab, und alle drei, der Jäger, die Großmutter und das Rotkäppchen, tranken den Wein, und aßen den Kuchen, und waren seelenvergnügt, und die Großmutter wurde wieder frisch und gesund, und Rotkäppchen ging mit ihrem leeren Körbchen nach Hause, und dachte: du willst niemals wieder vom Wege ab und in den Wald gehen, wenn es dir die Mutter verboten hat.

Ludwig Bechstein: Deutsches Märchenbuch. Mit den Stahlstichen von Carl Wilhelm Schurig und Andreas Wolfgang Brennhäuser und ausgewählten Holzschnitten nach Originalzeichnungen von Ludwig Richter. Hrsg. von Hans-Heino Ewers. Mit einem Beitrag zu den Illustrationen von Hans Ries (Universal-Bibliothek; 9483) Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1996.>

Bildquelle: Ludwig Richter-Hausbuch. Hrsg. von F. A. Fahlen. Leipzig: Georg Wigand o.J., S. 117-119.

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J. C. Demerville: Le Petit Chaperon Rouge. In: Les Contes des Fées, par Charles Perrault. Illustrés par J. C. Demerville. Paris: Librairie Pittoresque de la Jeunesse 1847 (Digitalisierung durch Google).

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3. Alexander von Ungern-Sternberg: Rotkäppchen
"Frivol-witziges" Märchen
Mit Auszügen aus dem Vorwort

In einem Dorfe lebte ein sehr hübsches, junges Landmädchen, das seinen Eltern im Haushalt behilflich war. Eines Tages sagte die Mutter zu dem Mädchen: "Liebes Kind, geh hinaus in den Wald und bring der Großmutter einen Pflaumenkuchen. Die alte Frau isst so gern dergleichen. Aber halt' dich nicht auf und sei bald wieder da, du weißt, wir haben des Vaters feine Wäsche zu plätten, er will heut zum Pfarrer gehn, um über deine noch bevorstehende Verlobung mit dem jungen Förstergehilfen zu sprechen." Das junge Mädchen wurde rot, als es diese Worte hörte, allein, gehorsam ihrer Mutter, sagte sie nichts, sondern glättete ihr Haar, flocht sich zierliche Zöpfe und setzte dann ein kleines scharlachrotes Mützchen auf, das sie zu ihrem letztvergangenen fünfzehnten Geburtstag erhalten hatte, und das ihr allerliebst kleidete. So ging sie denn in den Wald, am Arme ein Körbchen, in welchem der Pflaumenkuchen, sauber in eine Serviette gehüllt, ruhte. Man konnte nichts Anmutigeres sehen als dieses hübsche, junge Kind, wie sie in der Morgenfrische daherging und mit den Vögeln um die Wette ihr Liedchen sang.
     Je näher sie dem Walde kam, desto schweigsamer wurde sie. Die hohen Fichtenbäume und die weitzweigigen Eichen und Ahorn verbreiteten einen dunkeln Schatten und ließen ein geheimnisvolles Rauschen vernehmen. Am Eingang des Waldes setzte sie sich auf einen Stein und ruhte aus.
     Nun wohnte in diesem Walde ein mächtiger Zauberer, der den jungen Mädchen nachstellte, sich manchmal in einen Wolf oder gar in einen Bären verwandelte, um den armen Kindern Schrecken einzuflößen. Aber dies geschah nur den hässlichen Mädchen, den hübschen erschien er in sehr freundlichen Gestalten, beschenkte sie und gab ihnen sonst noch Zeichen seiner besonderen Gunst. Als Rotkäppchen in den Wald kam, erfuhr es der Zauberer sehr bald, und nun kam er ihr entgegen als ein junger, liebenswürdiger Kavalier, der wunderschöne schwarze, funkelnde Augen hatte und einen Schnurrbart, den man sich nicht zierlicher denken kann; dabei kleine, feine, weiße Hände und hübsche Füße.
     "Ah, guten Morgen, mein schönes Kind!" rief er dem Mädchen entgegen, das von ihrem Sitze aufsprang und ihm eine tiefe Verbeugung machte, wobei es blutrot im Gesicht wurde.
     "Bleib sitzen, mein Engel!" rief er. "Vielleicht hat der Stein sogar Platz für zwei."
     "Ich glaube nicht, gnädiger Herr, er hat kaum Platz für mich."
     "Lass uns den Versuch machen."
     "Es geht wahrlich nicht. Ich werde fallen."
     "Ei, mein Kind," sagte der Kavalier lächelnd, wobei er die schönsten Zähne zeigte, die man sehen kann, "und ich sollte den Vorwurf auf mich laden, dich zu Fall gebracht zu haben! Das sei ferne. So werde ich vor dir stehenbleiben."
     "Das würde sich nicht schicken, gnädiger Herr. Ich sitzend, während Sie stehen! Wir wollen lieber zusammen weiter gehn."
     "Gut. Und wo gehst du hin, Kleine?"
     "Mein Herr, zu meiner Großmama."
     "Grüße sie von mir."
     "Von Ihnen?"
     "Ja, von mir. Ist dir das so auffallend? Ich kenne die ehrwürdige alte Dame sehr gut. Ich habe ihr mein Gesangbuch geliehen, wie sie das letztemal in die Kirche ging."
     "Ach, mein Herr, das ist unmöglich. Die Großmutter geht nie aus. Sie ist schon seit drei Jahren gelähmt."
     "Nun, liebes Kind, sagte ich denn, sie ging? Ich hätte sagen sollen, sie fuhr; und zwar in meiner Equipage."
     "Ach, ist es möglich! Davon hat sie mir doch nichts erzählt. Aber wollen Sie nicht meinen Arm loslassen, gnädiger Herr, ich kann sonst nicht den Korb und unter dem andern Arm die Weinflasche tragen. Eines von beiden müsste fallen."
     "Ich werde dir die Weinflasche abnehmen."
     "Aber trinken Sie's nicht aus."
     "Nicht doch – ich habe selbst Wein im Keller."
     "Ich glaub's wohl. Wie konnte ich mir auch einbilden, dass Sie der alten Großmama den Wein austrinken würden. Das war eine einfältige Rede; Sie müssen mir verzeihn."
     "Recht gern, aber unter einer Bedingung."
     "Und die ist?"
     "Dass du mir einen Kuss gibst."
     "Ach, das würde sich schlecht schicken. Zudem bin ich verlobt, mein Herr, und darf außer meinem Vater keinen andern Mann küssen als meinen Bräutigam."
     "Aber den wirst du küssen?"
     "Gewiss, wenn er es verlangt. Aber, mein Herr, es ist unnötig, dass Sie mich um den Leib fassen; ich kann schon gehn, ohne gestützt zu werden."
     "Du bist eine allerliebste kleine Unschuld."
     "Still! Was machen Sie da! Das lieb' ich nicht."
     "Es hatte sich eine Fliege auf deinen Hals gesetzt."
     "Und Sie wollten sie mit dem Mund wegfangen? Ist das die Manier, wie man Fliegen fängt?"
     "Es ist meine Manier. Wie du hübsch rot geworden bist! Ich dachte, Landmädchen erröten nie. Ich will dir das Tuch etwas freier knüpfen."
     "Sie! lassen Sie die Flasche Wein nicht fallen!"
     "Nein! ich will sie auf den Boden setzen, während ich dein Tuch losknüpfe. Siehst du nun? merkst du, wie du jetzt freier atmest?"
     "Die Großmutter wird sagen, dass ich mich heut liederlich gekleidet habe."
     "Lass sie es sagen. Du bist nie schöner gewesen als grade so. Oh, da ist wieder eine Fliege."
     "Halt! Sie haben mich in die Schultern gebissen! Pfui, gnädiger Herr, das ist ein hässliches Betragen. Und überhaupt, ich bin Ihre gehorsame Dienerin; ich will jetzt meinen Weg wieder allein fortsetzen."
     "Wenn ich dir weh getan hab', so tut's mir in der Seele leid." (Er weint.)
     Rotkäppchen (den Korb hinsetzend, und den armen Herrn umarmend): "O mein Himmelchen – nein, weinen sollen Sie nicht! Wenn ich grob und böse gewesen bin – nehmen Sie's nicht übel."
     "Nein, nein, ich schäme mich! Lass mich an deinem Busen mein Gesicht verbergen." (Er sinkt ins Gras nieder und zieht sie nach.)
     "So, nun das ist was Schönes! Da sitzen wir im Grase."
     "Ist es nicht lieblich hier? Die Baumwipfel säuseln über uns! Es ist im Walde so still, so heimlich."
     "So grauserlich! Kommen Sie, wir wollen wieder weiter gehn. Auf, auf! Soll ich Ihnen helfen aufstehn."
     "Ich kann vor Rührung noch immer nicht in die Höh' sehn."
     "Ach, Sie liegen mir die ganze Brust platt."
     "Eine so runde Brust!"
     "Es ist genug. Die Großmutter wartet aus ihren Kuchen. Wie, mein Herr! auf meinem Knie ist keine Fliege. Sie sollten sich schämen, das Knie einer Bäuerin zu küssen."
     "Es ist das Knie einer Prinzessin."
     "Wir wollen aufstehn, mein Herr. Ich glaub', es gibt an dieser Stelle Ameisen."
     "Wie kämen die hieher?"
     "O sehr natürlich. Der böse Zauberer, der diesen Wald bewohnt, sendet sie aus."
     "Hast du diesen Zauberer schon einmal gesehn?"
     "Nein, gnädigster Herr; und ich hab' auch kein Verlangen, ihn zu sehn. Es soll ein großer, zottiger Riese sein, mit den Zähnen eines Ebers und den Klauen eines Bären."
     "Reizende Unschuld!"
     "Was sagten Sie?"
     "Nichts! Ich möchte an deiner Brust in Wonne vergehn. O welch ein Augenblick! Küsse mich – küsse mich! Meine Lippen lechzen sich mit den deinigen zu vereinen. Mich ergreift eine wahre Wut."
     "Ach, eine Ameise! eine Ameise!" (Sie springt auf und läuft fort.)
     Der Zauberer (ihr nachsehend): "Da eilt sie hin! wie ein junges Reh, so leichtfüßig. Ein entzückendes Geschöpf! Frisch wie die Knospe im Tau. Die darf ich mir nicht entgehen lassen. In der Hütte der alten Großmama wollen wir uns wiedertreffen, Kleine. Mir entläufst du nicht. In der unscheinbaren, tief im Walde versteckten Hütte! Wie anmutig dort! Aber was mit der Alten beginnen? Wie entferne ich die? Ei – wozu viel grübeln! Ich fress die Alte auf. Als Wolf verwandelt, kann ich mit dem Bissen schon fertig werden."
     Und diesen Plan eilte er sogleich auszuführen, ehe noch Rotkäppchen ihm den Vorsprung abgewinnen konnte.
     In die Hütte der Alten trat er ein, und sagte: "Bon jour, Madame!"
     "Guten Abend, mein Herr! Was steht zu Ihren Diensten?"
     "Ich bitte, nehmen Sie die Brille ab; so etwas liegt schwer im Magen. Auch den Schlüsselbund bitte ich beiseite zu legen."
     "Weshalb?"
     "Ich hab' Ihnen schon bemerkt, dass Brille und Schlüsselbund Dinge sind, die schwer zu verdauen sind. Auch alles, was Sie an Nadeln am Körper haben, müssen Sie ablegen; dergleichen fährt auf gefährliche Weise in die Zähne. Das alte Leibchen von Flanell, die Pantoffeln von weichem Leder und das Florhäubchen – alles das kann mit auf den Kauf gehn."
     "Ich weiß nicht, mein Herr, wie ich Ihre Worte deuten soll. Ich bin eine alte Dame, die von ihren Renten lebt, und sich in der Einsamkeit nicht belästigt zu sehn wünscht."
     "O ich will Sie nicht weiter belästigen, Madame – ich will Sie nur auffressen!"
     "Ha, monstre! Ich werde meine Leute rufen."
     "Es ist niemand da; und Rotkäppchen ist noch fünfzig Schritte vom Hause entfernt."
     "Ungeheuer! zittre vor meinem Fluch!"
     "Madame! Brille und Schlüsselbund herunter! Ihr letzter Augenblick ist gekommen!"
     "Ich will Ihnen etwas sagen. Ich bin eine geborne Freiin von Mixpickel; zufällig hier an einen Förster verheiratet, der schon längst tot. Meine Verwandten sind sehr mächtig; es könnte Ihnen schlimm gehen, wenn Sie mir ein Leid antäten."
     "Das sind himmelblaue Lügen."
     "Und dann will ich Ihnen noch etwas sagen. Ich hab' in Papieren spekuliert und mir ein ganz artiges Vermögen erworben, das sollen Sie haben. Es liegt dort in der Kommode mit den Messingbeschlägen." (Beiseite): "Könnte ich nur aus der Hütte entrinnen, oder käme wenigstens das verwünschte Mädchen mir zu Hilfe."
     In diesem Augenblick hörte man Rotkäppchens Stimme draußen rufen: "Großmama! Großmama!"
     "Da ist sie!" rief die Alte erfreut. Der Zauberer sprang aber hin und schob den Riegel vor die Tür. Alsdann verwandelte er sich in einen Wolf, stürzte auf die Alte hin und verschlang sie.

Ha, welch ein Mord
In dem stillen Hause! –
Von dem Schmause
Trieft blutig die Zunge,
Da schnell im Sprunge
Rafft alles er fort,
Was an den Greuel kann mahnen.
Niemand soll ahnen,
Was hier geschehn.
Die Fenster schließt er auf,
Damit Waldlüfte wehn;
Dann springt er im Lauf
Zu Kisten und Fächer,
Der arme Schächer,
Wirft die blutigen Lumpen,
In einen Klumpen
Zusammengeschlagen,
Zu Nachthäubchen und Kragen.
Es ist zum Entsetzen!
Dann eilt er zu netzen
Mit eau de mille fleurs,
Das Bette, die Stühle,
Den Teppich umher.
Von dumpfiger Schwüle
Merkt niemand was mehr;
Gemütlich und rein
Ist wieder das Zimmerlein klein.

Er legt sich selbst, wieder zum jungen Mann verwandelt, mit einem Hemde und Nachtjäckchen der Alten bekleidet, und einem Häubchen auf dem Kopfe ins Bette, nachdem er vorher die Tür geöffnet hat. Als er Rotkäppchen kommen hört, summte er das Lied vor sich hin:

Alte Damen
Schmecken nicht übel
Mit einer Sauce
Von Lattich und Zwiebel.
Doch muss Schlüssel und Brillen
Man ihnen nehmen,
Sonst macht es im Magen
Ein hässliches Grämen.
Doch will ich nur sagen,
Ich war zu rasch.
Sie barg' in ihrer Tasch'
Noch einen Fingerhut,
Den hab' ich verschluckt nun
Und das tut nicht gut.
Es lässt nicht ruhn,
Ich muss mich wenden
Von einer Seite zur andern
Und möchte nach dem Doktor senden.

     Indem trat Rotkäppchen ein.
     "Schönen guten Tag, Großmama!"
     "Bon jour, ma petite! Küss mir die Hand."
     "Was sangst du denn für ein Lied, Großmama, als ich hereintrat?"
     "Hm, es wird wohl ein Lied aus dem Gesangbuch gewesen sein."
     "Es klang indes ziemlich fremdartig. Und warum wälzt du dich im Bette herum, Großmama?"
     "Warum? warum? alberne Frage; weil ich noch verdammt hitziges Geblüt habe."
     "Hier ist der Kuchen, den ich dir mitgebracht."
     "Setz ihn vor die Tür. Ich mag keinen so ordinären Kuchen. Wenn's nicht Pastete ist, esse ich's nicht."
     "Ei, Großmutter ­ es war doch sonst dein Leibgericht."
     "Den Wein gib her, den will ich austrinken."
     "Was, Großmama! in einem Zuge hast du die ganze Flasche geleert! Das ist noch nie dagewesen."
     "Das glaub' ich; eine alte Frau, wie ich bin, ist auch noch nie dagewesen. Komm, Kleine, setz dich hier auf den Bettrand, und nun gib mir einen Kuss."
     Rotkäppchen (aufschreiend): "Großmama! Du hast einen Bart!"
     "Kind, Kind! red' nicht so einfältig. Das ist der Schatten, den meine Nase wirst. Aber was hast du da an der Schulter? einen roten Fleck! Ha! was ist das? Du hast doch nicht leichtfertige Bekanntschaften gemacht?"
     "Gewiss nicht; wie käme ich dazu?"
     "Ach, tu nur nicht so. Wie pflegt denn ein junges Mädchen zu dergleichen zu kommen? Man geht durch den Wald, der Weg ist einsam, da kommt ein junger Herr, nimmt uns beim Kopf, küsst uns, wirft uns nieder – siehst du so!"
     Und damit nahm der böse Zauberer das arme Kind, warf sie zu sich ins Bette, und – draußen säuselten die Waldbäume und die Vögel sangen.
     Die Vögel sangen und die Waldbäume säuselten.
     Nach der zweiten bösen Tat, die der Zauberer jetzt vollführt hatte, nahm er wieder seine Wolfsgestalt an und – es ist entsetzlich zu sagen – verschlang auch das arme Rotkäppchen.
     "Auf diese Weise", sagte er sehr selbstzufrieden zu sich, "entgehe ich jeder lästigen Untersuchung, und mein kleines Abenteuer hinterlässt keine Spur."

Vornehme Herrn
Amüsieren sich gern,
Doch wollen sie nicht,
Dass die Leute davon sprechen,
Sie ziehen nicht ans Licht,
Ihre kleinen Schwächen.
Als bestes Mittel,
Das Geheimnis zu wahren,
Auf mein Wort,
Tut sich erweisen,
Die Geliebte sofort
Aufzuspeisen.

     Der Zauberer schlich sich jetzt als Wolf aus der Hütte. Er gedachte seinen Palast rasch zu erreichen, allein die Strafe für seine Untaten war noch rascher, sie kam ihm dicht auf dem Fuße nach. Der junge Förster, Rotkäppchens Bräutigam, sah den Wolf schleichen, legte auf ihn an, tötete ihn, und sah noch einen Zipfel von Rotkäppchens Halstuch aus seinem Maule hängen. Sogleich ward ein geschickter Arzt geholt, der auch etwas von der Zauberei verstand, der öffnete dem Wolf den Magen und brachte glücklich die Großmutter und Rotkäppchen lebend aus demselben hervor. Wer war glücklicher als der Förster und die beiden Geretteten. Der Wolf aber blieb tot, und der Wald und die Umgegend waren somit von dem boshaften Zauberer befreit. Man sagt aber, dass die jungen Mädchen damit nicht zufrieden waren; sie hätten es lieber gesehen, wenn der Zauberer lebend geblieben wäre. Es gab sogar ein Lied unter ihnen, das so lautete:

Junge Mädchen
Sind dazu geschaffen,
Verspeist zu werden.
Ein recht hungriger Wolf
Ist ihnen das Liebste auf Erden.

*****

Alexander von Ungern-Sternberg: Braune Märchen. Bremen: Franz Schlodtmann 1850, S. 180-194 (Digitalisierung durch Google). Die Märchen wurden mehrfach neu publiziert. Sie liegen in digitaler Form vor: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Großbibliothek (Digitale Bibliothek; 125) Berlin: Directmedia 2005, S. 553.162-553.175. Online bei Zeno org, URL:
http://www.zeno.org/Literatur

Im Vorwort zu den "Braunen Märchen" charakterisiert Ungern-Sternberg das Märchen als "eine ungemein geschmeidige Dichtungsform," beklagt die Verengung auf das "Naturmärchen" im Sinne der Brüder Grimm und rechtfertigt die Spielart des "frivol-witzigen" Märchens. Auszüge aus dem Vorwort:

"Wenn wir der Entwicklungsgeschichte dieser Gattung der Poesie, nämlich des Märchens, folgen, so gewahren wir, dass gerade die Zeiten der Produktion die günstigsten waren, die ihr die meisten Freiheiten gewährten. Das Märchen ist eine ungemein geschmeidige Dichtungsform; sie kann dienen, den einfachen Sinn des Kindes zu erquicken, sie kann aber auch dienen, den feinsten Schmelz über die Produkte der Zivilisation zu bringen."

"Wir Deutschen haben von jeher das Märchen liebgehabt, allein wir haben vorzüglich nur immer eine Richtung desselben gepflegt, es ist dies das einfache Naturmärchen, wie es in den Sammlungen der Gebrüder Grimm zu finden ist. Es ist nicht zu leugnen, dass ein tiefer und gleichsam unerforschlicher Bronnen in diesen Naturmärchen enthalten, und es daher allen Völkern und allen Zeiten wert bleiben wird. Allein man würde dieser lieblichen Tochter der Mutter Poesie sehr unrecht tun, wenn man ihr zumuten wollte, immer nur in diesem Gewande zu erscheinen. Sie hat deren eine Menge."

"Wenn wir nun diese Folge der Verwandlung des Märchens betrachten, so bemerken wir, dass zwei wesentliche Formen fehlen und beharrlich wegbleiben, es sind dies 'das politisch-satirische' und das 'frivol- witzige' Märchen. Beide Gattungen kultivierte das achtzehnte Jahrhundert, und mit großem Glück. In der ersteren war bekanntlich Swift hervorragend, in der zweiten Voltaire, Diderot, Hamilton, Crebillon und noch manche andere."

"Seit einiger Zeit hört man mit bedenklicher Miene, wenn von einem neuen Buche die Rede ist: 'Aber wird auch eine Mutter es ihrer Tochter in die Hand geben dürfen?' Es klingt fast, als wenn nur Mütter und Töchter in der Welt existierten. Gibt es nicht auch Männer, ihr Poeten? Und werdet ihr nicht endlich die Männer völlig von der Literatur wegscheuchen, wenn ihr bei diesen kläglichen, prüden und unwahren Darstellungen beharrt? Wehe der feigen Poesie, die sich des Anteils am Beifall der Männer begibt! Und dann sind ja auch Frauen da, edle Frauen, die, das Leben kennend, mit keuschem Sinn einem freien Scherze gern sich hingeben. Sind jene Männer, sind diese Frauen für euch außerhalb der Literatur? Dann seid ihr zu beklagen, und eure Bücher sind's noch mehr. Ihr werdet beide schnell vergessen sein."

"Was diese vorliegenden Märchen nun betrifft, so machen sie keine Ansprüche. Will man sie für frei spielende Geister der Muse gelten lassen, so wird man ihnen ein Stündchen der Muße gern vergönnen. Sie dienen, ohne alle weitere Absicht, nur freier Heiterkeit. Bekannte Märchenkörper sind hier und da genommen, aber ihnen besondere Kleidchen umgehängt; die meisten Produktionen sind jedoch als eigne Erfindungen zu betrachten."

***

Über Ungern-Sternberg als "Hauptvertreter des ironischen Märchens in der Biedermeierzeit" siehe Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. II. Stuttgart: J. B. Metzler 1972, S. 973-975. Die Umstilisierung bzw. Parodie des Rotkäppchens sei "die alte freche Kavaliersgeschichte, nicht weniger obszön als irgendeine des Rokoko und ebenso überlegen stilisiert und pointiert" (S. 974f.).

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Oben: Rotkäppchen. Signet: RPH im Kreis. 2493/5. Gelaufen. Datiert u. Poststempel 1910. Fotografie.
Unten links: Rotkäppchen. Signet: RPH im Kreis. 1518/3. Gelaufen. Poststempel unleserlich. Fotografie.
Unten rechts: Rotkäppchen. Signet: PFB in Raute [Paul Fink, Kunstanstalt, Berlin] 1069. Gelaufen. Poststempel 1912. Fotografie.

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Rotkäppchen. Im Walde sucht' ich einen Strauß / Und trag' ihn in Großmutters Haus. Signet RPH 4314/1. Gelaufen. Datiert 1914. Poststempel unleserlich.

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4. Joachim Ringelnatz
Kuttel Daddeldu erzählt seinen Kindern
das Märchen vom Rotkäppchen
und zeichnet ihnen sogar was dazu

Also Kinners, wenn ihr mal fünf Minuten lang das Maul halten könnt, dann will ich euch die Geschichte vom Rotkäppchen erzählen, wenn ich mir das noch zusammenreimen kann. Der alte Kapitän Muckelmann hat mir das vorerzählt, als ich noch so klein und so dumm war, wie ihr jetzt seid. Und Kapitän Muckelmann hat nie gelogen. Also lissen tu mi.

Da war mal ein kleines Mädchen. Das wurde Rotkäppchen angetitelt - genannt heißt das. Weil es Tag und Nacht eine rote Kappe auf dem Kopfe hatte. Das war ein schönes Mädchen, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee und so schwarz wie Ebenholz. Mit so große runde Augen und hinten so ganz dicke Beine und vorn - na, kurz eine verflucht schöne, wunderbare, saubere Dirn.

Und eines Tages schickte die Mutter sie durch den Wald zur Großmutter; die war natürlich krank. Und die Mutter gab Rotkäppchen einen Korb mit drei Flaschen spanischem Wein und zwei Flaschen schottischem Whisky und einer Flasche Rostocker Korn und einer Flasche Schwedenpunsch und einer Buttel mit Köm und noch ein paar Flaschen Bier und Kuchen und solchem Kram mit, damit sich Großmutter mal erst stärken sollte.

 

"Rotkäppchen", sagte die Mutter noch extra, "geh nicht vom Wege ab, denn im Walde gibt's wilde Wölfe!" (Das ganze muss sich bei Nikolajew oder sonstwo in Sibirien abgespielt haben.) Rotkäppchen versprach alles und ging los.

Und im Walde begegnete ihr der Wolf. Der fragte: "Rotkäppchen, wo gehst du denn hin?" Und da erzählte sie ihm alles, was ihr schon wisst. Und er fragte: "Wo wohnt denn deine Großmutter?"

Und sie sagte ihm das ganz genau: "Schwiegerstraße dreizehn zur ebenen Erde." Und da zeigte der Wolf dem Kinde saftige Himbeeren und Erdbeeren und lockte sie so vom Wege ab in den tiefen Wald. Und während sie fleißig Beeren pflückte, lief der Wolf mit vollen Segeln nach der Schwiegerstraße Nummero dreizehn und klopfte zur ebenen Erde bei der Großmutter an die Tür.

Die Großmutter war ein misstrauisches, altes Weib mit vielen Zahnlücken. Deshalb fragte sie barsch: "Wer klopft da an mein Häuschen?" Und da antwortete der Wolf draußen mit verstellter Stimme: "Ich bin es, Dornröschen!" Und da rief die Alte: "Herein!" Und da fegte der Wolf ins Zimmer hinein. Und da zog sich die Alte ihre Nachtjacke an und setzte ihre Nachthaube auf und fraß den Wolf mit Haut und Haar auf.

Unterdessen hatte sich Rotkäppchen im Walde verirrt. Und wie so pissdumme Mädel sind, fing sie an, laut zu heulen. Und das hörte der Jäger im tiefen Wald und eilte herbei. Na - und was geht uns das an, was die beiden dort im tiefen Walde mitnander vorgehabt haben, denn es war inzwischen ganz dunkel geworden, jedenfalls brachte er sie auf den richtigen Weg.

Also lief sie nun in die Schwiegerstraße. Und da sah sie, dass ihre Großmutter ganz dick aufgedunsen war. Und Rotkäppchen fragte: "Großmutter, warum hast du denn so große Augen?" Und die Großmutter antwortete: "Damit ich dich besser sehen kann!" Und da fragte Rotkäppchen weiter: "Großmutter, warum hast du denn so große Ohren?" Und die Großmutter antwortete: "Damit ich dich besser hören kann!" Und da fragte Rotkäppchen weiter: "Großmutter, warum hast du denn so einen großen Mund?" Nun ist das ja auch nicht recht, wenn Kinder so was zu einer erwachsenen Großmutter sagen. Also da wurde die Alte fuchsteufelswild und brachte kein Wort mehr heraus, sondern fraß das arme Rotkäppchen mit Haut und Haar auf. Und dann schnarchte sie wie ein Walfisch.

Und draußen ging gerade der Jäger vorbei. Und der wunderte sich, wieso ein Walfisch in die Schwiegerstraße käme. Und da lud er seine Flinte und zog sein langes Messer aus der Scheide und trat, ohne anzuklopfen, in die Stube. Und da sah' er zu seinem Schrecken statt einem Walfisch die aufgedunsene Großmutter im Bett. Und - diavolo caracho ! - da schlag einer lang an Deck hin ! - Es ist kaum zu glauben ! - Hat doch das alte gefräßige Weib auch noch den Jäger aufgefressen.

Ja, da glotzt ihr Gören und sperrt das Maul auf, als käme da noch was. - Aber schert euch jetzt mal aus dem Wind, sonst mach ich euch Beine.

Mir ist schon sowieso die Kehle ganz trocken von den dummen Geschichten, die doch alle nur erlogen und erstunken sind. Marsch fort! Lasst euren Vater jetzt eins trinken, ihr - überflüssige Fischbrut!


Joachim Ringelnatz: Sämtliche Erzählungen (Diogenes Taschenbuch; 23466) Zürich: Diogenes 2005, S. 293-295. Handschriftlich mit Zeichnungen S. 295-309. Von den 12 Illustrationen werden oben 8 wiedergegeben.

Online im Projekt Gutenberg-DE
http://gutenberg.spiegel.de/index.php?id=6

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