goethe


Jutta Assel | Georg Jäger

Der kleine Däumling
von Charles Perrault und Ludwig Bechstein
Mit einer Postkartenserie von Oskar Herrfurth

Optimiert für Firefox
Eingestellt: Juni 2016
Stand: August 2019

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Das Märchen handelt von einem schlauen Knirps, der bei seiner Geburt nicht größer als ein Daumen war und daher "Däumling' geheißen wurde. Er war das jüngste der sieben Knaben einer armen Holzhauer- bzw. Korbmacherfamilie, die von ihren Eltern zwei Mal im Wald ausgesetzt wurden, als ihnen der Hungertod drohte. Das erste Mal markierte der Däumling den Weg in den Wald mit Kieselsteinen und fand so mit seinen Brüdern zurück nach Hause. Das zweite Mal fielen sie fast einem Menschenfresser zum Opfer; auch hier bewies sich der Däumling als beherzt und klug: Von ihm getäuscht, schnitt der Unhold statt den Knaben seinen sieben Töchterchen, hässlichen kleinen Blutsaugerinnen, die Kehle durch. Dem Menschenfresser entwendet der Däumling die Siebenmeilenstiefel und macht mit ihnen sein Glück. Das auf Charles Perrault (1628-1703) zurückgehende Märchen wurde von Bechstein in sein "Deutsches Märchenbuch" aufgenommen. Beide Fassungen werden zum Vergleich zusammen, gemeinsam mit den Illustrationen von Oskar Herrfurth (1862-1934), einem beliebten Märchenillustrator, publiziert.

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Gliederung

1. Die Postkartenserie
2. Charles Perrault: Der kleine Däumling
3. Ludwig Bechstein: Der kleine Däumling
4. Kurzbiographie zu Oskar Herrfurth
5. Rechtlicher Hinweis und Kontaktanschrift

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1. Die Postkartenserie

Wiedergegeben wird die Serie 311, Nr. 4846-4851, der Firma Uvachrom. (In den 1920er Jahren firmiert die Firma als >Verlag der Uvachrom Union Aktiengesellschaft für Farbenfotografie<, mit Hauptsitz in Wien.) Die Bilder sind untertitelt "Bechstein - Der kleine Däumling - O. Herrfurth pinx." und im Bild mit "O. Herrfurth" signiert. Karten nicht gelaufen. Der Text auf der Rückseite wird den Bildern beigegeben.

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1. Ein armer Korbmacher hatte sieben Buben. Einer war immer kleiner als der andere. Den Jüngsten nannte man den Däumling. Der Letztere war ein pfiffiger Knirps. Weil die Eltern sie kaum ernähren konnten, wollten sie die Buben heimlich im Walde verlassen. Aber Däumling hatte die Eltern belauscht, Kieselsteine in die Taschen gesteckt, und als sie in den Wald gingen, ließ er Steinchen um Steinchen fallen. So konnte er die Brüder wieder nach Hause bringen.

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2. Bald darauf versuchten die armen Eltern wieder, die sieben Buben im Walde zu verlassen. Diesmal hatte Däumling Brosamen auf den Weg gestreut. Allein die Vögel hatten sie aufgefressen. Als die Buben den Heimweg nicht mehr fanden, kletterte Däumling auf den höchsten Baum und erspähte ein Haus im Walde. Dort wollte er nach dem Weg fragen. Es war aber das Haus des Menschenfressers.

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3. Die Frau des Menschenfressers war gut. Sie gab den Buben zu essen. Als der Menschenfresser heim kam, holte er sie aus dem Versteck hervor. Schon nahm er sein Messer, um sie zu schlachten. Auf Bitten der Frau unterließ er es.
Der Menschenfresser hatte sieben Töchter, die schliefen in einem Bett und hatten goldene Krönlein auf dem Kopf. Däumling nahm in der Nacht die Kronen weg und setzte sie den Brüdern auf. Im Rausch schnitt nun der Menschenfresser nachts seinen Töchtern die Hälse ab, weil er sie ohne Kronen nicht kannte. Die Buben aber flohen in den Wald.

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4. Der Menschenfresser war sehr erzürnt, zog seine Siebenmeilenstiefel an und jagte den sieben Buben nach. Diese versteckten sich in einem Felsloch. Das Ungeheuer ruhte sich auf dem Felsen aus und schlief ein. Da schlich der Däumling wie ein Mäuslein heraus und zog ihm die Siebenmeilenstiefel aus.

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5. Der Däumling schlüpfte in die Siebenmeilenstiefel - und siehe - sie paßten. Dann nahm er seine Brüder, je drei rechts und links und mit Siebenmeilenstiefelschritten flog er mit ihnen über Berg und Tal der Heimat zu. Da waren die Buben vor dem Menschenfresser gerettet.

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6. Vater und Mutter saßen traurig beim Nachtessen. Es ging ihnen wieder gut, denn sie hatten Geld bekommen. Bitter bereuten sie, dass sie ihre Kinder im Walde gelassen hatten. Plötzlich kamen dieselben zur Tür herein. Darob war großer Jubel. Däumling aber machte sein Glück mit den Meilenstiefeln, verdiente viel Geld und sorgte für Eltern und Brüder.

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2.
Charles Perrault
Der kleine Däumling

Es war einmal ein Holzhauer, der hatte mit seiner Frau sieben Kinder, und zwar lauter Knaben. Das älteste war erst zehn Jahr und das jüngste noch nicht sieben. Man wird sich wundern, wie der Holzhauer in so kurzer Zeit so viele Kinder haben konnte; aber seine Frau hatte sich ein wenig getummelt und war immer mit Zwillingen niedergekommen. Die guten Leute hatten nun gar nicht viel zu leben, und ihre sieben Kinder wurden ihnen schwer zu erhalten, weil noch keins davon etwas verdienen konnte. Am meisten waren sie darüber bekümmert, dass der jüngste Bub so zart war und fast gar nicht sprach; und obgleich dies ein Zeichen seines Verstandes war, so hielten sie ihn doch für dumm. Es war auch ein gar kleiner Knabe; und da er auf die Welt kam, war er kaum so groß als ein Daumen. Darum nannten sie ihn auch nur den kleinen Däumling. Der arme Junge war das Marterholz im Hause, und wenn es etwas gab, so musste er immer Unrecht haben. Gleichwohl war er der verschlagenste und aufgeweckteste von seinen Brüdern. Auch wenn er wenig sprach, so hörte er doch desto aufmerksamer zu.

Nun kam ein Missjahr, und es entstand eine Hungersnot, und die armen Leute sannen auf Mittel, ihre Kinder loszuwerden. Als die Kinder eines Tags zu Bette waren und der Holzhauer mit seiner Frau noch am Feuer saß, sagte er voll Bekümmernis zu ihr: »Du siehst, wir können unsere Kinder nicht länger ernähren; aber ehe ich sie vor meinen Augen will Hungers sterben sehen, so will ich sie lieber morgen in dem Walde lassen. Denn während sie Reisig zu Wellen suchen, können wir uns heimlich davonmachen, ohne dass sie es merken.« »Ach«, versetzte die Frau, »kannst du es über das Herz bringen, Mann, dich deiner Kinder zu entledigen?« Ihr Mann stellte ihr noch einmal die große Armut vor, in der sie lebten, aber er predigte tauben Ohren; sie wollte nicht einwilligen; denn ob sie schon arm war, so war sie doch ihre Mutter. Da sie aber überlegte, was für Kummer es ihr machen würde, wenn sie sie Hungers sterben sähe, so willigte sie endlich unter vielen Tränen ein und ging zu Bette. Aber sie konnte die ganze Nacht kein Auge zutun.

Der kleine Däumling hatte das ganze Gespräch mit angehört; denn da er in seinem Bett merkte, dass seine Eltern etwas Wichtiges besprachen, war er ganz leise aufgestanden und unter den Schemel gekrochen, auf dem sein Vater saß, damit sie ihn nicht sehen sollten. Er legte sich hierauf wieder ins Bett, konnte aber ebenso wenig schlafen als seine Mutter, sondern sann die ganze Nacht darauf, was zu tun sei. Ganz früh stand er auf und ging an den Bach und las kleine weiße Kiesel auf, die er in die Tasche steckte, und ging so wieder nach Hause.

Am Morgen zogen sie alle los, und der kleine Däumling sagte seinen Brüdern kein Wort von dem, was er gehört hatte. Sie kamen in einen dichten Wald, wo man keine zehn Schritte weit vor sich sehen konnte. Der Holzhauer hieb Holz, und seine Kinder lasen Reisig auf, um Wellen zu machen. Da ihre Eltern sie so beschäftigt sahen, entfernten sie sich anfänglich ganz leise, aber dann liefen sie auf einem gewundenen Fußsteige aus Leibeskräften weiter. Die Kinder merkten bald, dass sie allein waren, und fingen an zu rufen und zu weinen. Aber der kleine Däumling ließ sie immer rufen, und es war ihm gar nicht bange, wie er wieder nach Hause kommen wollte; denn als sie in den Wald gegangen waren, hatte er auf dem ganzen Wege die kleinen weißen Kiesel gestreut, die er in der Tasche hatte. Er sagte daher zu seinen Brüdern: »Lasst euch nur nicht bange sein; unsre Eltern haben uns hiergelassen; aber ich will euch schon wieder nach Hause bringen. Geht mir nur nach!« Sie gingen ihm nach, und er führte sie bis an ihr Haus. Anfänglich wagten sie es nicht hineinzugehen, sondern setzten sich vor die Tür, um zu hören, was ihr Vater und ihre Mutter zusammen sprächen.

Als der Holzhauer und seine Frau nach Hause gekommen waren, hatte ihnen der Gutsherr zehn Taler geschickt, die er ihnen seit langer Zeit schuldig war und auf die sie nicht mehr gerechnet hatten. Dies gab ihnen das Leben wieder, denn die armen Leute starben beinahe vor Hunger. Der Holzhauer schickte seine Frau sogleich in die Fleischbank. Und da sie seit langer Zeit nichts gegessen hatten, so kaufte sie dreimal mehr Fleisch ein, als für zwei Leute nötig war. Da sie sich nun satt gegessen hatten, sagte die arme Frau: »Ach, wo werden jetzt unsere armen Kinder sein? Die könnten sich nun noch satt essen an dem, was uns übrigbleibt. Da bist du nur schuld daran, Mann; ich habe dir gleich gesagt, dass es uns gereuen würde. Was mögen sie nun jetzt in dem Walde machen? Ach, du lieber Gott, wenn sie nur die Wölfe nicht schon gefressen haben! Du bist doch ein rechter Rabenvater, deine eignen Kinder so im Stich zu lassen.«

Der Holzhauer wurde schließlich ungeduldig; denn sie sagte ihm noch hundertmal, dass es ihn gereuen würde und dass sie es gar wohl gesagt hätte. Und er drohte ihr am Ende mit Schlägen, wenn sie nicht stille schwieg. Im Grunde tat es dem Holzhauer ebenso leid wie seiner Frau; aber sie ließ ihm auch gar keine Ruhe, und es ging ihm wie andern ehrlichen Leuten, die es auch wohl gerne sehen, wenn ihre Frauen recht haben, aber die nur nicht leiden können, wenn sie immer recht gehabt haben wollen ... Die Frau hörte nicht auf zu heulen und zu schreien: »Ach, dass Gott erbarm! Wo sind jetzt meine Kinder, meine armen Kinder?«

Sie wurde dabei einigemal so laut, dass die Kinder es an der Türe hörten und alle auf einmal riefen: »Da sind wir; da sind wir!« Sie lief gleich hin und machte die Tür auf, herzte und küsste sie und sagte einmal über das andre: »Wie danke ich meinem lieben Gott, dass ihr wieder da seid! Ihr seid wohl recht müde und habt großen Hunger? Ach, wie hast du dich dreckig gemacht, Peter! Komm her, ich will dich abwischen ...« Peter war der Älteste, und sie hatte ihn am liebsten, weil er rote Haare hatte wie sie auch. Sie setzten sich hierauf zu Tische und aßen mit gutem Appetit und erzählten ihren Eltern, wie sie sich gefürchtet hätten und wie angst ihnen im Walde geworden wäre. Und dabei redeten sie immer alle auf einmal.

Die armen Leute waren sehr froh, dass sie ihre Kinder wieder hatten, und diese Freude dauerte so lange, als die zehn Taler reichten. Aber als das Geld alle war, ging die Not von neuem an, und sie beschlossen nun wieder ernstlich, ihre Kinder im Stiche zu lassen. Und um ihrer Sache gewiss zu sein, wollten sie sie noch tiefer in den Wald führen als das erste Mal. So leise sie dieses Vorhaben auch besprachen, so merkte der kleine Däumling es doch und beschloss, sich wie das erste Mal zu helfen. Er stand deshalb wieder ganz früh auf, um Kieselsteine aufzulesen; aber es war nicht möglich, denn die Haustür war fest zugeschlossen. Er wusste nun nicht, was er machen sollte; aber als ihm seine Mutter das Morgenbrot gab, fiel ihm ein, dass er das Brot statt der Steine brauchen könnte, indem er es auf den Weg streute. Er steckte es also in die Tasche.

Ihre Eltern führten sie nun an den dichtesten und finstersten Ort des Waldes und gingen dann davon wie das erste Mal. Der kleine Däumling bekümmerte sich wenig darum, denn er glaubte, mit Hilfe des ausgestreuten Brots den Weg leicht wiederzufinden. Aber er erschrak nicht wenig, als er kein Krümchen mehr fand; denn die Vögel waren gekommen und hatten alles aufgepickt.

Nun waren sie in großer Not, denn sie verirrten sich und kamen immer tiefer in den Wald. Schließlich wurde es gar Nacht, und es erhob sich ein Sturm, der ihnen angst und bange machte. Von allen Seiten glaubten sie das Heulen der Wölfe zu hören, die sie fressen wollten. Sie getrauten sich kaum, den Mund aufzutun oder sich umzusehen. Dann kam ein starker Platzregen, der sie bis auf die Haut durchnässte; bei jedem Schritt glitten sie aus und fielen in den Schlamm, wobei sie sich über und über schmutzig machten. Der kleine Däumling stieg auf einen Baum, um sich umzusehen; und nachdem er lange umhergeschaut hatte, erblickte er endlich einen schwachen Schein, wie von einer Lampe; aber das war noch weit, weit vom Walde. Er stieg wieder vom Baume herab, und als er auf den Boden kam, sah er nichts mehr. Da war nun guter Rat teuer.

Indes marschierte er mit seinen Brüdern immer drauflos, nach der Gegend zu, wo er das Licht gesehen hatte, und endlich kamen sie aus dem Walde heraus und sahen das Licht wieder. Bald kamen sie gar an das Haus, worinnen das Licht war, aber mit Zittern und Zagen; denn wenn sie in die Tiefe kamen, verloren sie es immer wieder aus dem Blick. Sie klopften an, und es kam eine Frau, machte auf und fragte, was sie wollten. Der kleine Däumling antwortete, sie wären arme Kinder, die sich im Walde verirrt hätten, und bäten sie um ein Nachtlager. Da die Frau sah, dass es lauter hübsche Kinder waren, fing sie an zu weinen und sagte: »Ach, ihr armen Kinder, wo seid ihr hingeraten! Wisst ihr denn nicht, dass dieses Haus einem Menschenfresser gehört, der kleine Kinder frisst?« Das fuhr den Kindern eiskalt über den Leib, und sie zitterten und bebten. »Ach«, sagte der kleine Däumling, »Iiebe Mutter, was sollen wir in aller Welt anfangen? Wenn Sie uns nicht aufnehmen, so fressen uns die Wölfe ganz gewiss noch diese Nacht; und da wollen wir doch lieber von diesem Herrn gefressen werden. Vielleicht erbarmt er sich unser, wenn Sie ihn recht schön darum bitten ...«

Die Frau hoffte, sie bis an den andern Morgen wenigstens vor ihrem Manne zu verbergen, und ließ sie ein. Sie ließ sie ums Feuer herumsetzen, welches lichterloh brannte, denn es steckte ein ganzer Schöps am Bratspieße zum Abendessen für den Menschenfresser. Sie waren kaum wieder ein wenig aufgetaut, als sie drei- oder viermal tüchtig an die Türe schlagen hörten; es war der Unhold, der wieder nach Hause kam. Da steckte die Frau die Kinder geschwind unter das Bett, dann lief sie und machte die Türe auf. Der Menschenfresser trat herein, und seine erste Frage war, ob das Abendessen fertig wäre und ob sie den Wein abgezogen hätte. Sodann setzte er sich gleich zu Tische. Der Schöps war noch halb roh; aber das war ihm eben recht, und er schmeckte ihm nur um so besser. Darauf schnupperte er rund um sich her und sagte: »Frau, ich rieche Menschenfleisch.«

»Ach«, sagte die Frau, »es wird das Kalb sein, das ich eben ausgeweidet habe.« »Ich rieche frisches Menschenfleisch, sag ich dir«, meinte der Menschenfresser noch einmal und sah seine Frau gefährlich dabei an. »Es steckt hier etwas drunter, wohinter ich noch nicht kommen kann.« Bei diesen Worten stand er auf und ging gerade auf das Bett zu. »Aha«, sagte er, »du glaubst mich anzuführen, du Zeterhexe. Ich werde kurzes Federlesen machen und dich zuerst fressen und die Jungen hinterdrein. Ei, ich hätte doch nicht gedacht, dass ich so delikates Wildbret finden würde; das kommt mir eben zupasse, um drei von meinen guten Freunden damit zu traktieren, die mich in kurzem besuchen werden.« Dabei zog er einen nach dem andern unter dem Bette vor. Die armen Kinder fielen auf die Knie und baten um Gnade; aber sie wussten nicht, dass sie gerade an den allerunbarmherzigsten Menschenfresser gekommen waren, der sie schon mit den Augen verschlang und zu seiner Frau sagte, wenn sie da eine gute Brühe daran machte, so würde es eine leckere Mahlzeit geben. Er ging auch schon hin und holte ein großes Messer, um sie abzuschlachten, und wetzte es auf einem großen Stein, den er in der linken Hand hielt.

Als er eben einen angepackt hatte, sagte seine Frau zu ihm: »Was willst du ihn denn noch so spät abschlachten? Hast du denn nicht morgen noch Zeit genug dazu?« »Halt's Maul«, antwortete der Menschenfresser, »was gehen dich die Krabben an?« -Aber du hast ja noch Fleisch die Menge«, erwiderte die Frau; »ein Kalb, zwei Schöpse und ein halbes Schwein.« »Du hast recht«, antwortete der Menschenfresser, »füttre sie nur gut, damit sie nicht mager werden, und dann lass sie zu Bette gehen.« Die gute Frau war darüber sehr vergnügt. Sie gab. ihnen tüchtig zu essen; aber sie konnten vor Angst nichts herunterbringen. Der Menschenfresser hielt sich seinerseits an den Wein und freute sich im stillen, dass ihm der Himmel eine so gute Mahlzeit für seine Freunde beschert hatte. Er trank ein Dutzend Becher mehr als gewöhnlich; der Wein stieg ihm in den Kopf, und er musste sich zu Bette legen.

Der Menschenfresser hatte sieben Töchter, die noch klein waren. Sie waren alle rund und fett, denn sie aßen auch rohes Fleisch wie ihr Vater. Aber sie hatten kleine, runde, graue Augen, gebogene Nasen und große Mäuler mit langen, scharfen Zähnen, die weit auseinander standen. Sehr schlimm waren sie eben noch nicht; aber sie versprachen alles Mögliche, denn sie bissen schon die kleinen Kinder, um ihnen das Blut auszusaugen. Sie waren beizeiten schlafen gegangen und lagen alle in einem großen Bett, und jede hatte eine goldene Krone auf dem Kopfe. In derselben Kammer stand noch ein anderes Bett von derselben Größe. In dieses Bett brachte die Frau die sieben Knaben und legte sich dann selbst zu ihrem Manne.

Der kleine Däumling, der gleich gesehen hatte, dass die kleinen Blutsaugerinnen goldene Kronen auf den Köpfen trugen, und dem bange war, es möchte dem Menschenfresser gereuen, sie nicht noch am Abend abgeschlachtet zu haben, stand um Mitternacht auf, setzte den sieben Mädchen seine
und seiner Brüder Mützen auf und nahm ihnen dafür die Kronen ab, die er sich und seinen Brüdern aufsetzte, damit der Menschenfresser sie für seine Töchter und seine Töchter für die Jungen halten möchte, die er schlachten wollte. Es kam gerade so, wie er sich's gedacht hatte. Der Menschenfresser war um Mitternacht aufgewacht, und es hatte ihn gereut, die Abschlachtung bis auf den andern Tag aufgeschoben zu haben. Er sprang also aus dem Bette, nahm sein großes Messer und sagte: "Ich will doch sehen, was die jungen Bengel oben machen. Diesmal soll's gewiss das letzte Mal sein.«

Er tappte die Treppe hinauf und kam in die Kammer, wo seine Mädchen schliefen. Darauf ging er an das Bett, wo die Jungen lagen und schnarchten. Nur der kleine Däumling schlief nicht, sondern fühlte gar wohl, wie ihm der Menschenfresser den Kopf betatschte, so wie er es auch bei seinen Brüdern getan hatte. Da er die Kronen fühlte, sagte er: »Nun, da hätte ich ja beinahe etwas Schönes angestellt. Ich merke wohl, dass ich gestern Abend über den Durst getrunken habe.« Dann ging er an seiner Töchter Bett, und da er hier die Jungenmützen fühlte, sagte er: »Da sind sie ja, die kleinen Bälger! Nun frisch ans Werk!« Bei diesen Worten schnitt er, mir nichts, dir nichts, seinen sieben Töchtern die Kehlen durch. Und wie er damit fertig war, legte er sich voller Zufriedenheit wieder zu seiner Frau ins Bett.

Als ihn der kleine Däumling schnarchen hörte, weckte er geschwind seine Brüder auf und sagte ihnen, sie sollten sich schnell anziehen und ihm folgen. Sie taten es, gingen ganz leise hinab in den Garten und sprangen über die Mauer. Dann liefen sie die ganze Nacht unter Zittern und Zagen und ohne zu wissen, wo sie hinkämen.

Am anderen Morgen wachte der Menschenfresser auf und sagte zu seiner Frau: »Geh hinauf und mache die kleinen Jungen zurecht!« Die Frau wusste gar nicht, was sie von der großen Güte ihres Mannes denken sollte; denn da er ihr befahl, die Kinder zurechtzumachen, meinte sie nicht anders, als dass sie sie anziehen sollte. Sie ging also hinauf und war beinahe des Todes, da sie ihre sieben Töchter im Blute schwimmen sah. Sie fiel in Ohnmacht; denn das ist immer das erste, was die Frauen tun, wenn sie nicht weiter wissen. Der Menschenfresser ging ihr nach, um ihr zu helfen, damit sie nicht zu lange trödelte. Er erschrak beinahe ebenso sehr wie seine Frau beim Anblick seiner geschlachteten Töchter. »Ach«, schrie er, »was habe ich da getan! Aber ich will sie dafür bestrafen, die Schurken!« Er goss hierauf seiner Frau einen Eimer Wasser ins Gesicht, wodurch sie wieder zu sich kam; dann sagte er zu ihr: »Bringe mir gleich meine Siebenmeilenstiefel, ich will sie schon einholen.«

Er machte sich auf den Weg; marschierte bald dahin, bald dorthin und kam endlich auf die Straße, auf welcher die armen Kinder zogen, die nur noch hundert Schritte von ihres Vaters Hause entfernt waren. Sie sahen den Menschenfresser von ferne, der über die breitesten Ströme hinwegschritt, als wenn es Bäche wären. Der kleine Däumling bemerkte zum Glück eine Felshöhle in der Nähe, in die er mit seinen sechs Brüdern kroch und Acht gab, was der Menschenfresser tun würde. Dieser war von dem langen, unnützen Laufen so müde (denn die Siebenmeilenstiefel nahmen ihren Mann auch tüchtig mit), dass er ein wenig ausruhen musste. Und durch Zufall setzte er sich gerade auf den Felsen, unter welchen die Knaben sich versteckt hatten. Vor großer Müdigkeit schlief er bald darauf ein und fing so schrecklich an zu schnarchen, dass den armen Kindern ebenso bange dabei wurde, als wenn er ihnen das Messer an die Kehle setzte. Dem kleinen Däumling war am wenigsten Angst, und er sagte zu seinen Brüdern, sie sollten nur nach Hause gehen, während der Menschenfresser schliefe. Seinetwegen sollten sie unbekümmert sein. Sie folgten seinem Rat und eilten ins Haus.

Der kleine Däumling aber kroch aus der Höhle heraus und schlich sich auf den Zehen zu dem Menschenfresser hin, zog ihm ganz vorsichtig die Stiefel von den Beinen und zog sie selbst an. Die Stiefel waren zwar sehr groß und weit, aber da sie verzaubert waren, so konnte sie jedermann anziehen, und sie passten gleich an jeden Fuß. Und so saßen sie auch dem kleinen Däumling, als wenn sie ihm angemessen wären. Er lief geradewegs in des Menschenfressers Haus, wo er die Frau bei ihren toten Kindern in Tränen fand.

»Euer Mann«, sagte der kleine Däumling, »ist in großer Gefahr. Räuber haben ihn überfallen und drohen, ihm das Leben zu nehmen, wenn er nicht all sein Gold und Silber herausgibt. Da sie ihm eben das Messer an die Kehle setzten, bemerkte er mich und bat mich, Euch die Nachricht von diesem unglücklichen Zwischenfall zu bringen und mir alles von Euch geben zu lassen, was er von Wert besitzt, ohne etwas zurückzubehalten. Denn sonst werden sie ihn ohne alle Barmherzigkeit töten. Da die Sache keinen Aufschub litte, hat er mir seine Siebenmeilenstiefel gegeben, wie Ihr seht, um geschwinder hierherzukommen und um mich bei Euch zu legitimieren.« Die gute Frau gab ihm im ersten Schrecken alles, was sie hatte; denn sie liebte ihren Mann, auch wenn er kleine Kinder fraß; und der kleine Däumling kam, mit den Reichtümern des Menschenfressers beladen, in seines Vaters Hause an und ward mit offenen Armen aufgenommen.

Über diesen letzten Umstand ist man indes nicht recht einig, und manche behaupten, der kleine Däumling habe den Menschenfresser nicht bestohlen, sondern ihm nur seine Siebenmeilenstiefel ohne Bedenken abgenommen, weil er den kleinen Kindern damit nachlief. Diese Leute versichern, dies aus guter Quelle zu wissen und selbst in dem Hause des Holzhauers bekannt zu sein.

Sie erzählen, der kleine Däumling habe die Stiefel angezogen und sei damit an den Hof gegangen, weil er wusste, dass man daselbst über den Zustand einer Armee, die zweihundert Meilen entfernt war, und über den Ausgang einer Schlacht unterrichtet zu sein wünschte. Der König versprach ihm eine große Summe Geldes, wenn er ihm Nachricht brächte; und Däumling brachte sie noch denselben Abend. Hierdurch machte er sich bekannt und verdiente unsägliches Geld; denn der König bezahlte ihn reichlich, um seine Befehle an die Armee zu bringen. Und eine Menge Damen gaben ihm, was er wollte, damit er ihnen Nachricht und Briefchen von ihren Liebhabern brächte. Dies trug ihm das meiste ein. Es fanden sich auch einige Frauen, die ihm Briefe an ihre Männer mitgaben; aber diese bezahlten nicht sonderlich, und er schlug diese Einnahme nicht hoch an. Nachdem er eine Zeitlang den Boten gemacht und unermessliches Geld gesammelt hatte, kam er wieder zu seinen Eltern, die eine ganz unbeschreibliche Freude hatten, als sie ihn wiedersahn. Er teilte der ganzen Familie von seinen Reichtümern mit, kaufte seinem Vater und jedem seiner Brüder eine einträgliche Stelle, setzte sie alle in gute Umstände und vergaß sich auch selbst bei der Gelegenheit nicht.

Quelle:
Französische Märchen. Auswahl und Einleitung von Jack Zipes. Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1991, S. 65-75. - Die deutsche Übersetzung des erstmals 1697 in Französisch publizierten Märchens folgt folgender Ausgabe: Die Blaue Bibliothek aller Nationen, hrsg. u. übersetzt von Friedrich Justin Bertuch. Bd. 1, Gotha 1790. - Absätze eingefügt.

Zu Charles Perrault (1628-1703) und dem Märchen "Der kleine Däumling" siehe die Einträge in Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Perrault
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_kleine_Däumling

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Bei der Märchen-Serie "Klein Däumling" handelt es sich um Sammelbilder oder Werbemarken. Im gleichen Format erschienen Serien zu weiteren Märchen. Der Raum unterhalb des Bildes ist für den Eindruck des werbenden Geschäfts vorgesehen, wie einige Beispiele zeigen. Auf der Märchen-Serie "Hänsel u. Gretel" findet sich der Aufdruck: H. A. Hintze Crimmitschau, in der Märchen-Serie "Das Schneiderlein": Ernst Krietsch Inh. Walter Junghanns, Leipzig-Li. Lütznerstr. 76.

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3.
Ludwig Bechstein
Der kleine Däumling

Es war einmal ein armer Korbmacher, der hatte mit seiner Frau sieben Jungen, da war immer einer kleiner als der andre, und der jüngste war bei seiner Geburt nicht viel über Fingers Länge, daher nannte man ihn Däumling. Zwar ist er hernach noch in etwas gewachsen, doch nicht gar zu sehr, und. den Namen Däumling hat er behalten. Doch war es ein gar kluger und pfiffiger kleiner Knirps, der an Gewandtheit und Schlauheit seine Brüder alle in den Sack steckte.

Den Eltern ging es erst gar übel, denn Korbmachen und Strohflechten ist keine so nahrhafte Profession wie Semmelbacken und Kälberschlachten, und als vollends eine teure Zeit kam, wurde dem armen Korbmacher und seiner Frau himmelangst, wie sie ihre sieben Würmer satt machen sollten, die alle mit äußerst gutem Appetit gesegnet waren. Da beratschlagten eines Abends, als die Kinder zu Bette waren, die beiden Eltern miteinander, was sie anfangen wollten, und wurden Rates, die Kinder mit in den Wald zu nehmen, wo die Weiden wachsen, aus denen man Körbe flicht, und sie heimlich zu verlassen. Das alles hörte der Däumling an, der nicht schlief, wie seine Brüder, und schrieb sich der Eltern übeln Ratschlag hinter die Ohren. Simulierte auch die ganze Nacht, da er vor Sorge kein Auge zutun konnte, wie er es machen sollte, sich und seinen Brüdern zu helfen.

Früh morgens lief der Däumling an den Bach, suchte sich die kleinen Taschen voll weiße Kiesel, und ging wieder heim. Seinen Brüdern sagte er von dem, was er erhorcht hatte, kein Sterbenswörtchen. Nun machten sich die AIten auf in den Wald, hießen die Kinder folgen, und der Daumling ließ ein Kieselsteinchen nach dem andern auf den Weg fallen, das sah niemand, weil er, als der Jüngste, Kleinste und Schwächste, stets hintennach troddelte. Das wussten die Alten schon nicht anders.

Im Wald machten sich die Alten unvermerkt von den Kindern fort, und auf einmal waren sie weg. Als das die Kinder merkten, erhoben sie allzumal, Däumling ausgenommen, ein Zetergeschrei. Däumling lachte und sprach zu seinen Brüdern: »Heult und schreit nicht so jämmerlich! Wollen den Weg schon allein finden.« Und nun ging Däumling voran und nicht hinterdrein, und richtete sich genau nach den weißen Kieselsteinchen, fand auch den Weg ohne alle Mühe.

Als die Eltern heim kamen, bescherte ihnen Gott Geld ins Haus, eine alte Schuld, auf die sie nicht mehr gehofft hatten, wurde von einem Nachbar an sie abbezahlt, und nun wurden Esswaren gekauft, dass sich der Tisch bog. Aber nun kam auch das Reuelein, dass die Kinder verstoßen worden waren, und die Frau begann erbärmlich zu lamentieren: »Ach du lieber, allerlieber Gott! Wenn wir doch die Kinder nicht im Wald gelassen hätten! Ach, jetzt könnten sie sich dicksatt essen, und so haben die Wölfe sie vielleicht schon im Magen! Ach, wären nur unsre liebsten Kinder da!- »Mutter, da sind wir ja!« sprach ganz geruhig der kleine Däumling, der bereits mit seinen Brüdern vor der Türe angelangt war, und die Wehklage gehört hatte; öffnete die Türe und herein trippelten die kleinen Korbmacher - eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Ihren guten Appetit hatten sie wieder mitgebracht, und dass der Tisch so reichlich gedeckt war, war ihnen ein gefundenes Essen. Die Herrlichkeit war groß, dass die Kinder wieder da waren, und es wurde, solange das Geld reichte, in Freuden gelebt, dies ist armer Handarbeiter Gewohnheit.

Nicht gar lange währte es, so war in des Korbmachers Hütte Schmalhans wieder Küchenmeister und ein Kellermeister mangelte ohnehin, und es erwachte aufs neue der Vorsatz, die Kinder im Walde ihrem Schicksal zu überlassen. Da der Plan wieder als lautes Abendgespräch zwischen Vater und Mutter verhandelt wurde, so hörte auch der kleine Däumling alles, das ganze Gespräch, Wort für Wort, und nahm sich's zu Herzen.

Den andern Morgen wollte Däumling abermals aus dem Häuschen schlüpfen, Kieselsteine aufzulesen, aber o weh, da war's verriegelt, und Däumling war viel zu klein, als dass er den Riegel hätte erreichen können, dachte aber sich anders zu helfen. Wie es fort ging zum Walde, steckte Däumling Brot ein, und streute davon Krümchen auf den Weg, meinte, ihn dadurch wieder zu finden.

Alles begab sich wie das erste Mal, nur mit dem Unterschied, dass Däumling den Heimweg nicht fand, dieweil die Vögel alle Krümchen rein aufgefressen hatten. Nun war guter Rat teuer, und die Brüder machten ein Geheul in dem Walde, dass es zum Steinerbarmen war. Dabei tappten sie durch den Wald, bis es ganz finster wurde und fürchteten sich über die Maßen, bis auf Däumling, der schrie nicht und fürchtete sich nicht. Unter dem schirmenden Laubdach eines Baumes auf weichem Moos schliefen die sieben Brüder, und als es Tag war, stieg Däumling auf einen Baum, die Gegend zu erkunden. Erst sah er nichts, als eitel Waldbäume, dann aber entdeckte er das Dach eines kleinen Häuschens, merkte sich die Richtung, rutschte vom Baum herab und ging seinen Brüdern tapfer voran. Nach manchem Kampf mit Dickicht, Dornen und Disteln sahen alle das Häuschen durch die Büsche blicken, und schritten gutes Mutes darauf los, klopften auch ganz bescheidentlich an der Türe an. Da trat eine Frau heraus, und Däumling bat gar schön, sie doch einzulassen, sie hätten sich verirrt und wüssten nicht wohin? Die Frau sagte: »Ach, ihr armen Kinder!« und ließ den Däumling mit seinen Brüdern eintreten, sagte ihnen aber auch gleich, dass sie im Hause des. Menschenfressers wären, der besonders gern die kleinen Kinder fräße. Das war eine schöne Zuversicht! Die Kinder zitterten vor Schrecken wie Espenlaub, als sie dieses hörten, hätten gern lieber selbst etwas zu essen gehabt, und sollten nun statt dessen gegessen werden. Doch die Frau war gut und mitleidig, verbarg die Kinder und gab ihnen auch etwas zu essen.

Bald darauf hörte man Tritte und es klopfte stark an die Türe; das war kein andrer, als der heimkehrende Menschenfresser. Dieser setzte sich an den Tisch zur Mahlzeit, ließ Wein auftragen, und schnüffelte, als wenn er etwas röche? dann rief er seiner Frau zu: »Ich wittre Menschenfleisch!« Die Frau wollte es ihm ausreden, aber er ging seinem Geruch nach und fand die Kinder. Die waren ganz hin vor Entsetzen. Schon wetzte er sein langes Messer, die Kinder zu schlachten, und nur allmählich gab er den Bitten seiner Frau nach, sie noch ein wenig am Leben zu lassen, und aufzufüttern, weil sie doch gar zu dürr seien, besonders der kleine Däumling. So ließ der böse Mann und Kinderfresser sich endlich beschwichtigen. Die Kinder wurden zu Bett gebracht, und zwar in derselben Kammer, wo ebenfalls in einem großen Bette Menschenfressers sieben Töchter schliefen, die so alt waren, wie die sieben Brüder. Sie waren von Angesicht sehr hässlich, jede hatte aber ein goldnes Krönlein auf dem Haupt. Das alles war der Däumling gewahr worden, machte sich ganz still aus dem Bette, nahm seine und seiner Brüder Nachtmützen, setzte diese Menschenfressers Töchtern auf, und deren Krönchen sich und seinen Brüdern.

Der Menschenfresser trank vielen Wein, und da kam ihm seine böse Lust wieder an, die Kinder zu morden, nahm sein Messer, und schlich sich in die Schlafkammer, wo sie schliefen, willens, ihnen die Hälse abzuschneiden. Es war aber stockdunkel in der Kammer, und Menschenfresser tappte blind umher, bis er an ein Bett stieß, und fühlte nach den Köpfen der darin Schlafenden. Da fühlte er die Krönchen, und sprach: »Halt da! Das sind deine Töchter! Bald hättest du betrunkenes Schaf einen Eselsstreich gemacht!«

Nun tappelte er nach dem andern Bette, fühlte da die Nachtmützen, und schnitt seinen sieben Töchtern die Hälse ab, einer nach der andern. Dann legte er sich nieder und schlief seinen Rausch aus. Wie der Däumling ihn schnarchen hörte, weckte er seine Brüder, schlich sich mit ihnen aus dem Hause, und suchte das Weite. Aber wie sehr sie auch eilten, so wussten sie doch weder Weg noch Steg, und liefen in der Irre herum voll Angst und Sorge, nach wie vor.

Als der Morgen kam, erwachte der Menschenfresser, und sprach zu seiner Frau: »Geh und richte die Krabben zu, die gestrigen!«- Sie meinte, sie sollte die Kinder nun wecken, und ging voll Angst um sie hinauf in die Kammer. Welch ein Schrecken für die Frau, als sie nun sah, was geschehen war; sie fiel gleich in Ohnmacht, über diesen schrecklichen Anblick, den sie da hatte. Als sie nun dem Menschenfresser zu lange blieb, ging er selbst hinauf, und da sah er, was er angerichtet. Seine Wut, in die er geriet, ist nicht zu beschreiben. Jetzt zog er die Siebenmeilenstiefeln an, die er hatte, das waren Stiefeln, wenn man damit sieben Schritte tat, so war man eine Meile gegangen, das war nichts Kleines.

Nicht lange, so sahen die sieben Brüder ihn von weitem über Berg und Täler schreiten und waren sehr in Sorgen, doch Däumling versteckte sich mit ihnen in die Höhlung eines großen Felsen. Als der Menschenfresser an diesen Felsen kam, setzte er sich darauf, um ein wenig zu ruhen, weil er müde geworden war, und bald schlief er ein, und schnarchte, dass es war, als brause ein Sturmwind.

Wie der Menschenfresser so schlief und schnarchte, schlich sich Däumling hervor wie ein Mäuschen aus seinem Loch und zog ihm die Siebenmeilenstiefeln aus, und zog sie selber an. Zum Glück hatten diese Stiefeln die Eigenschaft, an jeden Fuß zu passen, wie angemessen und angegossen. Nun nahm er an jede Hand einen seiner Brüder, diese fassten wieder einander an den Händen, und so ging es, hast du nicht gesehen, mit Siebenmeilenstiefelnschritten nach Hause.

Da waren sie alle willkommen, Däumling empfahl seinen Eltern, ein sorglich Auge auf die Brüder zu haben, er wolle nun mit Hülfe der Stiefeln schon selbst für sein Fortkommen sorgen, und als er das kaum gesagt, so tat er einen Schritt, und war schon weit fort, noch einen und er stand über eine halbe Stunde auf einem Berge, noch einen, und er war den Eltern und den Brüdern aus den Augen.

Nach der Hand hat der Däumling mit seinen Stiefeln sein Glück gemacht, und viele große und weite Reisen, hat vielen Herren gedient, und wenn es ihm nicht gefallen hat, ist er spornstreichs weiter gegangen. Kein Verfolger zu Fuß noch zu Pferd konnte ihn einholen, und seine Abenteuer, die er mit Hülfe seiner Stiefeln bestand, sind nicht zu beschreiben.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Märchenbuch. Mit den Stahlstichen von Carl Wilhelm Schurig und Andreas Wolfgang Brennhäuser und ausgewählten Holzschnitten nach Originalzeichnungen von Ludwig Richter. Hrsg. von Hans-Heino Ewers (Universal-Bibliothek; 9483) Stuttgart: Reclam 1996. Hier S. 193-199. Das "Deutsche Märchenbuch" erschien 1845.

Zu Ludwig Bechstein (1801-1860) und seinem "Märchenbuch" siehe die Einträge in Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Bechstein
https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_Märchenbuch

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Illustrationen von Oscar Herrfurth im Goethezeitportal

Münchhausens Abenteuer
http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=2198

Der Rattenfänger von Hameln
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Die Bremer Stadtmusikanten
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Der Wolf und die sieben Geißlein
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Das Märchen vom Schlaraffenland
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Das Marienkind
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Der kleine Däumling
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Einen Überblick über die Märchen- und Sagenmotive
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4. Kurzbiographie zu Oskar Herrfurth

Oskar Herrfurth, geb. 1862 in Merseburg, gest. 1934 in Hamburg, war ein deutscher Maler und Illustrator. Seine Ausbildung erhielt er an der Kunstschule in Weimar, in Weimar lebte er auch viele Jahre, später dann in Hamburg. Er malte Genrebilder sowie Märchen- und Sagenbilder, die auch in Postkartenserien erschienen. Er illustrierte Märchen der Brüder Grimm, von H. C. Andersen und L. Bechstein, Karl May, Volkslieder und zahlreiche Kinder- und Jugendschriften. (Artikel Oskar Herrfurth in Wikipedia.de, der freien Enzyklopädie. Redigiert u. ergänzt.)

Bibliographische Nachweise: Hans Ries: Illustration und Illustratoren des Kinder- und Jugendbuchs im deutschsprachigen Raum 1871-1914. Osnabrück: Wenner 1992. ISBN: 3-87898-329-8

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