goethe


Jutta Assel | Georg Jäger

Heinrich von Kleist
Das Käthchen von Heilbronn

Eine Dokumentation

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Eingestellt: Oktober 2011
Update Mai 2017

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Gliederung

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1. Das Käthchen von Heilbronn

Für die Entstehung des "Käthchen von Heilbronn" ist der Druck des ersten "Fragments" im April/Mai-Heft der Zeitschrift "Phöbus" im Juni 1808 das erste gesicherte Datum. Die Arbeit am Drama dürfte Ende September / Anfang November 1808 abgeschlossen gewesen sein. Die Uraufführung in einer bearbeiteten Fassung erfolgte am 17. März 1810 im Schauspielhaus an der Wien; der Erstdruck im Verlag von Georg Andreas Reimer, der Realschulbuchhandlung in Berlin, lag im September 1810 vor. Kleist bezeichnete das "Käthchen von Heilbronn" als "die Kehrseite d[e]r Penthesilea ihr andrer Pol, ein Wesen das eben so mächtig ist durch gänzliche Hingebung als jene durch Handeln", und erläutert: "Denn wer das Käthchen liebt, dem kann die Penthesilea nicht ganz unbegreiflich sein, sie gehören ja wie das + und - der Algebra zusammen, und sind Ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Beziehungen gedacht" (Kleist, Brandenburger Ausgabe, Bd. I/6, S. 303, 305) - Andeutungen, die sich Interpreten auszulegen mühen.

Handlung und Personen scheinen frei erfunden. Zwar weist Karl August Böttiger in einer Aufführungsbesprechung 1819 auf eine Quelle hin: "Bei seinen militärischen Streifzügen durch Schwaben fand Kleist die ganze Legende von Käthchen als eine Volkssage. Er bewahrte selbst das gedruckte Flugblatt noch auf, das er auf einem Jahrmarkte gekauft hatte." Eine solche Vorlage aber wurde bislang nicht gefunden; auch hat Kleist niemals "militärische Streifzüge durch Schwaben" unternommen. Das Motiv des dem geliebten Grafen bedingungslos folgenden Mädchens fand Kleist in Bürgers Gedicht "Graf Walter. Nach dem Altenglischen" (1789), das auf die Ballade "Child Waters" in Percys "Reliques of Ancient English Poetry" zurückgeht: Das schöne Mädchen, vom Grafen schwanger, dient ihm und zieht mit ihm verkleidet als "Leibbursche," wird zur Probe immer unmenschlicher gedemütigt und bringt das Kind im Stall zur Welt.

Kleists Käthchen ist keine historische Figur. Die Handlung bezieht sich nicht auf ein bestimmtes historisches Ereignis; vielmehr spielt das Stück in vier Jahrhunderten. "Um die exakte Wiedergabe geschichtlicher Daten und Fakten ist es Kleist ersichtlich nicht gegangen, er mixt die historischen Elemente zugunsten einer effektvollen Kulissen- und Kostümdramatik, wie in der Rittermode des Theaters seiner Zeit üblich." (Blamberger, S. 347) Bei der Rede des schlafenden Käthchen mit Graf Wetter vom Strahl (Akt IV, Auftritt 2, "Hollunderbuschszene") hat sich Kleist von der zeitgenössischen Diskussion über Somnambulismus und Magnetismus anregen lassen.

In Bearbeitungen und Kürzungen war das "Käthchen von Heilbronn" bis 1945 ein Kassenschlager. In der Bearbeitung von Franz von Holbein (1779-1855) wurde das Stück von 1811 bis 1822 an rund 30 deutschen Bühnen aufgeführt, in der Bearbeitung von Karl Franz Siegen (1851-1917) von 1889 bis 1900 in ca. 60 deutschsprachigen Bühnen (Barthel, S. 25, 33). Die Aufführungszahlen erreichten in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts Höhepunkte: Zwischen dem 1.9.1924 und dem 31.8.1925 wurde "Käthchen" 133 mal, zwischen dem 1.9.1927 und dem 31.8.1928 112 mal, in der Spielzeit 1936/37 sogar 323 mal an deutschsprachigen Bühnen gegeben (Barthel, 36, 38) Es erschienen Opern, Ouvertüren und andere Käthchen-Musik (u.a. eine Orchestermusik von Hans Pfitzner), Parodien u.a.m.

Die Hinweise stützen sich auf folgende Literatur:
* Heinrich von Kleist: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe | ein großes historisches Ritterschauspiel. Hrsg. von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle (Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. I/6) Basel u.a.: Stroemfeld / Roter Stern 2004.
* Karl August Böttiger: Chronik der Königl. Schaubühne zu Dresden, Teil 1. Abendzeitung (Dresden), 15.12.1819, Nr. 299. Online in den Dokumenten und Zeugnissen der Brandenburger Kleist-Ausgabe, URL: www.textkritik.de/bka/dokumente/journal/a/abendzeitung191215.htm
* Wolfgang Barthel: Kleists "Käthchen von Heilbronn". Ausgewählte Daten zur Wirkung. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 1981, S. 24-41.
* Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2011. Die Schöne und das Biest. Das Käthchen von Heilbronn, S. 343-356.
* Uwe Henrik Peters: Somnambulismus und andere Nachtseiten der menschlichen Natur. In: Kleist-Jahrbuch 1990, S. 135-152.

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Kurzcharakterisierung durch Börne 1818

Graf Wetter von Strahl, reich, im Lande angesehen, edelstolz, voll des Mutes und der Kraft seines jugendlichen Alters und jener alten Zeit, ein an Seele wie an Leib geharnischter Ritter - und Käthchen, Tochter eines Bürgers von Heilbronn, ein süßes wunderschönes Mädchen, werden, sie, die sich nie gesehen, von einer geheimnisvollen Macht einander im Traume angetraut. Dem todkrank darniederliegenden Grafen erscheint im Wahnsinne des Fiebers ein glänzender Cherub, führt ihn weit weg in die Kammer eines schönen Kindes und zeigt es ihm als die für ihn bestimmte Braut, sagend, es sei die Tochter des Kaisers. Dieselbe Nacht sieht Käthchen im gesunden Traume (das gesunde Weib erhebt sich zum kranken Manne wie das wache zum schlafenden) einen schimmernden Ritter eintreten, der sie als seine Braut begrüßt. So sich angelobt, bringt später ein Zufall den Grafen in Käthchens Vaterhaus. Diese, ihn erblickend, erkennt allsogleich die Traumgestalt. Da stürzt plötzlich ihres Körpers und ihrer Seele Bau und eigene Haltung zusammen, sie fliegt ihrem Pole zu und bleibt ohne Willen und Bewegung an ihm hangen. Vergebens wird sie vom Ritter weggerissen, von diesem selbst mit Füßen zurückgestoßen, wie ein Tier, wie eine Sache behandelt, sie ist immer wieder da und folget ihm auf allen seinen Zügen. Wohl lernt er das Bürgermädchen lieben, aber werter bleibt ihm sein Ritteradel. 

Endlich bis in den Grund des Herzens gerührt, forscht er Käthchens Inneres aus, da sie einst im magnetischen Schlummer sich befand, wo die Seele, zwischen der Nacht der Erde und dem Tage des Himmels in der dämmernden Mitte schwebend, mit einem Blicke beide umfasst, und da ward ihm kund, was er im Geräusche eines tatenvollen Lebens nicht früher erhorchen konnte, dass sie die Verheißene sei, die ihm im Traume gezeigt worden. Später tritt auch der Kaiser auf, gibt sich als Käthchens natürlicher Vater zu erkennen und diese, nachdem er sie zur Fürstin erhoben, dem Grafen zum Weibe.

Dieses Schauspiel ist ein Edelstein, nicht unwert an der Krone des britischen Dichterkönigs zu glänzen. Man braucht nur den herrlichen Monolog des Grafen, womit der zweite Akt beginnt, gelesen zu haben, um das Lob gerecht zu finden. Um so deutlicher fallen zwei Flecken in das Auge. Die wirkliche Erscheinung des Cherubs beim Sinken des brennenden Schlosses Thurneck konnte nicht unzeitiger geschehen. Die Seele, die so tief geneigt war, sich dem Anwehen einer verborgenen Geisterwelt, die im Traume sich offenbarte, gläubig hinzugeben, wird durch das sinnliche Wunder, das sich im Wachen ergibt, enttäuscht und wendet sich, nüchtern gemacht, vom Unbegreiflichen kalt hinweg. Zweitens spielt das Fräulein Kunigunde, ohne Willen des Dichters, die Rolle der Närrin in diesem ernsten Schauspiele. Gibt es eine tollere Erfindung als dieses Fräulein, welches durch Schönheit und Liebreiz allen Rittern des Landes den Kopf verrückt und am Ende sich als eine garstige Hexe kundgibt, die mit falschen Zähnen, aufgelegter Schminke und einem schlankmachenden Blechhemde die Göttin Venus vorzulügen verstand?

Ludwig Börne: Sämtliche Werke. Neu bearb. und hrsg. von Inge und Peter Rippmann. Bd. 1. Düsseldorf: Joseph Melzer 1964, S. 303- 307. Dramaturgische Blätter, Nr. 25, 1818.

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2. Heilbronn und sein Käthchen

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Oben: Heilbronn und sein Kätchen. Verso: Phot. und Verlag von C. Brenner-Schilling 1912. Rechts unten: 8379. Gelaufen. Poststempel 1912. Text auf Bildseite: Andre Städtchen, andre Mädchen / Lieb und hold von Angesicht. / Doch so ein "Heilbronner Kätchen" / Findet man sonst nirgends nicht.
Mitte: Heilbronn a.N. Das Kätchen von Heilbronn. Montage mit folgenden Bildern: Götzenturm; Rathaus. Links Kätchenhaus mit Erker; Fr. Ebert-Brücke mit Insel-Hotel; Kilianskirche; Neue Schleuse. Verso: Gebr. Metz, Tübingen. 840/321 Echt Bromsilber. Agfa eOe. Gelaufen. Datum und Poststempel 1961.
Unten: Heilbronn a.N. Verso: M. Ruoff, Ansichtskarten-Manufaktur, Heilbronn. Nicht gelaufen, aber beschrieben. Datiert 1921. Text auf Bildseite: Andre Städtchen, andre Mädchen / Lieb u. hold von Angesicht. / Doch so ein Heilbronner Kätchen / Findet man sonst nirgends nicht.

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Käthchen und das Käthchenhaus

Ein schwüler Augusttag brannte heiß über dem Marktplatze der freien Reichsstadt Heilbronn. Kaum zitterte ein Lüftchen um die mit Linnen verhängten Fenster des hohen Eckhauses, dessen eine Seite auf den Markt, die andere auf die Gasse sieht, welche hinaus zur Neckarbrücke führt, und nur zur Hälfte war der schlanke Erker von dem Schatten bedeckt, welchen die hohe Kilianskirche auf ihn warf.

Aus der offenen Thüre des Erdgeschosses dieses Hauses schallte ein dreistimmiger Gesang zwischen dem dumpfen Getöse schwerer Hämmer heraus; derselbe lautete:

Laßt die Hämmer lustig fallen,
Daß vom Amboß lautes Schallen
Weithin durch die Lüfte klingt;
Zieht der Bälge feste Stränge,
Daß hellauf die Funkenmenge
Prasselnd aus der Esse springt!

Wir, wir sind's, die Schwerdter schaffen
Und des Ritters blanke Waffen
Uns`re Faust so hart wie Stahl;
Beim Bankett, im heißen Streite
Trägt er sie an seiner Seite,
In der Schlacht, im Festessaal!

Wie das Eisen hell erglühet!
Von dem Feuer rings umsprühet,
Ha! wie flammt die rothe Glut!
So soll in den jungen Tagen
Unser Herz voll Freude schlagen,
Waffenschmiede - lustig Blut!

Auf einmal verstummten die Schläge, wie der Gesang, als es auf dem Thurme 4 Uhr schlug, und unter der Thüre erschien mit aufgestreiften Hemdärmeln eine breitschultrige Gestalt, ein ledernes Käppchen auf dem schon etwas ergrauten Kopfe und ein großes, zackiges Schurzfell um die Hüfte. Es war der Waffenschmied Walther. Er rückte einen Stuhl ohne Lehne unter die Thüre, stellte ein Krüglein mit Wein auf den Fenstersims, wozu er einen Laib Brot legte, und nachdem er sich die schweren Schweißtropfen von der Stirne gewischt, begann er zu vespern.

Oben aber, über der Werkstätte, am halbgeöffneten Fenster des Erkers, hinter einem kleinen Blumenbrette mit Levkoien, über welchem ein Käfig mit einem muntern Distelfinken hing, stand ein Mägdlein von kaum fünfzehn Jahren. Ein schwarzsammtnes Leibchen umschloß die leicht geschwellten Rosen ihrer Brust, und schneeweiße Ärmel stachen glänzend dagegen ab, während ein anliegendes, hellblaues, linnenes Kleid an dem zarten Körper hinabwallte. Die Kleine bot so recht das liebliche Bild eines Engels, der mit hellen Augen aus den Wolken hervorblickt, wie sie so dastand, ihre Blumen begoß, dem Distelfinken ein frisches Salatblättchen zwischen das Drahtgitter steckte und ihm den kleinen runden Finger zum Picken hinbot.

Friedrich Norden: Des Waffenschmieds Töchterlein. Eine Erzählung aus Heilbronns Vorzeit. In: Vorzeit und Gegenwart. Historisch-romantische Schilderungen aus Schwaben und Franken. Bd. 1. Stuttgart: Eduard Fischhaber 1861, S. 266-331. Hier S. 266f.

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Links: Heilbronn. Kätchenhaus. Verso, rechts unten: 16 4604. Nicht gelaufen.
Rechts: Käthchenhaus u. Kaiserstrasse. Käthchen v. Heilbronn. Verlag von A. Landerer, Heilbronn. Druck v. Louis Glaser, Leipzig. Gelaufen. Datiert und Poststempel 1899. Andressseite ungeteilt.

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1. Karte von oben: Gruß aus Heilbronn. Kätchen m. Kätchenhaus. Verso: Original-Eigentum der Ansichtskarten-Manufaktur M. Ruoff, Heilbronn. Gelaufen. Datiert und Poststempel 1913.
2. Karte von oben: Heilbronn a.N. Kätchen und Kätchenhaus. Verso: Phot. u. Verlag v. C. Brenner-Schilling, Heilbronn. Gelaufen. Datiert und Poststempel 1925.
3. Karte von oben: Kätchenhaus und Kätchen von Heilbronn. Verlag von Brenner-Schilling, Heilbronn a.N. 540. Gelaufen. Datiert und Poststempel 1904. Adressseite ungeteilt.
4. Karte von oben: Kätchen von Heilbronn. Handschriftlich: 21. November 1906. Verso: C. F. Frey Nachf., Heilbronn 3268. Gelaufen. Poststempel 1906.

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Links: Das Kätchen von Heilbronn. F.M.K. 3233. Gelaufen. Poststempel unleserlich.
Rechts: Das Kätchen von Heilbronn. Fotopostkarte. - Mit Spindel, in Anlehnung an einen Bildtypus zu Goethes Gretchen.


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3. Illustrationen zu Kleists Ritterschauspiel

Wilhelm Nerenz: Der Engel leitet Käthchen aus dem brennenden Schloss. 

Aus der Stiftung Sammlung Volmer:
http://www.stiftung-volmer.de/main.php?g2_itemId=1038
Es handelt sich um eine Szene aus dem fünfteiligen Gemälde zu Kleists "Käthchen von Heilbronn" (1836-1837; Breite 350, Höhe 138 cm). Die zentrale Szene "Die Hochzeit" in Wikimedia Commons: 
http://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Wilhelm_Nerenz?uselang=de
- Zu Wilhelm Nerenz (1804-1871) vgl. den Artikel in Wikipedia:
http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Nerenz

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Heinrich Anton Dähling: Kätchen von Heilbronn. Um 1825.
 Öl auf Leinwand. Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum. 

In: Deutsche Romantiker. Bildthemen der Zeit von 1800 bis 1850. Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München. München: Hirmer 1985, Nr. 134. Kätchen von Heilbronn und Graf vom Strahl; 4. Akt, 2. Szene. - Zu Heinrich Anton Dähling (1773-1850) vgl. den Artikel in Wikipedia: 
http://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Anton_Dähling

Zur Vorzeichnung des Gemäldes siehe: Ahnung & Gegenwart. Zeichnungen und Aquarelle der deutschen Romantik im Berliner Kupferstichkabinett. Berlin: Staatliche Museen zu Berlin 1994, Nr. 86. ISBN 3-89479-065-2

Abbildung auch in: Hannelore Schlaffer: Epochen der deutschen Literatur in Bildern. Klassik und Romantik. Stuttgart: Alfred Kröner 1986, Tafel VII. Kommentar (S. 98): Das Gemälde "stellt die Befragung Käthchens durch den Grafen Wetter vom Strahl dar. Käthchen im blauen Umhang ist eine sinnende Madonna, der Graf ein Aktaion mit griechischem Profil im Gewand der italienischen Renaissance; den Krug scheint Käthchen aus einem niederländischen Stilleben geholt zu haben; im Vordergrund umschließt die Figuren ein Gessnersches Idyll, hinter ihnen verliert sich die Landschaft in romantischer Ferne."

Nach den Forschungen von Barbara Wilk-Mincu stellt das Gemälde nicht die Holunderbuschszene dar. Sie argumentiert wie folgt: 

"Das Gemälde kann nicht die Holunderbuschszene aus dem Käthchen von Heilbronn darstellen, da nicht einmal ein Holunderstrauch zu sehen ist und auch keine Mauerausläufer eines Schlosses, wie es bei Heinrich von Kleist beschrieben ist. Stattdessen steht ein Krug neben dem schlafenden Mädchen, mit dem sie wohl Wasser aus dem vorne fließenden Bach schöpfen wollte. Zu diesem Zweck ist er aber zu schön, so daß er wohl eher die unversehrte Jungfräulichkeit des Mädchens symbolisieren soll. Der sie betrachtende Mann ist durch seine praktische Kleidung, durch das Hifthorn und seinen Hund als Jäger gekennzeichnet, kann also nicht der Graf sein. Vielmehr handelt es sich bei dem Bild um das Motiv der Frauen- oder Liebesjagd, der Jäger betrachtet das Mädchen, das durch den Schlaf seine Wachsamkeit aufgegeben hat, als willkommene „Beute“, ist aber freundlich dargestellt, und der Hund verspricht Treue.
Das ganze 19. Jahrhundert hindurch wurde das Bild in Nachschlagewerken Jüngling im Jägerkleid, ein schlummerndes Mädchen betrachtend oder einfach nur Schlafendes oder Schlummerndes Mädchen genannt. Erst als es 1916 vom Provinzialmuseum Hannover (heute Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Landesgalerie) gekauft wurde, gab man ihm fälschlicherweise den Namen Käthchen von Heilbronn und der Graf Wetter vom Strahl." (Zusammenfassung der Autorin für das Goethezeitportal)

Vgl.: Wilk-Mincu, Barbara: Das Käthchen von ... Hannover. In: Heilbronner Kleist-Blätter 14 (2003) S. 143-164. 
URL: http://www.kleist.org/hkb/hkbinhalt.htm

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Moritz von Schwind: Das Kätchen von Heilbronn. 
Öl auf Leinwand, Höhe 85, Breite 65,7 cm. 1826. 

In: Moritz von Schwind. Meister der Spätromantik. Ostfildern-Ruit: Gerd Hatje 1997, Nr. 64. - Vgl. die Schwarz-Weiss-Abbildung in: Schwind. Des Meisters Werke in 1265 Abbildungen. Hrsg. von Otto Weigmann (Klassiker der Kunst in Gesamtausgaben; 9) Stuttgart, Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt 1906, S. 51. - Zu Moritz von Schwind (1804-1871) vgl. den Artikel in Wikipedia:
http://de.wikipedia.org/wiki/Moritz_von_Schwind

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Wilhelm Nerenz: Die Hochzeit 

Mittelteil aus dem fünfteiligen Gemälde zu Kleists "Käthchen von Heilbronn" (1836-1837; Breite 350, Höhe 138 cm). Quelle Wikimedia Commons:
http://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Wilhelm_Nerenz?uselang=de 
Zu Wilhelm Nerenz (1804-1871) vgl. den Artikel in Wikipedia: 
http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Nerenz 

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Kleists Dramatische Meisterwerke. Illustrierte Ausgabe.
Leipzig: Verlag der Literaturwerke "Minerva" [1900]

Auswahl

Das Käthchen von Heilbronn
I. Akt, 1. Auftritt

Erste Begegnung in der Waffenschmiede. Als Kätchen den Ritter erblickt, lässt sie das Tablett mit Geschirr, Becher und Imbiss fallen und "leichenblass, mit Händen, wie zur Anbetung verschränkt, den Boden mit Brust und Scheitel küssend, stürzt sie vor ihm nieder, als ob sie ein Blitz niedergeschmettert hätte!"

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Das Käthchen von Heilbronn
III. Akt, 6. Auftritt

Käthchen  will einen Brief überreichen, wird jedoch vom Grafen von Strahl abgewiesen. "Die Dirne, die landstreichend unverschämte! Ich will nichts von ihr wissen! hinweg sag' ich! Zurück nach Heilbronn, wo du hingehörst! [...] Die Peitsche her; an welchem Nagel hängt sie? Ich will doch sehn, ob ich vor losen Mädchen In meinem Haus nicht Ruh mir kann verschaffen.

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Das Käthchen von Heilbronn
Akt IV, Auftritt 2

Szene am Mauerring der Burg Wetterstrahl. "Vorn ein Holunderstrauch, der eine Art von natürlicher Laube bildet, worunter von Feldsteinen, mit einer Strohmatte bedeckt, ein Sitz. An den Zweigen sieht man ein Hemdchen und ein Paar Strümpfe u.s.w. zum Trocknen aufgehängt." Kätchhen spricht im Schlaf zum Grafen von Strahl, der sich auf Knien vor ihr niederlässt.

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Kätchen v. Heilbronn. Graf Wetter vom Strahl. Erste Begegnung in der Waffenschmiede ihres Vaters. 8095. Verlag v. C. Brenner-Schilling, Heilbronn. H. Volk Kunstanstalt Heilbronn. Gelaufen. Datiert und Poststempel 1904. Adressseite ungeteilt.

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Nachdem der Ritter Platz genommen, sprang Meister Walther nach Eisen und einem Drathe, um die Achselschiene wieder in Ordnung zu bringen. Aber ehe er an die Arbeit ging, öffnete er die Thüre und rief die Stiege hinauf: "Käthe! schnell ein Krüglein Wein, vom Besten, den wir im Keller haben! ein hoher Gast ist bei mir eingekehrt!" - und zu dem Grafen gewendet aber setzte er hinzu: "Ihr seid so gnädig, Etwas anzunehmen, indeß ich Euch die Schiene flicke? Denn Rittersleute haben auch, wie unser Einer, der ihnen die Waffen schafft, zu jeder Stunde guten Muth zu einem Becher Wein!"

"Mein Seel!" lächelte der Graf, "Ihr seid ein lieber Meister, und gerne trink' ich Eins mit Euch auf weitere Kundschaft!"

Nach einer kleinen Weile öffnete sich die Thüre und Käthchen trat herein mit einer silbernen Platte, darauf sich ein Krug und ein fein getriebener Becher nebst einem Laibchen weißen Brodes befanden. Aber kaum hatte sie den Grafen schüchtern gegrüßt, so überzog eine hohe Röthe, auf welche plötzlich eine Leichenblässe folgte, ihr Gesicht, - und die Platte sammt Allem, was darauf war, fiel 
klirrend zu Boden.

Friedrich Norden: Des Waffenschmieds Töchterlein. Eine Erzählung aus Heilbronns Vorzeit. In: Vorzeit und Gegenwart. Historisch-romantische Schilderungen aus Schwaben und Franken. Bd. 1. Stuttgart: Eduard Fischhaber 1861, S. 266-331. Hier S. 269f.

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Kätchen von Heilbronn. Graf Wetter vom Strahl. Erste Begegnung in der Waffenschmiede ihres Vaters. Verso: Phot. u. Verlag von C. Brenner-Schilling, Heilbronn 1922. Nicht gelaufen.

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Gruss aus Heilbronn. Käthchen v. Heilbronn. Druck v. H. Volk, Kunstanstalt, Heilbronn a.N. Gelaufen. Poststempel unleserlich. Text auf Bildseite: Es liegt das Käthchen tief im Schlummer / Und träumt bei Leid u. Seelenkummer. / "Zum Strahl zum theuren will ich fliegen. / Die Liebe, Liebe, sie wird siegen."

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4. Kleists Drama als Erzählstoff

Ausgewählte Illustrationen aus Volksbüchern

"Das Käthchen ist ein Genremix aus Märchen, Schauerroman, Ritterdrama und Legende. Es mischt alle Motive des Phantastischen und Wunderbaren aus diesen Genres: das Motiv der falschen und echten Braut, der unerkannten Kaisertochter, der Giftmischerei der Hexe, des Gottesgerichts, der Schutzengel." (Blamberger, S. 356) Es verwundert darum nicht, dass die von Kleist erfundene Geschichte in "historisch-romantischen" Schilderungen, "Historien" und Sagen, Volksbüchern und Kolportageromanen nacherzählt, ausgeschmückt und variiert wurde und in diesen medialen Um-Schreibungen viele Leser erreichte.

Die unten wiedergegebene Anzeige belegt, wie der Erzählstoff in die volkstümliche Publikationsform der "Historie" bzw. des Volksbuches Eingang fand. Die von Karl Zimmermann verfasste "Historie vom Käthchen von Heilbronn und vom Ritter Wetter von Strahl" wird zusammen beworben mit der "Sage vom Freischützen", dem "Mährlein vom treuen Ekhart und vom Ritter Tannhäuser", "Leben, Thaten und Höllenfahrt des Doktor Faust", weiterhin mit der "Wundersamen Historie vom Ritter Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand", den "drei Mährchen vom gestiefelten Kater, vom Däumling und vom Aschenbrödel" usf. Ottmar Friedrich Heinrich Schönhuth, dessen "wunderbare und anmuthige Historie" vom Käthchen von Heilbronn hier öfters herangezogen wird, hat eine ganze Reihe von Volksbüchern verfasst, darunter: "Fortunatur mit seinem Seckel und Wunschhütlein", "Ahasverus, der ewige Jude", "Wilhelm Tell. Eine Geschichte der Vorzeit", Melusina, Magdelona, Genovefa, Siegfried, Heimonskinder, "Historie von der geduldigen Griseldis", Schwanenritter, Kaiser Oktavianus, "der baierische Hiesel", "Robert der Teufel", "Dr. Faust's ärgerliches Leben und schreckliches Ende", "Hugdietrich's Brautfahrt u. Hochzeit", "Ritter Götz von Berlichingen" u.a.m. Schönhuth publizierte bei Fleischhauer und Spohn in Reutlingen. Da Reutlingen ein Zentrum der Kolportage war, ist davon auszugehen, dass diese Volksbücher nicht nur über den Sortimentsbuchhandel, sondern vor allem durch Kolporteure, d.h. Wanderhändler, und "Büchertischler", d.h. fliegende Händler auf Jahrmärkten, Messen u. dgl. an eine breite Schicht verbreitet wurden. Selbstverständlich bedienten sich in diesem Genre, das die Literaturkritik nicht beachtete, die Autoren bei ihren Vorgängern. So fällt auf, dass sich die Volksbuchfassungen von Zimmermann (1841) und Schönhuth (Erstausgabe 1850) an der Erzählung "Das Käthchen von Heilbronn" in Reumonts "Rheinlands Sagen, Geschichten und Legenden" von 1837 orientieren. Eine Untersuchung der Filiationen der Bearbeitungen des "Käthchen"-Stoffes im 19. Jahrhundert fehlt.

Quelle für die Titel von Schönhuth:
Das Käthchen von Heilbronn. Eine wunderbare und anmuthige Historie. Mit schönen Figuren geziert. Neu erzählt für Alt und Jung von Ottmar F[riedrich] H[einrich] Schönhuth. Reutlingen, Druck und Verlag von Fleischhauer und Spohn 1854 (Digitalisierung durch Google). Verlagsanzeige am Ende des Werkes; Reihenfolge und Titelansätze werden übernommen. Vgl. das Kapitel "Das Käthchen von Heilbronn" in Erzählung und Roman, Volksbuch und Kolportageroman.

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Anzeige der C. H. Beck'schen Buchhandlung in Nördlingen über Bücher, die in Erfurt in der Expedition der Thüringer Chronik erschienen sind. Beilage zum Nördlinger Wochenblatt 1842, Nro. 27, S. 268. Illustriert ist der "Freischütz" (II. Aufzug, 6. Auftritt): Guss der Kugeln in der Wolfsschlucht. Vgl. Carl Maria von Weber: Der Freischütz. Dokumente und Illustrationen, URL:
http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=6436

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In Heilbronn lebte vor Zeiten ein Waffenschmidt, Namens Friedeborn, dem, aus einer frü durch den Tod seiner Gattin aufgelösten Ehe, eine einzige Tochter, Namens Katharina, geblieben war. Das Kind war am heiligen Ostersonntage geboren, und darum mögen auch mancherlei überirdische Gewalten von früh an Einfluß auf dasselbe gehabt haben, obgleich sich dieser durch nichts Unheimliches ioder Verwirrendes kund gab; denn Käthchen war in ihrem sechszehnten Jahre ein Kind - recht nach der Lust Gottes, gesund an Leib und Seele, wie es die ersten Menschen gewesen sein mögen, die auf Erden geboren worden; und dabei ein Wesen von so zarter, frommer und lieber Art, wie es uns nur vergönnt ist zu sehen, wenn wir auf Flügeln der Einbildung uns in den Himmel versetzen, zu den lieben kleinen Engelein, die mit hellen Augen aus den Wolken - aus den lichten Wolken hervorgucken.

Ging sie in ihrem bürgerlichen Schmuck über die Straße, den gelb gelackten Strohhut auf, die Brust von dem schwarzsammtenen Leibchen bedeckt und mit Silberkettlein umhängt, so lief es flüsternd von allen Fenstern herab: Das ist das Käthchen von Heilbronn - "Das Käthchen von Heilbronn!" - sagten die Leute, als ob der Himmel von Schwaben sie gezeugt, und die Stadt, die unter ihm liegt, sie geboren hätte.
 (Reumont, 362f. - Die folgende Passage von Schönhuth nimmt diese Charakteristik auf.)

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Katharina oder Käthchen, wie sie der Vater und die Nachbarn freundlich zu nennen pflegten, [war] in ihrem fünfzehnten Jahre ein Kind - recht nach der Lust Gottes, gesund an Leib und Seele, wie es die ersten Menschen gewesen, die auf Erden geboren werden; sie war so zart, fromm und lieb, wie wir uns die lieben Engelein im Himmel denken, die mit hellen Augen aus den Wolken uns angucken.

Ging das Mägdlein in ihrem bürgerlichen Anzug über die Straße, das schwarze Sammthäublein um den Kopf, von dem zwei niedlich gewundene Zöpfe, gelb wie Gold, herniederhingen, um die Brust das grünsammtene Mieder mit silbernen Kettlein, so deutete Jedmänniglich auf sie, und man flüsterte sich zu: Das ist das Käthchen von Heilbronn.
 

Das Käthchen von Heilbronn, sagten die Leute, als ob der Himmel von Schwaben sie gezeugt, und die Stadt, die unter ihm voll Üppigkeit und Wohlstand sich ausbreitet, sie geboren hätte. (Schönhuth, S. 2f.)

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Sie hatte nur den schlanken Ritter mit den goldgelockten Haaren und dem wogenden Helmbusche im Auge, zu dem ihr Herz so plötzlich mit der heftigsten Liebe entbrannt war, und es dünkte ihr, als wende er sich öfters nach ihr um und winkte mit den Augen, als sollte sie ihm folgen. Laut pochte ihr Herz, die Augen gingen ihr von Thränen über und sie breitete die Arme aus, als wollte sie ihn damit umfangen und zurückhalten. Jetzt mußte der Ritter um die Ecke biegen: noch einmal wendete er sich nach dem Hause, wo das Mägdlein mit ringenden Armen am Fenster stand; den letzten Blick warf er ihr zu, dann setzte er dem Rosse die Sporen ein, ließ den Zügel schießen und sprengte hastig davon. In dem Augenblicke, wo der Graf ihren verfolgenden Blicken entschwand und der wogende Helmbusch nicht mehr von ihr gesehen wurde, war sie ihrer Sinne nicht mehr mächtig. Mit aufgehobenen Armen, gleich einer Verlorenen, stürzte sie sich aus dem obersten Fenster auf das Pflaster heraus und blieb wie todt daselbst liegen.

"Herr Jesus! mein Kind; Käthchen, mein Käthchen, was hast du gethan?"

Mit diesen Worten sprang der Vater, der selbst kaum noch Leben fühlte, jammernd hinaus auf die Straße, es folgten flugs die Gesellen und Mägde, und sie trugen das ohnmächtige Käthchen in's Haus, legten es auf ein Bett, holten frisches Wasser herbei und benetzten Gesicht und Brust; aber die Jungfrau regte sich nicht und es schien kein Leben mehr in ihr zu sein. Alles war voller Bestürzung, nur Mariane, die Gürtelmagd, hatte allein Besinnung genug, schnell nach einem Bader zu laufen, der in der Nachbarschaft wohnte, und alsbald eilte derselbe mit Bindzeug, Essenzen und Pflaster herbei, öffnete dem Mägdlein eine Ader und rieb ihr die Schläge so lange, bis es wieder zu sich kam und die Aeuglein aufschlug.
 (Zimmermann, S. 8-10)

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Zu gleicher Zeit lief eine Frau mit fliegenden Haaren [Kunigunde] dem Schuppen zu, und hinter ihr der Köhlerknabe. Helft mir, schützt mich, rief sie dem Grafen und seinem Knappen zu, sonst bin ich des Todes, denn mein Verfolger wir[d] bald hier sein. Sie hatte noch nicht ausgeredet, so stand ein Ritter [Graf von Freiburg] mit blosem Schwert und herabgelassenem Helmsturz hinter ihr, und wollte sie mit der Linken fassen, um sie in die Hütte zurückzuziehen. Aber der Graf von Strahlenburg stand blitzschnell zwischen Beiden, und auch er hatte das Schwert gezogen. Zurück von dieser Bedrängten! rief er, denn sie hat sich unter meinen Schutz gestellt. Aber der unbekannte Ritter ließ sich nicht irre machen, und wollte die Entflohene mit Gewalt davon reißen. Da ließ der Graf seine Klinge über dem Haupte des Gegners sausen, aber auch dieser säumte nicht. Ein hartnäckiger Kampf begann, daß die Funken aus den Helmen stoben. Es blieb lange unentschieden, wer die Oberhand behalten würde; da holte Graf Friedrich kräftig aus, und spaltete mit einem Hieb den Helm seines Gegners, daß er klirrend zu Boden fiel; betäubt sank der Ritter zur Erde. Der Köhler und sein Junge waren indessen mit Fackeln herbeigeeilt; sie liefen dem Gefallenen zu, dem das Blut stromweise über das Gesicht floß. (Schönhuth, S. 47f.)

*****

Alle wichen erschrocken zurück, und kaum hatte sie den Grafen, der sich loszumachen suchte, in Sicherheit gebracht, als die ganze vordere Seite des Schlosses mit fürchterlichem Geprassel zusammenstürzte. Dem Grafen, wie er das Gebäude in Schutt und Trümmer sinken sah, worin die Jungfrau sich befand, vergingen fast die Sinne, und einem steinernen Bilde gleich, stand er da, beide Hände kramphfast [recte: krampfhaft] vor die Stirne gedrückt. Ehe sich aber noch Jemand von seinem großen Schrecken erholte, trat Käthchen, eine Papierrolle in der Hand, aus dem großen Portale, welches stehen geblieben war, unversehrt hervor, ging einige Schritte vorwärts, fiel dann auf ihre Knie nieder, und dankte Gott dem Allmächtigen für ihre wunderbare Rettung. Kunigunde hatte sich zuerst gesammelt und erblickte die Jungfrau, wie sie betend auf den Knieen lag, das Bild an ihrer Seite. (Zimmermann, S. 68-70)


*****

Nicht lange war Käthchen allein und ungestört an ihrem Lieblingsplätzchen, da stellte sich ein Belauscher ein. Graf Friedrich suchte das liebe Käthchen auf, denn, als sie so schnell das Gemach verlassen hatte, konnte er nimmer recht ruhig bleiben. Er ging hinunter zu Gottschalk, und von diesem wurde er auf die Spur des Mädchens geleitet. Er fand sie auf weichem Moos liegend, mit rosigen Wangen und gefalteten Händen. Auf ihrem Angesicht lag die Ruhe und der Frieden einer Heiligen. Lange betrachtete der Graf die holdselige Gestalt mit Wohlgefallen. Sie soll im Schlaf sprechen, hat mir Gottschalk mitgetheilt, sagte er bei sich selbst, so will ich den Versuch machen, und mit ihr ein Gespräch anfangen, vielleicht, daß ich über Manches Aufschluß erhalte, was mir bisher ein Räthsel gewesen. (Schönhuth, S. 72)

Vorlagen:
* Karl Zimmermann: Historie vom Käthchen von Heilbronn und vom Ritter Wetter vom Strahl. Erfurt: Expedition der Thüringer Chronik 1841. Weitere Ausgaben 1850, 1852 (Digitalisierung durch Google).
* Das Käthchen von Heilbronn. Eine wunderbare und anmuthige Historie. Mit schönen Figuren geziert. Neu erzählt für Alt und Jung von Ottman F[riedrich] H[einrich] Schönhuth. Reutlingen, Druck und Verlag von Fleischhauer und Spohn 1854 (Digitalisierung durch Google).

*****

"Das Käthchen von Heilbronn"
in Erzählung und Roman, Volksbuch und Kolportageroman 

(Auswahl)

* Rheinlands Sagen, Geschichten und Legenden. Hrsg. von Alfred Reumont. Köln und Aachen: Ludwig Kohnen 1837 (Digitalisierung durch Google). Darin: Das Käthchen von Heilbronn, S. 362-378. Anmerkung: Wegen Dürftigkeit der historischen Nachweise ist dieser Erzählung das bekannte vortreffliche Schauspiel von Kleist zum Grunde gelegt. A. T. Beer. - 2., verm. u. verb. Aufl. 1844.
* Karl Zimmermann: Historie vom Käthchen von Heilbronn und vom Ritter Wetter vom Strahl. Erfurt : Expedition der Thüringer Chronik 1841. Weitere Ausgaben 1850, 1852 (Digitalisierung durch Google). Nachdruck der Ausgabe von 1841: Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 2009 (Käthchen-Bibliothek; 13).
* Das Käthchen von Heilbronn. Eine wunderbare und anmuthige Historie. Mit schönen Figuren geziert. Neu erzählt für Alt und Jung von Ottmar F[riedrich] H[einrich] Schönhuth. Reutlingen, Druck und Verlag von Fleischhauer und Spohn 1854 (Digitalisierung durch Google). Erstausgabe 1850. 6. Aufl. mit verändertem Titel: Reutlingen, bei Enßlin und Laiblin [ca.1880] (Reutlinger Volksbücher).
* Fr[iedrich] Norden: Des Waffenschmieds Töchterlein. Eine Erzählung aus Heilbronns Vorzeit. In: Vorzeit und Gegenwart. Historisch-romantische Schilderungen aus Schwaben und Franken. Bd. 1. Stuttgart: Eduard Fischhaber 1861 (Digitalisierung durch Google), S. 266-331. - Erneut publiziert (unter Verwendung des Satzes) in: Der Ölberg vor der St. Leonhards-Kirche und das Herr-segne-uns-Glöcklein auf der Stiftskirche zu Stuttgart. Nebst anderen interessanten Erzählungen aus der Geschichte von Schwaben und Franken. Stuttgart: Eduard Fischhaber 1863 (Digitalisierung durch Google), S. 266-331.
* Wilhelm Raible: Historie von dem treuen Käthchen von Heilbronn und dem Ritter Wetter von Strahl. Rosenheim: Huber 1862 (Rosenheimer Volksbücher; 11). Nachdruck Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 2009 (Käthchen-Bibliothek; 15).
* Stanislaus Graf Grabowski: Das Käthchen von Heilbronn. Roman. Berlin: Werner Grosse 1869 (Bd. 1 digitalisiert durch Google). Reprint Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 2008 (Käthchen-Bibliothek; 12). Lesung zum Kleist-Jahr 2011, initiiert vom Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn. Erste Lesung bei YouTube:
http://www.youtube.com/watch?v=hq7OjtR74RA
*Robert Frankenburg: Das Käthchen von Heilbronn. Romantische Erzählung. Dresden: Rich. Herm. Dietrich 1900. Nachdruck Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner, 5 Tle. 2007 (Käthchen-Bibliothek; 9).

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5. Kätchen von Heilbronn
Frisch Liedlein

Ein Ritter vor der Schmiede hielt
Zu Heilbronn in der Stadt:
"He Schmied! he Schmied! flink meinen Schild,
Mein Rösselein beschlag,
Mach blank den Speer
Und meine Wehr,
Dass ich mag fürder traben.

Der Ritter in die Stub' eintrat,
Nicht saß er lang allein;
Des Schmied's schön Töchterlein sich naht
Sie brachte kühlen Wein -
Was wirst Du roth,
Was wirst Du bleich,
Was wirst Du Ros' und Lilien gleich?

Das Mägdlein krank zusammenbrach,
Der Wein er floss zur Erden,
Dem Ritter sie zu Füßen lag,
Als wolle schier sie sterben.
Zu Ross stieg er
Das Herz gar schwer,
Wusst' nicht, wie ihm geschehen.

Das Mägdlein an der Zinne stand,
Hub kläglich an zu weinen:
"Gedenk an mich Du edler Knab,
Lass mich nicht lang alleine,
Kehr wieder bald
Dein lieb Gestalt
Lös't mich aus schweren Träumen!"

Der Ritter über die Brücke ritt,
Sein Rösslein warf er umme:
"Ich denke Dein, Schmiedstöchterlein,
Ich darf nicht wiederkommen,"
Viel Scherz, viel Schmerz
Brach ihr das Herz -
Sie stürzte von der Zinnen. *

* "Das angebliche Haus des Kätchens von Heilbronn, unweit des im halbdorischen Styl gebauten Schlachthauses, bewohnt jetzt noch ein Schmied von eben so viel Geschicklichkeit als Humor, der schon seiner kräftigen Gestalt nach, aus jener guten Zeit übrig geblieben seyn muss." ([Ernst Friedrich] Kaufmann: Die Neckarfahrt [von Heilbronn bis Heidelberg, geschildert mit Beziehung auf Geschichte und Sagen [Heilbronn: Drechsler 1843] S. 4) Übrigens kam Kätchen nicht so tragisch um's Leben, wie es nach dem vorstehenden Liede scheint, durch den Sturz hatte sie nur die Lenden gebrochen. [...]

Sagen des Neckarthals, der Bergstrasse u. des Odenwald's aus dem Munde des Volks & der Dichter gesammelt von J. [Friedrich] Baader. Mannheim: Friedr. Bassermann [1843] (Digitalisierung durch Google), S. 270f.

Vgl. Christhard Schrenk: Das Käthchen von Heilbronn. Einige Überlegungen zu Kleists Ritterschauspiel. Aus: Jahrbuch für schwäbisch-fränkische Geschichte. Historischer Verein Heilbronn. Heilbronn: Historischer Verein Heilbronn. 33. 1994. S. 5-43. Online:
http://www.kleist.org/kaet/ortsgeschichte/1994schrenk01.htm
Hier wird geprüft, ob das "Liedlein" "die Vorlage für Kleists Schauspiel gewesen sein könnte, oder ob es sich möglicherweise umgekehrt verhält." Ergebnis: Baaders Käthchengedicht sei "wohl kaum das Vorbild für Kleists Ritterschauspiel - sondern umgekehrt." 

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6. Der Kleist-Artikel
 in Meyers Großem Konversationslexikon

Der Große Meyer zieht in der sechste Auflage 1905–1909 die Summe des Wissens des 19. Jahrhunderts. Damit entspricht der Wissensstand dem Entstehungszeitraum eines großen Teils der hier herangezogenen Bild- und Textquellen. Doch ist zu beachten, dass der aktuelle Wissensstand sowohl in manchen Fakten wie besonders in Interpretationen und Wertungen abweicht.

Kleist, Heinrich von, hervorragender deutscher Dichter, geb. 18. Okt. 1777 in Frankfurt a. O., gest. 21. Nov. 1811 am Wannsee bei Potsdam, Sohn eines preußischen Offiziers, verlor bereits früh seine Eltern, den Vater 1788, die Mutter 1793; nach deren Tod übernahm eine Tante, Frau v. Massow, die Führung des Haushaltes; Kleists Herzen am nächsten stand seine Stiefschwester Ulrike (geb. 1774). Zuerst in seiner Vaterstadt durch Privatunterricht herangebildet, wurde K. 1788 in Berlin dem Prediger [Samuel Heinrich] Catel in Pension gegeben, bei dem er sich eine ausgezeichnete Kenntnis der französischen Sprache erwarb. 

Den Überlieferungen seiner Familie folgend, trat K. im Dezember 1792 in das Heer ein (1. Garderegiment), wurde zunächst Gefreiter-Korporal, war als solcher in den nächsten Jahren an den kriegerischen Operationen am Rhein beteiligt und schloß hier Freundschaft mit [Friedrich Heinrich Baron de la Motte] Fouqué, wurde 14. Mai 1795 zum Fähnrich befördert, kehrte nach Potsdam zurück und rückte hier 7. März 1797 zum Sekondeleutnant auf. 

Unbefriedigt von dem Dienst und von heißem Bildungstrieb erfüllt, nahm K., dessen Seele 1798 durch die erste Liebe, zu Fräulein Luise v. Lin[c]kersdorf, erschüttert worden war, 4. April 1799 seinen Abschied aus der Armee und begab sich in seine Vaterstadt, um sich an der dortigen Universität dem Studium der Mathematik, Philosophie und Kameralwissenschaften zu widmen. Den Freuden des Studentenlebens blieb er fern; in ungestümem Eifer die Gefahren der Überbürdung und Zersplitterung nicht erkennend, gewann er auch zur Wissenschaft kein freies und glückliches Verhältnis. Aber eine tiefe Wandlung erfuhr Kleists Seelenleben durch die Liebe zu Wilhelmine v. Zenge, der Tochter des im Februar 1799 als Chef des dortigen Infanterieregiments nach Frankfurt versetzten Obersten [August Wilhelm] v. Zenge, die des Jünglings Gefühle aufrichtig erwiderte und bewundernd zu ihm emporschaute, während er ihr gegenüber in oft fast befremdender Weise den belehrenden Hofmeister spielte. 

Nach drei in Frankfurt verbrachten Studiensemestern zog K. 14. Aug. 1800 nach Berlin, in der Hoffnung, in der Zoll- und Steuerverwaltung oder auch in der Königlichen Seehandlung eine Anstellung zu erhalten. Doch zunächst reiste er in Begleitung seines edlen Freundes [Ludwig von] Brockes nach Würzburg, wahrscheinlich, um in der dortigen Klinik von einem Leiden, das sein Gemüt verdüsterte, Heilung zu suchen (vgl. Morris, H. v. Kleists Reise nach Würzburg, Berl. 1899); auf der Hinreise ließ er sich in Leipzig unter falschem Namen immatrikulieren. Bald nach seiner Rückkehr, 28. Okt. 1800, scheint K. für einige Monate als Volontär im Handelsressort des Ministeriums beschäftigt worden zu sein; seine Stimmung war heiter, zumal ihn der Verkehr mit den Freunden Brockes, [August] Rühle v. Lilienstern, Ernst v. Pfuel und Graf Alexander zur Lippe beglückte.

Erst um das Jahr 1800 erwachte Kleists poetisches Talent; bereits in Würzburg beschäftigte ihn der Plan der »Familie Schroffenstein« und auch wohl schon der des »Robert Guiscard«. Mit Leidenschaft bohrte er sich in die Probleme des Lebens hinein; auf Reisen und dann in der Zurückgezogenheit eines weltfremden idyllischen Milieus wollte er seinen Geist bereichern und den tiefsten Grund seines Ichs entdecken. Ende April 1801 brach K. in Begleitung der geliebten Schwester Ulrike von Berlin auf, um sich nach kurzem Aufenthalt in Dresden, Leipzig, Halberstadt (wo er den alten Gleim besuchte), Kassel, Frankfurt und Straßburg nach Paris zu begeben, wo er kurz vor dem Nationalfeste des 14. Juli eintraf. Aber dem harten Ostelbier war das Treiben, das er hier beobachtete, zuwider, er faßte tiefe Abneigung gegen die Franzosen, und, einseitig nach innen lebend, blind für die große Kultur der Weltstadt, beschloß er, sich als einfacher Landmann in der Schweiz niederzulassen, um dort (Jahrzehnte vor Tolstoi!) das Rousseausche Naturideal zu verwirklichen. 

Im Dezember 1801 traf der Dichter in Basel ein; Ulrike kehrte heim. Aber K. fand nicht, was er suchte. Wohl bot ihm in Bern die Freundschaft mit Heinrich Zschokke, Ludwig Wieland, dem Sohne des »Oberon«-Dichters, und Heinrich Geßner, dem Sohne des Idyllendichters, anregende Stunden, wohl befand sich das Häuschen auf dem Delosea-Inseli (am Ausfluß der Aare aus dem Thuner See), das K. mietete, in entzückender Lage, wohl erfrischte ihn die naive Natur seiner Wirtstochter, die hier lange seinen einzigen Umgang bildete, aber der Bruch mit Wilhelmine v. Zenge, den K. selbst durch seinen Brief vom 20. Mai 1802 herbeiführte (sie lehnte es ab, ihm als Bauersfrau in die Schweiz zu folgen), und die unablässigen Aufregungen des in grüblerischem Ehrgeiz sich einsam zermarternden Dichters zerrütteten seine Gesundheit. Freunde brachten ihn im Sommer nach Bern in ärztliche Obhut; im Oktober eilte Ulrike herbei. 

Im November 1802 weilte K. in Jena und Weimar, wo er Goethe kennen lernte und glänzende Aufnahme bei Wieland fand, als dessen Gast er bis Ende Februar 1803 in Oßmannstedt blieb. Mehrere Monate verbrachte der Dichter in Leipzig, 13. Juni traf er in Dresden ein, wo er mit den alten Freunden Fouqué, Rühle und Pfuel zusammen lebte, aber lebensmüde und geistig bankrott erschien. Um ihm zu helfen, erbot sich Pfuel zum Reisebegleiter nach der Schweiz und Oberitalien; aber unbefriedigter Ehrgeiz verdüsterte auch hier das Gemüt des Kranken. »Wie von der Furie gepeitscht« eilte er mit dem Freund im Oktober 1803 nach Lyon und Paris, verbrannte hier in einem Wahnsinnsanfall das Manuskript des fast vollendeten »Guiscard«, begab sich, Pfuel entfliehend, ohne Paß nach Nordfrankreich, um sich für das französische Heer anwerben zu lassen, ward aber von einem Bekannten auf die Gefahr seiner Lage aufmerksam gemacht und bestimmt, von dem preußischen Gesandten in Paris einen Paß zu erbitten, den dieser aber direkt nach Potsdam ausstellte. Nach Deutschland zurückgekehrt, verblieb K. zunächst wegen eines schweren Nervenleidens fünf Monate in Mainz, im Frühjahr 1804 wurde er bei einem Pfarrer in der Nähe von Wiesbaden untergebracht, und nachdem er noch den Versuch gemacht hatte, sich als Tischler zu verdingen, traf er im Juli, leidlich genesen, wieder in Potsdam ein.

Kleists erstes Werk: »Die Familie Schroffenstein« (Bern 1803), hatte ursprünglich den Titel »Familie Ghonorez« und wurde erst nachträglich auf Ludwig Wielands Rat und zum Teil von diesem selbst in die jetzige Fassung gebracht (die ältere Form, hrsg. von E. Wolff, in Hendels »Bibliothek der Gesamtliteratur«, Nr. 1643); es ist in Einzelheiten genial und durchgreifend, vielfach aber noch unreif, unselbständig und fremdartig. Die von E. Wolff herausgegebenen »Zwei Jugendlustspiele« (Oldenb. u. Leipz. 1898) rühren nicht von K. her, sondern sind klägliche Machwerke Ludwig Wielands. Dagegen ist der durch ein Bild angeregte, in der Hauptsache 1803 geschriebene, aber erst 1811 veröffentlichte »Zerbrochene Krug« eines der bedeutendsten Lustspiele der deutschen Literatur; es ist durch Lebensfülle und -Wahrheit, köstlichen Humor, höchst eigenartige, nur selten etwas schleppende Führung der Handlung, ausgezeichnete Charakterzeichnung und treffliche Milieuschilderung in gleicher Weise bemerkenswert. Und nicht minder vollendet in seiner Art ist das vom »Robert Guiscard« gerettete Fragment (zuerst veröffentlicht im »Phöbus« 1808), das durch den meisterhaften Stil und durch die majestätische Größe des Helden an die ersten Muster tragischer Kunst gemahnt.

Um die Mitte des Jahres 1804 bewarb sich K. auf Anraten seiner Freunde wieder um eine Staatsanstellung; er wurde im Auswärtigen Amt beschäftigt und um die Jahreswende nach Königsberg versetzt, wo er sich mit größerer Freiheit der Seele als zuvor seiner poetischen Produktion widmen konnte, mit dem Dichter F[riedrich] A[ugust] v. Stägemann bekannt wurde und außer dem Freunde Pfuel auch seine einstige Braut Wilhelmine, die sich mit dem Philosophie-Professor [Wilhelm Traugott] Krug verheiratet hatte, wiedersah. Von der Königin Luise war ihm eine Jahrespension von 60 Louisdor ausgesetzt worden. Seine Gesundheit blieb schwankend; das Seebad in Pillau, das er 1806 besuchte, brachte ihm keine Erleichterung. Tief bewegte ihn die nationale Not; wie ihn schon Österreichs Mißgeschick bei Austerlitz erschüttert hatte, so vollends Preußens Zusammenbruch nach der Schlacht bei Jena; aber er ließ zunächst den Mut nicht sinken und bewunderte den Heldensinn der Königin Luise. 

Im Januar 1807 verließ K. Königsberg, um in Dresden die Drucklegung mehrerer seiner Werke zu überwachen; aber in Berlin wurde er mit zwei Bekannten von den französischen Behörden als angeblicher Spion verhaftet und nach dem Fort de Joux bei Pontarlier nahe der Schweizer Grenze gebracht, wo er 5. März 1807 eintraf und erst 13. Juli nach langen Remonstrationen befreit wurde. Ende August war K. in Dresden, wo er einer verhältnismäßig ruhigen und glücklichen Zeit entgegenging. Er traf hier wieder mit Rühle und Pfuel zusammen und wurde mit dem Naturphilosophen G[otthilf] H[einrich] v. Schubert und dem romantischen Publizisten Adam Müller genauer bekannt, oberflächlicher auch mit den Brüdern Schlegel, Varnhagen v. Ense, [Friedrich Christoph] Dahlmann und Ludwig Tieck. Zahlreiche Dichtungen veröffentlichte K. in der von ihm während des Jahres 1808 herausgegebenen Zeitschrift »Phöbus«, mit der er jedoch trotz namhafter Mitarbeiter (Goethe, auf den er gerechnet hatte, hielt sich unfreundlich zurück) keinen äußern Erfolg erzielte. Auch eine Buchhandlung, die er mit Rühle und Pfuel ins Leben rief, scheiterte. Neue Liebeshoffnung erfüllte Kleists Herz, als er in dem Hause Gottfried Körners dessen Pflegetochter Juliane Kunze kennen lernte, die zwar des Dichters Gefühl erwiderte, aber sich doch nach einiger Zeit verletzt von ihm abwandte. In heftige Erregung versetzten ihn die Ereignisse des politischen Lebens: hatte ihn bereits der Erfurter Kongreß (September und Oktober 1808) mit Bitterkeit erfüllt, so entfachte der Ausbruch des Krieges zwischen Frankreich und Österreich im Frühjahr 1809 seine nationale Leidenschaft zu heller Glut; am 29. April verließ er die Hauptstadt des mit Frankreich verbündeten neuen Königreiches Sachsen.

Die Jahre 1804–09 waren für K. an poetischen Erträgnissen überaus reich. Seine geistvolle Neubearbeitung des Molièreschen »Amphitryon« (Dresd. 1807) bietet eine Umdeutung der Fabel ins Christliche: Alkmene erscheint als eine zweite Jungfrau Maria und Juppiters Besuch wird aus einem leichtfertigen Abenteuer zur göttlichen Begnadigung (über das Verhältnis zu Molière vgl. Ruland, Kleists »Amphitryon«, Dissert., Rost. 1897). In dem Trauerspiel »Penthesilea« (Tübing. 1808), das des Grauenvollen und Furchtbaren fast zu viel bietet, schildert der Dichter in gewaltiger Darstellung den Übergang von Liebe zu Haß in der Brust der Amazone und die erschütternde Reaktion, die sie erfährt, nachdem sie ihr Liebstes getötet hat; zugleich spiegeln sich in dem Werke Kleists eigne Erfahrungen, die er bei der Entstehung seines Lieblingswerkes, »Robert Guiscard«, gemacht hatte. Die langsam vorrückende Handlung des Stückes ist durch große Anschaulichkeit einzelner Gemälde ausgezeichnet, die Charakterzeichnung der beiden Hauptpersonen ist tief, aber von fast abstoßendem Realismus, der Stil bildkräftig, aber auch nicht frei von Übertreibungen. Die Sympathien weiter Kreise erwarb sich K. durch sein Ritterschauspiel »Das Käthchen von Heilbronn« (Berl. 1810), dessen Konzeption mit Kleists Liebesbeziehungen zu Julie Kunze in innerer Beziehung steht. Unter Anlehnung an eine Ballade Bürgers ["Graf Walter"] und eine solche aus Percys »Relics of ancient English poetry« ["Child Waters"] sowie an Schuberts mystische Naturphilosophie, ersann K. eine Handlung von unvergleichlichem romantischen Liebreiz, die trotz des bedenklichen (wahrscheinlich erst nachträglich eingeführten) Schlusses alle Herzen gefangen nimmt; dabei ist dem Dichter die Milieuschilderung ebenso vortrefflich gelungen wie die Charakterzeichnung, und in der Hauptfigur schuf er eine Frauengestalt, deren poetische Weihe fast an Goethes Kunst gemahnt. 

Nicht minder groß zeigte sich K. in seinen Erzählungen, unter denen »Das Erdbeben von Chili«, »Die Marquise von O.«, »Die Verlobung in St. Domingo«, vor allem aber »Michael Kohlhaas«, die tragische Geschichte des beleidigten und verirrten Rechtsgefühls, hervorragen. K. fesselt in diesen Werken ebensosehr durch die Wahrheit und Tiefe der Seelenschilderung wie durch die erschütternden Schicksalswendungen; das erzählende Element kommt fast ausschließlich zur Geltung, Reflexionen und lyrische Ergüsse sind fern gehalten, nirgends treten ermüdende Beschreibungen hervor, und dennoch erzielt der Dichter eine fast greifbare Anschaulichkeit der Darstellung, die ihresgleichen sucht; auch der spröde periodenreiche und von Sonderlichkeiten nicht freie Stil ist ausdrucksvoll und bedeutend.

Nach dem Abschied von Dresden begab sich K. in Begleitung Dahlmanns nach Prag, vernahm mit Jubel die Nachricht von dem Siege bei Aspern, mit Schmerzen die von der Niederlage von Wagram, erbat, von Krankheit und Schulden bedrückt, den Beistand der Schwester Ulrike, erschien im November 1809 in der Heimatstadt, hielt sich im Dezember und Januar in unbekannter Absicht in Gotha und Frankfurt a. M. auf und ließ sich im Februar 1810 in Berlin nieder, wo er bis zu seinem frühen Lebensende verblieb. Hier trat er in die von Achim v. Arnim u. Adam Müller begründete Christlich-deutsche Tischgesellschaft, welche die besten und tüchtigsten Vaterlandsfreunde in sich vereinte und der opportunistischen Politik des Staatskanzlers Grafen von Hardenberg entgegenarbeitete. K. gab vom 1. Okt. 1810 ab die im Sinne dieses Kreises gehaltenen »Berliner Abendblätter« heraus, bis sie Ende März 1811 von der Regierung unterdrückt wurden; er widmete sich dieser Arbeit mit dem hingebenden Fleiß und der ganzen Energie seiner feurigen Natur. Das Scheitern des Unternehmens war für ihn ein schwerer Schlag. Aber schon vorher hatte ihn ein noch schwererer getroffen: der am 19. Juli 1810 erfolgte Tod seiner hohen Gönnerin, der Königin Luise. Damit verlor K. auch seine kleine Pension, und, aller Mittel beraubt, entschloß er sich schweren Herzens, bei dem König um Wiederanstellung im Militärdienst einzukommen, den er vor mehr als 11 Jahren verlassen hatte; aber K. war so arm, daß er nicht einmal die zu seiner Equipierung erforderlichen 20 Louisdor aufbringen konnte; überdies erschien ihm die naheliegende Möglichkeit, als preußischer Offizier unter Napoleons Oberherrschaft ins Feld ziehen zu müssen, unerträglich. 

Zu alledem kamen noch Herzenswirren, die nicht völlig aufgeklärt sind: es ist möglich, daß K. zu Maria v. K., der Gattin eines Vetters, in nähere Beziehungen getreten war, die sein Leben erschütterten; jedenfalls verknüpfte ihn ein sonderbares Liebesband mit Henriette Vogel, der leidenden Gattin des Rendanten Louis Vogel in Berlin, der gegenüber er vielleicht ritterliche Pflichten zu erfüllen hatte, die seinem Gefühl widersprachen. Nachdem er noch in Frankfurt eine höchst kränkende Familienszene erduldet hatte, in der ihn selbst Ulrike mit bittersten Vorwürfen überhäufte, erschoß er Henriette und sich 21. Nov. 1811 an den Ufern des Wannsees in der Nähe von Potsdam. Hier ist auch seine letzte Ruhestätte, die 1904 von dem Prinzen Friedrich Leopold, dem Besitzer des Grund und Bodens, der deutschen Nation zu eigen gegeben wurde. 

Erst zehn Jahre nach Kleists Tod erschienen in den von Tieck herausgegebenen »Hinterlassenen Schriften« (Berl. 1821), die Meisterwerke seiner letzten Jahre: »Prinz Friedrich von Homburg« und »Die Hermannsschlacht«, die im engern Kreise seiner Bekannten meist ebenso teilnahmlos aufgenommen worden waren wie die Mehrzahl seiner andern Werke von dem großen Publikum seiner Zeit. Den vielbehandelten Stoff der »Hermannsschlacht« (vgl. Riffert, Die Hermannsschlacht in der deutschen Literatur, Dissert., Leipz. 1887) belebte K. dadurch, daß er in ihm die modernsten Zeitverhältnisse spiegelte, unter den Römern die Franzosen, unter den zu Hermann und Marbod stehenden Germanen die Preußen und Österreicher verstand und zahlreiche Anspielungen auf die Rheinbundfürsten, den Tugendbund etc. anbrachte; vor allem aber tränkte er den Stoff mit seinem eignen Herzblut, er schrieb ein nationales Tendenzgedicht. Seine Helden sind durchaus keine blassen Idealgestalten, sein Hermann ein verschlagener Fanatiker, Thusnelda von weiblicher Schwäche und brutaler Grausamkeit nicht frei; auch sonst fehlt es nicht an barbarischer Härte, und der Stil des Werkes ist ungleich; aber die wohlgebaute Handlung ist wie im ganzen zündend, so im einzelnen von poetischer Kraft. Am vollkommensten verkündet sich Kleists Eigenart in dem »Prinzen von Homburg«, einem Werk, das den großen Gegensatz zwischen soldatischem Pflichtgefühl und der Neigung des Herzens meisterhaft verkörpert, in der Figur des Kurfürsten eine geschlossene Gestalt von Shakespearescher Größe aufstellt, den soldatischen Geist seiner Umgebung unübertrefflich schildert und in der Person des Prinzen die große Entwickelung von somnambuler Träumerei bis zur Todesbereitschaft und unbedingter Anerkennung der Staatsräson in packender Handlung und glänzendem Stil ergreifend vorführt.

Kleists Dichtung ragt durch Wahrheit und Größe über die aller seiner Zeitgenossen empor; aber sie hält sich nicht frei von dem Abschreckenden und Fürchterlichen, sie führt oft hinüber in das Gebiet dunkler und krankhafter Seelenregungen und ermangelt der Schönheit und Abtönung, auf die das an Goethes Dichtung herangebildete Geschlecht den größten Wert legte; erst eine spätere Zeit ist ihm gerecht geworden, wohl einsehend, daß die Nachwelt gut machen müsse, was die Mitwelt an dem von tragischen Lebenswirren zermarterten Dichter gesündigt hatte.

Meyers Großes Konversations-Lexikon. Sechste Auflage 1905–1909 (Digitale Bibliothek; 100) Berlin: Directmedia 2003, S. 103.016-103.030. Gekürzt.

Bilder
Heinrich von Kleist. Verso: Stengel & Co., G.m.b.H., Dresden. 49039 (Serie 75). Nicht gelaufen. - Zum Vergrößern klicken Sie bitte auf das Bild. - Text zu Heinrich von Kleist:

Dichter, geb. 18. Oktober 1777 zu Frankfurt a.O., gest. 21. Nov. 1811 am Wannsee bei Potsdam. Seine "Hermannsschlacht", in der er die Verhältnisse seiner Zeit schildert, ist ein nationales Tendenzgedicht vo poetischer Kraft.

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Heinrich v. Kleist. Stollwerck'sche Chocolade. Im Bild signiert: A KL. Verso: Gruppe 95, No. 2. Für Stollwerck's Sammel-Album No. 3. Gebr. Stollwerck empfehlen Cacao-Präparate. Maße 9,3 cm hoch, 4,8 cm breit. Das Bild zeigt Käthchen, wie sie das Bild aus den Flammen rettet. Über Heinrich von Kleist:

Heinrich von Kleist, einer unserer grössten patriotischen Dichter, war der Sohn eines Offiziers und wurde am 18. Oktober 1777 in Frankfurt a. d. Oder geboren. Er zeigte schon als Knabe eine fast krankhafte Reizbarkeit, die von unheilvollem Einfluss auf seine Zukunft werden sollte. Nach einem ruhelosen Jugendleben erhielt er 1805 eine Anstellung bei der Domänenkammer in Königsberg. Das furchtbare Missgeschick aber, das im nächsten Jahre über Preussen hereinbrach, zerriss ihm das Herz. In seinem Grimm über die Schmach des Vaterlandes schrieb er den leidenschaftlich wilden Kampfruf "Die Hermannsschlacht", und als sich Oesterreich 1809 gegen Napoleon erhob, da eilte er nach Prag, um dem heiligen Krieg mit dem Schwerte oder der Feder zu dienen. Den unglücklichen Ausgang dieses Kampfes aber konnte er nicht verwinden, und sein zerstörter Geist trieb ihn am 21. November 1811 am Ufer des Wan[n]sees in einen freiwilligen Tod.

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7. Literaturhinweise und Weblinks

Literatur
* Heinrich von Kleist: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe | ein großes historisches Ritterschauspiel. Hrsg. von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle (Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. I/6) Basel u.a.: Stroemfeld / Roter Stern 2004.
* Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Roland Reuß. 3 Bde. München: Hanser 2010. Hier Bd. 2, S. 501-628. Dazu Bd. 3: Materialien, S. 335-402 ("Phöbus"-Fragmente).
* Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2011. Die Schöne und das Biest. Das Käthchen von Heilbronn, S. 343-356.
* Eberhard Siebert: Kleist. Leben und Werk im Bild (insel taschenbuch; 371) Frankfurt a.M.: Insel 1980.
*Eberhard Siebert: Heinrich von Kleist. Eine Bildbiographie (Heilbronner Kleist-Biographien; 2) Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 2009.
* Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Hrsg. von Helmut Sembdner. Überarbeitete u. erweiterte Ausgabe (Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe; 8) München: Deutscher Taschenbuchverlag 1969. Insbesondere S. 198 ff., 261 ff.
* Doris Reimer: Passion & Kalkül. Der Verleger Georg Andreas Reimer (1776-1842). Berlin, New York: Walter de Gruyter 1999.
* Wolfgang Barthel: Kleists "Käthchen von Heilbronn". Ausgewählte Daten zur Wirkung. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 1981, S. 24-41.
* Das Käthchen von Heilbronn am Meininger Hoftheater. Ausstellung des Kleist-Archivs Sembdner der Stadt Heilbronn gemeinsam mit den Staatlichen Museen Meiningen. Hrsg. von Günther Emig. Heilbronn: Stadtbücherei, Kleist-Archiv Sembdner 1997 (Kleist auf dem Theater; 1).
 ). - Im Mittelpunkt steht die Aufführung von 1876, eine durchgestaltete, "auf den Originaltext zurückgehende Strichfassung" (S. 15). Zahlreiche Figurinen, Prospekte und Detailentwürfe; Szenenfotos aus der Zeit von 1876 bis 1911.
* Georg Garde: Theatergeschichte im Spiegel der Kindertheater. Eine Studie in populärer Graphik. Kopenhagen: Borgens Forlag 1971. Kap. X: Heinrich von Kleist.
* Günter Kosch / Manfred Nagl: Der Kolportageroman. Bibliographie 1850 bis 1960 (Repertorien zur deutschen Literaturgeschichte; 17)  Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1993. Hier Nr. 690-691.


Weblinks
http://de.wikisource.org/wiki/Das_Käthchen_von_Heilbronn
Edition in Wikisource
http://www.kleist.org/
Kleist-Archiv Sembdner, umfassendes Angebot
http://www.das-käthchen-von-heilbronn.de/
Reichhaltige Seite des Kleist-Archivs Sembdner in Heilbronn.
*http://www.stadtarchiv-heilbronn.de/stadtgeschichte/stichworte/k/kaethchen/
Informationen zu Heilbronn als Stadt des Käthchens
http://www.heilbronn-tourist.de/hn_content.asp?hmg=1xx11xx0xx0xx0&lang=01
Informationen für Touristen

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